Oskar Herwartz: Ein Gespräch mit Lukas




Inhaltsverzeichnis



Oskar Herwartz 27.3.1997

Ein Frage- und Antwortspiel mit einem Evangelisten
Es spielen mit:
Der Seminarleiter
Die Teilnehmer des Seminares:
Angelika, Marita, Gudrun, Claude, Anja, Stephanie, Susanne, Friederike, Christiane, Maria, Christina, Lara und Alena Christian, Wolfgang, Thomas, Matthias, Martin, Michael, Alexander, Daniel, Dominik, Christoph, Sebastian, Lukas, Jonas, Tobias, Marius und Andreas
Ein Gast

Zunächst ging alles, wie es immer geht, wenn die Teilnehmer eintreffen. Koffer werden hereingetragen, Zimmerschlüssel gefragt, Personalien eingeschrieben, Teilnehmergebühr entrichtet, Zimmer bezogen.
Auf meinem Zimmer liegt ein NEUES TESTAMENT. Ich nehme es in die Hand. "Aha, die Einheitsübersetzung!" Ein Lesezeichen liegt beim Lukasevangelium. "Wird mein Vorgänger drin gelassen haben." denke ich und schlage auf. Schon bin ich vom Text eingefangen: "Zur Zeit des Herodes......" Eine Welt zieht mich in ihren Bann: Engel treten auf, Menschen glauben, andere zweifeln.... "Ja, da fehlt doch die Geschichte mit dem Stern! Ist das denn wohl die richtige Bibel?"
O, es ist Zeit für das Abendessen. Also schnell Hände waschen, Haare kämmen, Kleidung zurechtzupfen. Beim Abendbrot sagt der Seminarleiter ein paar Worte zur Begrüßung und bittet uns dann um 20.00 Uhr in unseren Arbeitsraum. Bis dahin könnten wir uns die Beine noch einmal vertreten und mit frischer Luft durchatmen.
Schon vor der Zeit sammeln sich die Teilnehmer. Viele kennen sich von früheren Gelegenheiten. "Guten Tag!" "Wie geht's?" "Hatten Sie eine gute Reise?" "Ja, danke. Wir sind gut hergekommen." Es sind Ehepaare, einzelne Damen und Herren, nicht ganz jung, aber auch nicht alt.

Der Seminarleiter ist fast pünktlich. Er begrüßt uns nochmals. Hofft, dass wir mit der Unterbringung zufrieden seien. Prüft, ob alle da sind, die sich gemeldet hatten. Ja, sie sind. Dann ändert sich sein Tonfall: "Ich darf Ihnen jetzt als unseren Gast Herrn Lukas vorstellen." Erstauntes Raunen quittiert diese Mitteilung. "Ja, Sie haben recht gehört: LUKAS! Unser Gast hat sich bereitgefunden, uns Fragen zu beantworten, die sich auf das dritte Evangelium beziehen. Ich habe Ihnen Bibeln auf Ihre Zimmer gebracht und schon Lesezeichen hineingelegt."

"Die in meinem Zimmer, ich meine die Bibel, stimmt aber nicht! Da fehlt die Geschichte mit dem Stern und den drei Königen, und auch von Ochs und Esel steht da nichts darin! Ich habe vorhin gleich an der Stelle gelesen, wo Sie das Lesezeichen eingelegt hatten."
Na, da hatte ich ganz schön danebengeschossen. Herr Lukas schmunzelte: "Es gibt ja nicht nur ein Evangelium. Und sie sind nicht alle gleich." Dem Leiter waren meine Bemerkungen sichtlich peinlich. Vielleicht hatte er dem Herrn Lukas gesagt, was wir für tolle Bibelexperten wären. Und nun dies! Aber Lukas nahm das nicht tragisch:

"Darüber können wir sicher morgen noch sprechen. Ich möchte keinen Vortrag halten, sondern mich von Ihren Fragen leiten lassen. So möchte ich vermeiden, an Ihnen vorbeizureden. Vielleicht machen Sie sich die Mühe und lesen das dritte Evangelium noch heute Abend durch. Dabei können Sie dann alles anstreichen, was Ihnen fragenswert erscheint. Wenn Sie gut mitmachen, kann es morgen für uns ein interessanter Tag werden."

