Eine andere Welt

Die Leute nennen mich hier Alessandro und "technischer Berater". Aber der reiche Hidalgo scheint mich nur deswegen angestellt zu haben, weil es als vornehm gilt, einen Mann aus Deutschland zu beschäftigen.

Meine Arbeit hatte ich mir jedenfalls ganz anders vorgestellt. In Wirklichkeit bin ich so eine Art "Mädchen für alles".

Vorige Woche war ich Kraftfahrer und Reiseleiter in einer Person. Ich sollte die beiden Kinder meines Patrons, Ines und Fernando, mit ihrer Kinderfrau Nia zu einer weit entfernten Hazienda fahren. Ines ist acht, Fernando zehn Jahre alt.

Anfangs war der Weg gar nicht so schlecht, und es wäre eine herrliche Fahrt geworden, wenn die Kinder nicht so fürchterlich gequengelt hätten. Das ging in einem fort:

"Nia, ich will etwas trinken!"

"Aber Fernando, ich kann doch jetzt nicht an die Reisetasche."

"Nia, ich habe Hunger!"

"Ja, Ines, hier hast du einen Keks."

"Nia, ich will meine Puppe haben!"

"Ich will sie aber haben!"

"Nia, ich habe Durst."

"Gut ich mache dir eine Orange zurecht."

"Nein, das will ich selber machen!"

"Du wirst Dich mit dem Messer verletzen."

"Ich will aber!"

Ich will! Ich will! Ich will! ..... So ging das immer weiter. Mal war es dieses, mal war es jenes. Nia tat mir leid. Mir konnte das ja gleichgültig sein. Aber es hätte nicht viel gefehlt, so wäre mir die Geduld gerissen.

Doch nun wurde der Weg erbärmlich schlecht. Die Regengüsse der letzten Zeit hatte tiefe Spuren hinterlassen. Manchmal wusste ich nicht, wo Straße war, wo Landschaft.

Kein Wunder, Plötzlich gab es einen Knall und ein Reifen war platt. Nach dem Radwechsel bin ich ganz vorsichtig weiter gefahren bis zu einer Indiohütte. Dort wollte ich den Reifen flicken, damit ich wieder ein Reserverad hätte.

Nia nahm die Pause sofort wahr, breitete über den wackligen Tisch vor der Hütte ein Tischtuch, holte Becher und Teller aus dem Gepäck und deckte den Tisch aus dem mitgebrachten Reiseproviant. Ich machte mich an meine Arbeit.

Verhungerte Indiokinder kamen aus der Hütte und bestaunten das Tischtuch, das Geschirr und die Herrlichkeiten, die Nia auf den Tisch legte.

Stumm standen sie da mit weit offenen Augen. Nur das Kleinste auf dem Rücken der Mutter schrie erbärmlich. Das ging Ines auf die Nerven. Darum fragte sie:

"Warum weint das Kind denn so?"

Die Mutter antwortete: "Weil es Hunger hat. Es möchte Milch."

"Ja, dann geben Sie ihm doch welche!" rief Ines

"Ich habe nichts. Ich kann ihm nichts geben."

In diesem Augenblick bracht Nia eine Thermosflasche mit warmer Milch für unsere Kinder und wollte die Becher füllen. Doch Ines rief: "Ich will nicht trinken!" Und Fernando: "Ich auch nicht."

"Gib ihm unsere Milch!" rief Ines und wandte kein Auge von dem schreienden Kind.

"Schwatz' doch keinen Unsinn, sonst wird die Milch kalt!"

"Ich will nichts trinken, bevor du ihm gegeben hast!" "und ich trinke auch nichts!" wiederholte Fernando.

"Ihr seid dumm, redet dummes Zeug." Nia war ehrlich aufgebracht. "Man kann doch nicht alle Menschen gleich machen! Gott gibt eben dem einen mehr und dem anderen weniger. Euch hat er viel gegeben."

"Warum hat er ihnen nichts gegeben?" fragten nun beide, wie aus einem Munde.

