Die Geburt

Oskar Herwartz am 12.02.1999

"Ich verkünde Euch eine große Freude!"

Es war eine klare, kühle Nacht. Die Feuer waren heruntergebrannt. Die Herden schliefen in ihren Hürden eng aneinandergedrängt. Die Hunde lagen bei ihren Herren und träumten mit den Köpfen zwischen den Vorderläufen. Die Männer sprachen gedämpft, aber dennoch leidenschaftlich über das Thema dieser Zeit: Wann endlich kommt der Messias? Wann der König David oder der verheißene Spross aus seinem Stamme?

Wo immer Männer zusammenwaren, wurde darüber gesprochen. Der eine fabulierte von einer traumhaften Zukunft, weil er sich das Königtum Davids ebenso vorstellte. Der andere gab überhaupt nichts mehr für eine Zukunft des Volkes, weil er die Ungerechtigkeiten sah, die uns von unseren eigenen Leuten immerfort zugefügt wurden. Es gab auch solche, die einfach in den Tag hineinlebten, ohne sich Gedanken über eine Zukunft zu machen. Die meisten aber wollten kämpfen, wollten Feinde vertreiben, Widersacher vernichten, die Freiheit mit Gewalt erringen.

Plötzlich hob der "Alte" den Kopf und lauschte. Alle verstummten augenblicklich. Jeder tastete nach seinem Stab oder einer Waffe. Nichts war zu hören, nur die Hunde hatten ihre Lauscher gespitzt. Voller Spannung warteten sie auf ein Zeichen ihrer Herren.

Doch der Alte hob leicht die Hand. Da wusste jeder, der einzelne Wanderer konnte nicht gefährlich werden. Der kam nun mit schnellen, aber ruhigen Schritten über die leicht abschüssige Wiese zu uns herunter. Hinter ihm ging gerade in diesem Augenblick der noch fast volle Mond über den Bergen im Osten auf. Einer der Hirten hatte trockenes Stroh und Reisig in das Feuer geworfen, sodass es nun einen hellen Schein verbreitete. Als der Fremde in den Lichtkreis trat, grüßte er mit "Schalom" und zeigte auch durch seine Handhaltung, dass er Frieden bringen wollte.

"Schalom auch Dir, Fremder! Was führt Dich zu so später Stunde noch zu uns herauf?"

Der fragte, ob er bleiben könne. Natürlich konnte er. Die Männer rückten ein bisschen zusammen und machten ihm Platz am Feuer. Etwas unbeholfen kramte der Alte einen hölzernen Becher aus seinem Beutel, schenkte aus einem Ziegenschlauch Wein ein und reichte ihn dem Fremden.

"Sei gegrüßt in unserer Mitte!"

Der Fremde nahm einen guten Schluck und setzte sich zu uns ans Feuer.

"Ich bringe Euch gute Kunde, Männer! Heute ist in der Stadt Davids der geboren, der den Menschen Gottes Neue Welt zeigen wird. Alle Menschen, die in der Gnade Gottes leben, werden das erkennen."

Wir waren alle starr vor Staunen. Auch ich, obwohl ich der Jüngste war und eigentlich noch ein Kind, wusste, welche Bedeutung Gottes Neue Welt für uns hatte, wenn auch meine Vorstellungen noch sehr unklar waren.

Heute sollte der Verkünder dieser Neuen Welt geboren sein? Der Alte fragte denn auch:

"Wie können wir das glauben, Fremder?"

"Ein neugeborenes Kind ist Zeichen dafür, dass Gott den Bund mit seinem Volk nicht aufgegeben hat, sondern weiterführen will. Darum geht nach Bethlehem! Dort werdet Ihr das Kind finden. Es liegt in Windeln in einer Futterkrippe. Seine Eltern konnten in der Herberge keinen Platz finden, weil sie arm sind und fremd hier. Geht nach Bethlehem! Ihr werdet das Reich Gottes dort entdecken. Klein ist es noch und, unscheinbar, aber wirklich. Es wird wachsen, wie das Kind."

Er schwieg. Auch von uns sagte zuerst niemand ein Wort. Dann stand der Alte auf.

"Ich werde jetzt nach Bethlehem gehen und sehen, was an deinem Wort Wahrheit und Wirklichkeit ist."

Sofort sprang ich auf und fasste seine Hand. Ich wollte mit. Noch zwei Männer begleiteten uns. Die andern mussten bei den Schafen bleiben.

Wir fanden das Kind. Wir standen alle da und sahen es an. Lange. schweigend. Dann flüsterte der Alte:

"Der Fremde muss ein Bote Gottes gewesen sein. Ich habe durch ihn hier das Gottesreich kennengelernt. Kindlich klein ist es noch und schwach, aber Wirklichkeit."

Er kniete nieder und berührte mit seinem großen, dunklen Finger vorsichtig das winzige Händchen des Kindes, das sich langsam öffnete.

Als wir zurückkamen zu unseren Schafen, hing der Mond schon tief über den westlichen Bergen. Im Osten rötete sich der Himmel. Der Fremde war nicht mehr zu sehen. In uns aber jubelte eine Hoffnung, wie wenn der Himmel hell und voller Engel wäre. Ich habe das nicht vergessen.

Als ich Jesus ungefähr dreißig Jahre später von Gottes Neuer Welt reden hörte, da erinnerte ich mich des Fremden in der Nacht. Damals oberhalb von Bethlehem.

Heute, nachdem wir den Gekreuzigten als Lebenden erfahren haben, weiß ich, dass er schon damals bei uns war und uns die Augen öffnete.


Seht, ich bringe euch große Freunde


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