1

Am nächsten Morgen versammelten wir uns schon rechtzeitig im Arbeitsraum. Der Leiter kam mit unserem Gast und eröffnete die Seminararbeit: "So meine Damen und Herren, zunächst einmal: Guten Morgen! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen! Vielleicht hat der eine oder andere, hoffentlich sogar die Mehrzahl, im Lukasevangelium gelesen." Manche nickten. "Dabei sind dann sicher Fragen aufgekommen, die unser Gast beantworten will, so gut er kann."

Tatsächlich meldeten sich mehrere. Sie kamen nacheinander zu Wort. Es gab ein lebhaftes Frage- und Antwortspiel, in das sich nach und nach alle eifrig einmischten. Dabei spürte ich deutlich den Respekt vor dem Namen, den unser Gast führte. Der hatte sich offenbar vorgenommen, die Fragen jedes einzelnen Teilnehmers ernst zu nehmen und entsprechend zu beantworten. Ich habe die Fragen und Antworten mitgeschrieben, und gebe sie hier, fast ohne verbindende Zwischentexte wieder.

Die erste Frage kam von

Christian:
Warum haben Sie Ihr Buch eigentlich "Evangelium" genannt?
Lukas:
Das habe ich gar nicht getan. Das war schon mein Freund Markus. Der hat sein Büchlein "Evangelium von Jesus Christus" genannt, was so viel wie "Gute Botschaft von Jesus Christus" ist. Ja, und für mein Büchlein, wie auch für andere, wurde diese Bezeichnung von der Mitte des zweiten Jahrhunderts allgemein.
Martin:
Haben Sie denn das Markusevangelium gekannt?
Lukas:
Natürlich. Ich habe mir sogar erlaubt, es zum Teil in mein Buch einzuarbeiten.
Anja:
Aber Ihr Buch enthält noch andere Passagen, die man bei Markus nicht findet?
Lukas:
Ich habe ja in meiner Einleitung geschrieben, dass ich vielerlei Quellen vorgefunden habe. Die konnte ich allerdings nicht alle verwerten, weil sie teilweise weder zu meinem Konzept noch zur Person Jesu passten. Ich habe mich bei der Beurteilung und Auswahl natürlich auf die Beratung noch lebender Zeugen gestützt.
Christina:
Aha, also von Markus haben Sie Stoff übernommen. Welche Quellen hatten Sie denn noch? Kannten Sie auch Matthäus?
Lukas:
Der Reihe nach, bitte! Ja, Matthäus kannte ich auch. Er hat mir seinen Entwurf gezeigt. Spuren von ihm dürfte ein sehr aufmerksamer Leser bei mir sicher finden.
Wolfgang:
Markus und Matthäus waren also nicht Ihre einzigen Quellen?
Lukas:
Keineswegs. Matthäus und ich, wir beide hatten auch noch eine gemeinsame Quelle. Das war eine Sammlung von Aussprüchen und Gleichnissen Jesu. Sie ist für uns beide wichtig geworden. Leider ist sie selbst verloren gegangen, doch kann man sie ganz gut rekonstruieren, wenn man die drei Evangelien, die auch "Synoptiker" genannt werden, miteinander vergleicht.
Martin:
Da muss aber doch noch was sein! Gestern bin ich nicht mehr allzu weit gekommen mit meinem Bibelstudium, aber an den Querverweisen habe ich gemerkt, dass Sie wie auch Matthäus noch weitere Stoffe haben, die Markus nicht hat, die aber auch jeweils nur bei einem von Ihnen vorkommen. Ich meine die Weihnachtserzählungen. Vielleicht gibt es noch andere.
Lukas:
Ja, die ziemlich langen Erzählungen der Verkündigung der Geburten von Johannes und Jesus, die Umstände dieser Geburten. Dann für Jesus noch die Darstellung im Tempel und die Geschichte des Zwölfjährigen in Jerusalem. Und Sie meinen demgegenüber die Matthäuserzählungen vom Misstrauen Josefs seiner Frau Maria gegenüber, von den Weisen aus dem Orient, dem Kindermord und von der Flucht nach Ägypten.
