Die Schlange

Oskar Herwartz

Vor langer, langer Zeit lebte im Morgenlande ein reicher König. Er hatte die Herrschaft von seinem Vater übernommen, der in langen und schweren Kämpfen alle Feinde des Landes besiegt und alle Stämme seines Volkes unter seinem Zepter vereinigt hatte.

Der Sohn regierte anfangs sehr glücklich und weise. Schon bald konnten die Wunden der schrecklichen Kriege geheilt und das Volk zu einem beträchtlichen Wohlstand geführt werden. So kam es auch, dass die Karawanen vieler Handelsleute von Nah und Fern in die Hauptstadt des Königs kamen. Sie kauften und verkauften dort ihre Waren. Der König sorgte dafür, dass der Handel immer ohne Zank und Streit ablief, dass die Karawanen sicher untergebracht waren, dass Futter für die Kamele, Essen für die Menschen und Platz für die Waren da war. Auch die Straßen von der Hauptstadt bis an die Grenzen seines Reiches sicherte der König.

Dafür konnte er aber auch von den Kaufleuten einen Zoll erheben. Da der kluge König diesen nicht zu hoch machte, wurde er ohne Murren bezahlt. Auf diese Weise kam mit der Zeit viel Geld in das Land und in die Schatzkammern des Königs.


Reichtum, besonders wenn er ohne besondere Anstrengung angesammelt werden konnte, kann zu einer großen Gefahr werden. So war es auch hier. Je reicher der König wurde, desto prunkliebender wurde er auch. Er baute Gott einen großen Tempel, den er mit Gold und Silber, mit edlem Holz und kostbaren Steinen wunderbar ausschmückte. Daneben aber baute er sich selbst ein ebenso kostbares Schloss mit vielen Zimmern und prunkvollen Sälen. Die Herrscher vieler Länder kamen von weit her, um sich den Reichtum anzusehen.

In dem Schloss hatte der König auch einen Harem, in dem er Frauen aus allen Ländern sammelte. Weiße, schwarze, braune und gelbe hielt er dort zu seinem Vergnügen. Darunter waren auch manche, die fremde Götter und Götzen verehrten. Eine verehrte gar eine Schlange als ihre Göttin. Gerade sie war längere Zeit die Lieblingsfrau des Königs. Wenn sie ihn auch nicht zu ihrer Religion bekehren konnte, so ließ er ihr doch viele Freiheiten. Sie konnte Priester und Gurus ihrer Schlangengöttin in das Land bringen. Diese fanden besonders bei den jungen Leuten, die die schweren Zeiten ihres Volkes nicht mehr miterlebt hatten, aber auch bei manchen älteren gerne Gehör. Sie lehrten nämlich, dass der Mensch keinen Gott brauche, der ihm sagte, was Gut und Böse sei. Darüber könne vielmehr jeder Mensch mit deiner Vernunft selbst entscheiden.

Natürlich gab es noch immer viele Einsichtige, die wussten, dass derlei Lehren dem Volke und damit auch dem Staate schweren Schaden zufügen konnten. Doch der König weigerte sich, etwas gegen seine Lieblingsfrau zu unternehmen, wahrscheinlich, weil er selbst auch der Meinung war, dass sein Urteil das einzig richtige sei, gewissermaßen Gottes Wort. Das gestattete ihm, die Mahner nicht nur zu missachten, sondern sie sogar zu verfolgen.

Aber auch mit denen, die der Schlangengöttin folgten, gab es Schwierigkeiten. Sie wollten sich ihre Freiheit weder durch Gott, noch durch den König einschränken lassen. Sie weigerten sich Pflichten auf sich zu nehmen oder sich ihre Freiheit durch Rücksichtnahme auf Andere oder gar Schwächere einschränken zu lassen. Schließlich wurde es weitverbreiteter Brauch, dass der Stärkere, der angeblich nur seiner eigenen Vernunft folgte, Recht behielt. War es da ein Wunder, wenn weite Kreise nur mehr an die Vermehrung ihres Reichtums dachten und dabei jedes Mittel anwandten, was ihnen gerade zweckmäßig erschien. So nahmen Unterdrückung, Ausbeutung und sogar Brutalität immer mehr zu.

Darunter litten natürlich die kleinen Leute am meisten. Die Bauern, die Handwerker und am allermeisten die Frauen, denen die Schlangengöttin die Freiheit versprochen hatte. Sie und ihre Kinder wurden schnell ganz und gar von der Gnade der Männer abhängig. Die aber handelten allzu oft, wie es ihnen ihr Vorteil oder ihre Begierde anriet.

Von wem war in dieser Situation etwas zu erhoffen?

Vom König nicht, weil er immer starrsinniger an seinem eigenen, wie er meinte, einzig richtigen Urteil festhielt, und darum nie jemanden um seine Meinung fragte.

