Der Künstler

Oskar Herwartz 1987

Es war einmal ein sehr alter, sehr weiser Mann. Der kannte alles, was auf und unter der Erde war. Und nicht nur das,er kannte sogar alles, was sich im großen Weltall hinter den fernsten Sternen, und alles, was sich zwischen den kleinsten und winzigsten Atomen abspielte.

Dieser alte, weise Mann war durch sein Wissen sehr mächtig. Die Menschen hielten ihn für einen Zauberer und verehrten ihn, wie einen mächtigen König.

Auch ein großer Künstler war er: er konnte malen, schnitzen, modellieren, dichten und musizieren. Er hatte schon die mannigfaltigsten Kunstwerke gemacht. Alles war ihm gelungen. Alles wurde gut.

Eines Tages nun wollte er das schönste machen, was es gibt: Das Bild des Menschen. Des schönen und guten Menschen.

Darum fuhr er zu einem Steinbruch, in dem Marmor gebrochen wurde. Dort blieb er so lange bis die Arbeiter an eine Stelle gekommen waren, wo ganz seltener, rosenfarbener Marmor zu Tage trat. Da befahl er, ihm einen fehlerlosen Block, wie er ihn für seinen Plan brauchte, vorsichtig heraus zu brechen.

Doch seltsam, als die Arbeiter begannen, ihre Keile in das Gestein zu treiben, da fing es an zu schreien: "Ich will nicht, ich will nicht. Lasst mich hier wo ich bin." Da hielten die Arbeiter verwundert inne. Der Alte aber redete mit dem Stein und erklärte ihm seinen Plan. Der schwieg nun eine Weile. Doch als die Arbeiter ihn schließlich von seiner Unterlage, an der festgewachsen war, abtrennten, da schrie er wieder und fluchte dem Alten und seinem Plane.

"Ich will so bleiben, wie ich bin. Ich will bescheiden ein einfacher Stein sein und nicht das Bild eines Menschen, mag dieser auch noch so schön und gut sein."

Doch nun war es geschehen. Der schimpfende und brummende Steinblock wurde verladen und zu dem Schloss des Alten gebracht. Dort blieb er zunächst im Atelier stehen, weil der Alte immer noch an seinen Plänen sann und überlegte, wie er das Bild des guten und schönen Menschen machen wollte. Der Marmorblock schwieg. Er schien seine Bestimmung ganz vergessen zu haben, solange sich nichts änderte. Endlich aber begann der Alte mit seiner Arbeit.

Doch jedes Mal, wenn er den Meißel ansetzte und mit dem Hammer zuschlug, schrie der Block wieder: "Du quälst mich! Du bist ein Böser und willst etwas Gutes schaffen? Du bist ein Tyrann, der seine Freude an meinem Unglück, an meiner Qual hat."

Der Alte wurde ganz traurig, weil er dem Block nicht klar machen konnte, welch großes Werk er mit ihm vorhatte, dass er ihn schon jetzt liebhabe, wie ein Vater sein Kind, weil er doch einmal sein schönstes Werk sein sollte.

Da wurde der Block erst recht wütend. "Du lügst, schrie er, du weist gar nicht, wie Väter ihre Kinder lieben. Niemals würden sie ihnen solche Qual zufügen."

Immer noch einmal versuchte der Alte geduldig seinen Block zu überzeugen, dass er doch das überflüssige Gestein wegschlagen müsse, damit die ideale Form erscheinen könne. Auch Väter müssten manchmal ihre Söhne hart behandeln, damit etwas Gutes aus ihnen würde.

Wenn der Alte auch immer weiter an dem Werk, das er sich vorgenommen hatte, arbeitete, so verdross ihn doch die ständige Klage des Steines. Denn nichts war ihm widerwärtiger, als dass dieser Stein zu dem Bilde gezwungen werden musste. Gerade, weil es das Bild des guten und schönen Menschen werden sollte.

Darum fasste er eines Tages einen großen Beschluss. Er sprach zum Stein: "Ich will werden, wie du bist. Dann werde ich fühlen, wie du fühlst. Alle deine Schmerzen werde ich wie du ertragen. Und ich werde es freiwillig tun um des Werkes willen, das ich mir vorgenommen habe. Denn ich will dein "JA" hören zu meinem Werk."

Und so geschah es. Der weise, alte Künstler wurde selbst zu Marmor in dem Block, an dem er arbeitete. Überall im ganzen Block war er nun. Jeder Splitter, den er abschlug, tat ihm ebenso weh, wie dem Block. Aber er schrie nicht, wenn auch der Block nicht au??örte zu jammern und zu fluchen. Er freute sich über jeden Erfolg, über jede Stelle, an der die endgültige Form des schönen und guten Menschen erreicht wurde.

So blieb es bis heute. Der Marmor flucht dem Künstler bei jedem Schlag, den er erhält. Zugleich aber lobt er ihn auch, weil er seiner eigenen Vollkommenheit wieder ein wenig näher gekommen ist.

So wird es wohl weitergehen, bis das Werk beendet ist.


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