Martin:
Ja, das meine ich, aber da muss noch mehr sein. Oder?
Lukas:
Mein sogenanntes Sondergut beschränkt sich nicht auf diese "Weihnachtgeschichten", wie sie jetzt genannt werden. Es ist noch an vielen anderen Stellen meines Textes zu binden. Diese Stoffe habe ich in Jerusalem und Judäa durch Befragung sehr vieler Einzelzeugen zusammengetragen. Zu diesen Zeugen gehört vor allem auch Maria, die Mutter Jesu. Ich habe mir auch die Örtlichkeiten dort genau zeigen lassen. Leider bin ich nicht in Galiläa gewesen. Darum werden die Kritiker Recht haben, die mir Ungenauigkeiten in lokalen Darstellungen vorhalten.
Christina:
Da waren Sie ja also fleißiger als die anderen?
Lukas:
Na, ich weiß nicht. Mit meinem Sondergut habe ich nicht nur mehr Stoff bringen wollen, sondern ich wollte das Konzept meines Evangeliums deutlicher herausarbeiten.
Stephanie:
Ein Konzept? Ich dachte, Sie hätten einfach aufgeschrieben, was - nach den Zeugen - geschehen ist. Wie war denn das Konzept?
Lukas:
Nun, wie ich schon sagte, gab es einige Leute, die Ereignisse und Aussprüche sammelten. Manches wurde auch durch die Liturgie überliefert.
Christoph:
Wieso?
Lukas:
Z.B. "Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes". Das ist eine liturgische Formel, zugleich aber auch ein Bekenntnis zum "Dreifaltigen Gott", wenn es auch diesen Ausdruck damals noch nicht gab. Die Taufformel finden Sie in meinem Buch wieder. So ähnlich auch der Bericht vom letzten Abendmahl. Er wurde in mehreren Versionen in den Eucharistiefeiern gebraucht. Ich habe eine ausgewählt.
Martin:
Aha, ausgewählt, damit sie in Ihr Konzept passte?
Lukas:
Richtig!
Stephanie:
Dann wiederhole ich meine Frage: Wie war das Konzept?
Lukas:
Ich wollte meinem Freund Theophilus meinen Glauben darstellen und bezeugen, dass Jesus der "Herr" ist, dass er ein richtiger Mensch ist, so wie er und ich und wir alle, dass er aber zugleich von Anfang an "Gottes Sohn" ist, dass mit ihm etwas ganz Neues begonnen hat.
Dominik:
Nur wegen Theophilus haben Sie das Evangelium geschrieben?
Lukas:
Außer Theophilus hatte ich auch heidenchristliche Gemeinden im Blick, die ich durch mein Zeugnis in ihrem Glauben bestärken wollte.
Marita:
Und dazu haben Sie erst mal Material gesammelt und dann haben Sie sich hingesetzt, nach Ihrem Konzept ausgewählt und schließlich zusammen geschrieben?
Lukas:
Stark verkürzt könnte man das so sehen.
Marita:
Dann beschreiben Sie es doch etwas ausführlicher!
Lukas:
Wie Sie vielleicht wissen, gehörte ich zu den ständigen Begleitern des Apostels Paulus auf seinen späteren Reisen. Von diesen Reisen habe ich mir tagebuchartige Aufzeichnungen gemacht. Paulus und seine Begleiter vermittelten mir auch eine Menge über Jesus, der von ihm ja überall gepredigt wurde, und dessen Gedächtnis wir immer wieder feierten. Manches wusste ich nach und nach auswendig. Dabei lernte ich Jesus von "Innen" her kennen als den Freund der Armen und der Sünder, sogar der Heiden, zu denen ich auch einmal gehört hatte. Ich lernte ihn kennen als den Herrn, der nach seinem schändlichen Tod am Kreuz aus dem Grabe auferweckt war und nun als Richter und Befreier der Welt beim Vater lebt.