Von den "Intellektuellen" nicht, weil sie sich weigerten, irgendeinen Dienst für das Volk und den Staat zu übernehmen. Auch von denen nicht, die dem Glauben und der Sitte ihrer Väter treu geblieben waren, weil sie keine Hoffnung für eine Entwicklung in die Zukunft mehr sahen, und sich traurig und verärgert zurückzogen.

Aber ein alter Mann war da, der hatte die Hoffnung nicht verloren. Sein Name war Michael, das heißt so viel wie "Wer ist wie Gott?" Und was tat dieser Michael? Er erzählte den Leuten eine kleine Geschichte. Den Leuten? Den Bauern, den Handwerkern, den Frauen, ja sogar den Kindern.

Die Leute kannten die Geschichte eigentlich schon, aber Michael erzählte sie auf seine eigene, ganz neue Weise:


Vor langer, langer Zeit lebten unsere Vorfahren als ein einziges Ehepaar, Adam und Eva, in einem riesengroßen Garten, in dem alles wuchs, was der Mensch zum Leben braucht. Es war immer schön warm. Es gab keine Feinde für die beiden Menschen, denn vier Flüsse flossen um den Garten und schützten ihn so vor jedem Eindringling. Die beiden freuten sich ihres Lebens und genossen alle Früchte des Gartens, die immer reichlich geboten wurden. Nur einen Baum mieden sie. Ihr Schöpfer hatte sie gewarnt, von ihm zu essen, weil sie dadurch ihr eigenes Leben und auch den Besitz des Gartens verlieren würden.

Eines Tages begegnete die Frau der Schlange. Sogleich wollte diese, für ihre Religion werben und fragte ganz vorsichtig: "Ist es eigentlich wahr, dass ihr von keinem Baum des Gartens essen dürft?" Die Frau lachte und antwortete: "Natürlich dürfen wir von allen Bäumen essen. Nur von dem einen nicht, der dort in der Mitte steht!". Ja, das dachte ich mir", kicherte die Schlange, "und warum sollt ihr von dem Baum nicht essen?"

"Gott hat uns gewarnt, weil wir von seiner Frucht sterben werden." entgegnete die Frau. "Keineswegs werdet ihr sterben!" rief die Schlange, "Ihr werdet vielmehr sein wie Gott, der weiß, was gut und was böse ist. Aber ihr habt ja, euren Verstand! Wenn ihr von dem Baum esst, werdet ihr selbst entscheiden, was für euch gut ist und was nicht." Da meinte die Frau, das sei einen Versuch wert. Sie pflückte sich eine Frucht und aß sie zusammen mit ihrem Manne.

Die beiden Menschen wussten nun zwar noch immer nicht, was gut und was nicht gut war, aber sie bildeten sich von nun an ein, es zu wissen. Allerdings kamen sie sich zunächst einmal nackt vor, weil sie der Sicherheit in ihrer Welt nicht mehr trauten. Sie fühlten sich schutzlos und fürchteten sofort sterben zu müssen. Dadurch sanken sie in eine tiefe Hoffnungslosigkeit. Die Pflege des Gartens, bisher eine Freude, wurde zur Qual; Disteln und Dornen schienen ihnen übermächtige Feinde. Der sorglose Friede des Gartens war verloren.

In diesem Elend begegnete ihnen Gott und gab ihnen wieder Hoffnung. Zwar stellte er das Verlorene nicht wieder her, aber er sagte zur Frau, die sich bittere Vorwürfe machte wegen ihres Leichtsinns: "Du wirst der Schlange den Kopf zertreten!"


Wenn Michael dieses erzählt hatte, dann nickten die Leute und freuten sich. Sie merkten, dass er in seiner Geschichte ihre Situation in einem Gleichnis beschrieben hatte. Sie schöpften Hoffnung, dass die Schlangengöttin nicht siegen werde, und dass es die Frauen sein sollten, die sie einmal überwinden würden. Wenn erst das Gift der Schlange aus dem Volke getilgt sei, dann bestehe auch Hoffnung, dass alles wieder gut würde. Nicht so, dass es war wie vorher, sondern auf eine neue Art gut.

Michael hat seine Erzählung damals mit einigen anderen zusammen aufgeschrieben. Vielleicht sagte er sich, dass die Situation von damals auch später noch einmal wiederkommen würde, dass es wieder Menschen geben könnte, die meinten, sie hätten das Recht, allein nach ihrem Gutdünken zu leben und zu handeln.

Dann sollten die Menschen aus seiner Geschichte Mut schöpfen und die Schlangengöttin ihrer Zeit überwinden.

Das Reich des Königs konnte damals nur so lange bestehen, wie er selbst noch lebte. Als er gestorben war, zerfiel es in zwei Teile, die nie wieder den Frieden in Sicherheit genießen konnten.

Bis auf den heutigen Tag.


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