"Das geht uns nichts an! Wie Gott will." sagte Nia. Aber sie goss etwas Milch in einen Becher und gab dem Kind. Das trank und beruhigte sich.

Doch die Kinder beruhigten sich nicht.

"Wie Gott will?" wiederholten sie. "Warum will er so? Dann ist er böser Gott, ein hässlicher Gott! Ich könnte nie mehr zu ihm beten!"

"Oh, was sagt Ihr denn da? Das werde ich Mama sagen!"

"Das kannst Du ruhig sagen. Es darf nicht sein!"

"Was darf nicht sein?"

"dass die einen viel zu essen haben und manche gar nichts."

"Gott hat das vielleicht absichtlich gemacht? fragte Fernando vorsichtig

"Dann ist Gott schlecht, schlecht, schlecht!" Ines war wütend. Ihr ganzer Leib zitterte vor Zorn. "Ich will nichts mehr von ihm wissen! Ich liebe ihn nicht!"

Wir anderen standen da und wussten nicht recht, was wir tun sollten. Ines hatte ja Recht. Doch bevor noch einer von uns etwas sagen konnte, hörten wir aus dem Dunkel der Hütte eine heisere, von Husten unterbrochene Stimme:

"Kinder! Kinder, Ihr seid liebe Kinder, aber Ihr redet Unsinn!" Ein Hustenanfall unterbrach den Sprecher. Wir alle blickten auf die Tür, in der jetzt ein alter Indio erschien. Er hatte einen grauen Kopf und viele Falten im Gesicht.

"Gott ist nicht böse, Kinder. Gott ist gut. Er hat alle Menschen lieb. Es ist nicht sein Wille, dass die einen im Überfluss leben, die anderen aber nicht einmal trockenes Brot kauen können. Die Menschen haben das so eingerichtet." Der Alte hustete wieder.

"Die Menschen haben Gott vergessen. Würden sie nach seinem Willen leben, dann hätte jeder so viel, wie er nötig hat."

Die Kinder hatten den Alten mit großen Augen angesehen. Fernando fasste sich zuerst: "Was soll man tun, damit alle Menschen das Nötige haben?"

"Was man tun soll? Gottes Wille soll geschehen! Er will, dass Du alles in zwei Teile teilst."

Fernando wiederholte: Ich soll alles in zwei Teile teilen?" Dann fuhr er langsam fort: "Das werde ich tun, wenn ich groß bin, damit Gottes Wille geschieht."

"Das werde ich auch machen!" rief Ines begeistert.

"Ich habe es zuerst gesagt! sagte Fernando. "Ich werde es so machen, dass es keine Armen mehr gibt."

Jetzt mischte sich Nia ein: "So nun habt Ihr genug geschwatzt. Trinkt lieber Eure Milch aus!"

"Nein, nein, nein!" riefen beide einstimmig. "Wir haben heute schon einmal gegessen, jetzt soll diese Indio-Familie ihren Teil haben!"

Ihr seid brave Kinder." meldete sich der Alte wieder. "Gott helfe Euch! Ich werde das leider nicht mehr erleben. Aber ich werde mich dort oben darüber freuen. Seht nur zu, dass Ihr es nicht wieder vergesst."

"Nein, nein das vergessen wir nicht!"

"Recht so, dann ist das ja abgemacht."

Der Alte verschwand wieder in der Dunkelheit seiner Hütte. Wir hörten ihn noch hin und wieder husten. Nia teilte, auf Verlangen der Kinder, unseren Reiseproviant an die Familie aus, deren Augen natürlich glänzten.

Ich aber machte, dass ich fertig wurde mit meinem Reifen. Das war bald soweit und wir brachen auf. Der Rest der Fahrt verlief ohne Zwischenfall. Die Kinder waren still und nachdenklich. Keiner quengelte mehr.

Was aber weiter sein wird? Vielleicht werden wir es eines Tages erleben.

Es geschieht nicht oft, dass die Kinder der reichen Familien so unvermittelt mit der Not zusammentreffen.


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