Wolfgang:
Dann stimmt es also, was ich schon mal gehört habe, dass Ihr Evangelium gewissermaßen nach der Predigt von Paulus zusammengestellt sei?
Lukas:
Das möchte ich nicht einfach verneinen, aber lassen Sie mich bitte noch ein bisschen weitererzählen: Zunächst galt mein Interesse nur dem Reisebericht. Bald jedoch ergänzte ich ihn durch Berichte über Vorgänge, die ich von anderen erfuhr. Als wir nach Jerusalem kamen, ließ ich mir die Gelegenheit nicht entgehen, sowohl nach den Anfängen und der Geschichte der dortigen Gemeinde zu forschen, als auch Nachrichten über Jesus zu sammeln. Aber zum Sichten, Bewerten und Auswählen blieb nicht die Zeit und Ruhe. Zumal sich noch nicht das entwickelt hatte, was ich vorhin Konzept nannte. Ich sammelte aus Liebhaberei.
Christoph:
Und eines Tages fingen Sie dann an, das Evangelium zu schreiben?
Lukas:
Nicht so schnell. Ich hatte nun eine große Menge Aufzeichnungen. Mit meinem Tagebuch war ich bis nach Caesarea gekommen, von wo Paulus als Gefangener nach Rom eingeschifft wurde. Ich fuhr mit ihm. Meine Sammlung ließ ich glücklicherweise bei Theophilus, ehe wir in See gingen.
Sebastian:
Warum "glücklicherweise"?
Lukas:
Wie Sie vielleicht wissen, kamen wir bei Malta in einen Sturm, in dem wir das Schiff verloren und nur das nackte Leben retten konnten. Meine Aufzeichnungen aber waren bei Theophilus in Sicherheit. Drei Monate später konnten wir dann auf einem anderen Schiff weiterfahren und kamen schließlich wohlbehalten nach Rom. Dort schrieb ich die Erlebnisse unserer Seereise aus der Erinnerung nieder.
Thomas:
Dann schrieben Sie in Rom das Evangelium? Das habe ich schon mal irgendwo gelesen.
Lukas:
Nein, dazu kam ich noch nicht. Denn ich arbeitete so gut ich konnte, in der jungen römischen Gemeinde. Durch das Zusammenleben und die Erfahrungen mit den Christen der Hauptstadt verlagerte sich nach und nach mein Interesse auf den Stoff des Evangeliums und es entwickelten sich meine Vorstellungen für das Konzept.
Angelika:
Also erst noch eine praktische Zeit in der Seelsorge!
Lukas:
Die kann ich nur jedem gönnen, der sich auf Jesus näher einlassen will. Bei mir dauerte sie nicht sehr lange. Ich wollte nun gern an die Abfassung meines Buches gehen und mein Freund Paulus ermunterte mich auch dazu. Seine eigenen Pläne und er selbst wurden Opfer der römischen Justiz und der unberechenbaren Grausamkeit Neros. Ich ging nach Griechenland.
Susanne:
Und dort trafen Sie Theophilus?
Lukas:
Stimmt! Theophilus brachte mir meine Unterlagen, und ich konnte mich an die Arbeit machen. Es dauerte natürlich einige Zeit, bis ich Jesus, den ich durch die Wanderungen mit Paulus, durch die Gespräche mit den Zeugen seines Lebens und durch das Zusammenleben mit den Christen in verschiedenen Gemeinden erfahren hatte, so darstellen konnte, wie ihn mein geistiges Auge sah.
Christiane:
"Es entwickelten sich meine Vorstellungen für das Konzept." Das hört sich an, als wenn Sie einen Roman hätten schreiben wollen. War das so?
Lukas:
Nein, so war das nicht! Ich bin übrigens schon froh, dass Sie nicht statt "Roman" "Heilige Schrift" gesagt haben. Die wollte ich ganz gewiss nicht schreiben.
Christiane:
Wie aber war das nun mit dem Konzept? Wie entwickelte sich das Konzept?
Lukas:
Ich beschäftigte mich fast ununterbrochen mit der Person Jesu. Er und seine Botschaft beherrschten mein Denken und mein Reden vollständig. So, wie ich ihn selbst in den Erzählungen und im Leben der Zeugen und auch in der Gemeinde erfuhr und erlebte, so wollte ich ihn dargestellt sehen. Sie werden mich verstehen, wenn ich sage, es sei der Heilige Geist gewesen, der das bewirkt hat.
Marita:
So könnte ich mir Inspiration vorstellen. Aber wie wirkt sich das im Einzelnen auf Ihren Text aus?
Lukas:
Im Einzelnen! Darauf kommen wir vielleicht noch. Zunächst mal werden Sie verstehen, dass ich Jesus nicht als Kind, nicht als Rabbi, auch nicht als den leidenden Gottesknecht erfahren habe, sondern als Auferstandenen.
Anja:
Und aus dieser Sicht haben Sie dann alles andere berichtet? Das ist aber historisch sehr anfechtbar!
Lukas:
Ich habe ja auch keine Jesusbiographie schreiben wollen. Meinen Glauben an den Auferstandenen wollte ich bezeugen.
Claude:
Also wollten Sie das, was Sie vielleicht bis dahin in der Gemeinde gepredigt und gelehrt hatten, zu einem theologischen Werk zusammensetzen.
Lukas:
Keineswegs wollte ich ein theologisches Werk schreiben, sondern durch Erzählung von einzelnen Begebenheiten aus dem Leben Jesu deutlich machen, dass seine "Herrlichkeit" - bitte nehmen Sie diesen Ausdruck hier in seinem wortwörtlichem Sinne - nicht allein durch seine Auferstehung erfahrbar wurde, sondern schon vorher durch Ereignisse, Worte und Taten zumindest erahnt werden konnte und wurde.
Matthias:
Kann ich Sie so verstehen, dass Sie in Ihrem Buch den Versuch machen, gewissermaßen eine Entwicklung darzustellen, die schließlich bei der Erkenntnis endigt: "Jesus ist der Herr"?
Lukas:
Ja, und ich möchte, dass der Leser auf dem Weg mitgenommen wird.
Gudrun:
Aber einzelne Geschichten haben doch auch Inhalte, die aus sich selbst Bedeutung haben? Ich denke da z.B. an den "Barmherzigen Samariter". Der ist doch ein Symbol für Humanität auch für Nichtchristen geworden.
Lukas:
Ja durchaus. Vielleicht kommen wir später noch auf einzelne Geschichten. Es scheint mir aber jetzt wichtig, über meine Erzählabsicht allgemein noch etwas zu sagen.
Michael:
Sie wollten doch Jesus auch als Menschen darstellen. Oder habe ich Sie vorhin falsch verstanden?
Lukas:
Nein, Sie haben mich richtig verstanden. Jesus war ja nicht nur der "Herr", sondern er war ein Mensch wie wir alle. Er wurde geboren, benötigte Nahrung und Windeln, wuchs heran, lernte laufen und sprechen, ging zur Schule, "nahm zu an Weisheit und Gnade", wie ich das zusammengefasst habe. Und litt an der Verbohrtheit der Menschen, an seiner Todesangst und an den Grausamkeiten seiner Passion. Es war mir wichtig, dieses neben seiner "Herrlichkeit" zum Ausdruck zu bringen.
Maria:
Also seine Herrlichkeit und sein Menschsein wollten Sie bezeugen. Ist das richtig?
Lukas:
Ja, vollständig, aber...
Maria:
Aber Sie hatten noch weitere Absichten?
Lukas:
Darüber hinaus schien es mir auch noch notwendig, mich zu einigen Zeiterscheinungen in der damaligen Kirche zu äußern. So jung diese war, so hatte sie doch schon mit Strömungen und Strudeln zu kämpfen, nicht anders als die heutige. Doch sollten wir uns erst einmal mit den genannten beiden Hauptpunkten, beschäftigen. Ich schlage vor, wir fangen an mit Jesus dem Menschen. Haben sie dazu Fragen?
Martin:
Ja, da hätte ich eine! Hat Jesus seinen Tod und seine Auferstehung vorher gewusst?
Lukas:
Da bringen Sie mich aber in Verlegenheit. Ich kann Ihnen dazu gerne meine Meinung sagen. Aber ein Geheimnis wird es immer bleiben.
Martin:
Und wie ist Ihre Meinung?
Lukas:
Ich bin überzeugt, dass Jesus sich voll bewusst war, wie gefahrvoll voll für ihn seine Verkündigung sein würde. Er hat sein Leben voll in die Waagschale geworfen. Er war sich vollkommen sicher, dass sein Wort und sein Leben dem Willen des Vaters entsprach. Darum war er überzeugt, dass dieser Vater ihn auch im Tod nicht verlassen werde.
Martin:
Also wusste er nichts?
Lukas:
Ein Wissen, so wie wir wissen, was gestern gewesen ist, hatte er wohl nicht. Schließlich gehört es ja auch zum wirklichen Menschsein, dass wir die Zukunft nicht wissen können. Jesus war uns auch darin gleich!
Angelika:
Wir bildergewohnten heutigen Zeitgenossen hätten wohl gerne wenigstens eine Beschreibung seiner Gestalt und einen Bericht über besondere Kennzeichen gehabt, aber darüber gibt kein Evangelist Auskunft. Hat das einen Grund?
Lukas:
Von den anderen weiß ich das nicht. Mir ist der Gedanke niemals gekommen. Wenn ich mir das aber vom heutigen Standpunkt aus betrachte, so bin ich eigentlich ganz froh, dass es so kam. Denn nun kann jeder ohne Fremdheit auf Jesus zugehen, wie auf einen Bruder.
Maria:
Aber die geistigen Eigenschaften!
Lukas:
Die geistigen und charakterlichen Eigenschaften habe ich auch nicht beschrieben. Ich meine, das wäre vielleicht auch langweilig geworden. Darum habe ich sie lieber durch Wiedergabe kleiner Geschichten oder auf andere Weise dargestellt.
Maria:
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Lukas:
Natürlich: Lesen Sie einmal in Kapitel 2, Verse 41-50. Schon der Zwölfjährige disputiert sachverständig mit den Bibellehrern im Tempel. Sie haben ihn offenbar ernst genommen, daher dürfen wir annehmen, dass er die Thora und die Propheten nicht nur kannte, sondern auch so auslegen konnte, dass alle staunten. Das beweist doch Verstand! Oder? Dieselben Fähigkeiten zeigt er bei dem Auftreten in Nazareth. Lesen Sie Kapitel 4, Verse 16-30. Dort können Sie auch ein gutes Beispiel für seinen Mut finden.
Martin:
So haben Sie Jesus dargestellt. Aber Sie haben doch hoffentlich diese Geschichten nicht erfunden?
Lukas:
Nein, nicht erfunden. Ich sagte doch schon, dass ich diese Erzählungen gesammelt und ausgewählt habe. Aber ich habe sie ausgewählt, weil ich seine Weisheit, seinen Mut, seine Schlagfertigkeit, seine Menschenliebe, seine selbstverständliche Autorität durch die Geschichten zeigen konnte.
Christoph:
Gibt es noch weitere solcher Geschichten?
Lukas:
Ganz bestimmt kennen Sie doch die Erzählung von der Tempelreinigung in Kapitel 19. Dabei ist mir noch eine weitere Eigenschaft aufgefallen: Die Fähigkeit, eine politisch günstige Situation für seine Verkündigung zu nutzen, wenn seine Predigt so drastisch sein musste wie die Austreibung der Händler aus dem Tempel.
Sebastian:
Wieso?
Lukas:
Hierbei hat er bestimmt die Anwesenheit so vieler Galiläer ausgenutzt, die zum Fest in Jerusalem waren, ohne allerdings deren Unterstützung tatsächlich zu fordern. Ihre Anwesenheit genügte, um den nötigen Schutz vor der Tempelwache zu geben.
Sebastian:
Klasse, haben Sie noch so was?
Lukas:
Sein politisches Fingerspitzengefühl und seinen scharfen Verstand brauchte er auch bei dem gefährlichen Zusammenstoß mit den Provokateuren, die ihm die Steuerfrage vorlegten. Lesen Sie im Kapitel 20, die Verse 20-26.
Martin:
Dazu passt aber schlecht, dass er so offensichtlich am Ölberg in eine Falle gelaufen ist. Was meinen Sie dazu?
Lukas:
Ich würde gerne die Hinweise auf die Darstellung der geistigen Eigenschaften Jesu noch etwas ergänzen. Doch erinnern Sie mich bitte an Ihre Frage!
Anja:
Haben Sie noch ein Beispiel?
Lukas:
Ja, ich möchte Ihnen Jesus gerne noch vorstellen als einen Mann, der nicht leicht aus der Ruhe zu bringen ist. Das verlieh ihm wohl auch seine Fähigkeit, eine schwierige Lage schnell zu übersehen und dann das Nötige zu tun. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es mehr noch das sichere Bewusstsein war, vom Vater geliebt und geschützt zu sein. ich denke an die Erzählung vom Sturm auf dem See. Sie steht im Kapitel 8, Verse 22-25.
Sebastian:
Da war es auf einmal ganz ruhig.
Lukas:
So haben es die Augenzeugen berichtet! Nun habe ich ja selbst einen Schiffbruch erlebt und kann mir sehr gut ausmalen, wie das auf dem Boot, das von Wind und Wellen hin und her geworfen wurde, zugegangen ist. Jesus rettete die Lage, weil er als einziger die Ruhe behielt. Es kann nicht verwundern, dass die Menschen, die dabei waren und es später berichtet haben, von einem Wunder sprachen.
Susanne:
Ja, war es denn kein Wunder? Wind und Wellen haben ihm gehorcht!
Lukas:
Jesus selbst hat jede Art von Naturwunder für sich abgelehnt. Er hat sich der Versuchung widersetzt und hat kein Brot aus Steinen gemacht, ist nicht von der hohen Zinne des Tempels gesprungen. Lesen Sie dazu im Kapitel 4 die Verse 1-13. Ich werte sie als Programm für Jesu Verkündigung.
Stephanie:
Wie kommen Sie darauf?
Lukas:
Jesus hat nie versucht, Menschen durch Wundertaten zu überwältigen.
Friederike:
Aber die Leute sprechen immer von Wunder!
Lukas:
Sein Auftreten auf dem Schiff während des Sturmes offenbarte eine Autorität, die allerdings wunderbar genug war. Ich deute sie gerne als Durchscheinen seiner "Herrlichkeit".
Michael:
Und welche Bedeutung hat nun die Stelle für Sie und Ihre Verkündigung?
Lukas:
Sie dürfen nicht vergessen, dass Jesus das "Reich Gottes" verkündigt hat. Sein Auftreten gegen das Chaos auf dem Boot war auch als Wiederherstellung der Gottesordnung der ersten Schöpfung zu verstehen. Lesen Sie darüber im ersten Buch der Bibel, der Genesis, Kapitel 1. Doch das ist nur aus der Sicht von Ostern zu erkennen. Die Leute an Bord aber dürften etwas geahnt und entsprechend erzählt haben.
Michael:
Manchmal wird das Boot im Sturm auch auf die Gemeinde gedeutet. Ist das übertrieben?
Lukas:
O nein, das habe ich auch immer so gesehen, nachdem ich die Gemeinden in Not erlebt hatte. Diese Geschichte war gerade für sie oft ein sicherer Trost. Sie selbst hat sich durch die Predigt auch noch etwas entwickelt. Bei Matthäus und Johannes ist, anders als bei Markus und mir, Jesus nicht im Boot als der Sturm ausbricht, sondern kommt zu ihnen über das Wasser, als die Not am größten ist.
Michael:
Und wie kommt das?
Lukas:
Nun, die beiden haben eine Erzählversion verwendet, welche die Situation noch verschärfte. Jesus schläft nicht, sondern ist gar nicht da. Das entsprach der Erfahrung der Gemeinden oft noch mehr: Die Gottesferne. In dieser höchsten Not, sagen die Evangelien, ist Gott uns am Nächsten. Hier schimmert Ostererfahrung in der Erzählung durch. Am edelsten, wie ich meine bei Johannes.
Michael:
Wo finde ich die Stellen bei den Anderen?
Lukas:
Bei Matthäus im Kapitel 8, bei Markus im Kapitel 14 und bei Johannes im Kapitel 6.
Martin:
Gibt es noch weitere derartige Geschichten? Ich glaube, ich habe Jesus mit diesen Augen noch nie gesehen.
Lukas:
Ich denke, wir lassen es erst einmal dabei. Vielleicht reizt Sie meine Betrachtungsweise, das dritte Evangelium nun selbst zu lesen.
Martin:
Vorhin haben Sie die Beantwortung meiner Frage, die sich auf die Falle bezog, in welche Jesus am Ölberg gelaufen ist, verschoben.
Lukas:
Die Ereignisse in der Nacht, in der Jesus verhaftet wurde, sind aber durchaus geeignet, noch einen bedeutenden Zug seines inneren Lebens deutlich werden zu lassen: Seinen Gehorsam. Den Sinn seines Lebens sah er ja darin, den Willen seines Vaters im Himmel zu erfüllen und seinem Volke das Kommen der Herrschaft Gottes zu verkünden. Darum hat er sich unablässig bemüht, angefangen bei den an den Rand gedrängten Galiläern bis zu der Bevölkerung der Hauptstadt. Die Rückschläge gerade in Jerusalem forderten von ihm äußerste Anstrengung und ließen ihn den Versuch wagen, durch Vermittlung des Judas zum Hohen Rat und zum Hohen Priester vorzudringen, um auch ihnen die frohe Botschaft vom Reiche Gottes zu verkünden. Er war sich bestimmt der Gefährlichkeit seines Tuns bewusst. Aber nichts konnte ihn davon zurückhalten, im Gehorsam seinem Vater gegenüber das zu tun, was notwendig war. So ging er treu seinem Auftrag seiner Verhaftung entgegen.
Thomas:
Das kommt mir fast wie Nibelungentreue vor!
Lukas:
Nein, das ist ganz und gar falsch: Die Nibelungen gingen trotzig, fatalistisch in ihren Untergang, weil ihnen das Schicksal als blinde, unüberwindliche Macht erschien, der niemand entkommen konnte. Demgegenüber lassen die weiteren Ereignisse erkennen, dass der Gehorsam Jesu auf einem unerschütterlichen Gottvertrauen gegründet war, das ihn noch im Augenblick seines Todes beten ließ: "Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist!" Er war auch als Mensch vollständig sicher, dass der Vater ihn nicht im Tode lassen werde. Ich meine, in diesem menschlichen Wesenszug Jesu leuchtete seine "Herrlichkeit" besonders auffallend.
Christian:
Wir erörtern doch noch immer Ihr Evangelium im Allgemeinen, nicht wahr?
Lukas:
Richtig, wenn auch mit Abschweifungen.
Christian:
Da hätte ich gern gewusst, welche Unterschiede lassen sich grundsätzlich zwischen Markus und Ihnen machen?
Lukas:
Es gibt einen ganz auffälligen: Markus beginnt sein Evangelium mit der Taufe Jesu. Dort wird Jesus gewissermaßen vom Vater als sein Sohn anerkannt. Matthäus und ich sind der Meinung, dass diese Anerkennung schon vor der Geburt stattgefunden hat. Lesen Sie dazu im Kapitel 1 die Verse 26-38 und bei Matthäus im Kapitel 1 die Verse 18-21. Johannes übrigens hat das Geheimnis noch weiter durchdacht und ist zu dem Ergebnis gekommen: "Im Anfang war das Wort!" Das ist zweifellos die volle Wahrheit. Lesen Sie, bitte, Johannes Kapitel 1.
Claude:
Das bringt mich auf die Frage nach der Jungfräulichkeit Marias.
Lukas:
Die war für mich niemals zweifelhaft. Alle Zeugen, Maria selbst eingeschlossen, waren sich darin einig. Allerdings scheint mir bei euch der biologische Aspekt dieses Wortes wichtiger zu sein als der geistliche.
Claude:
Was meinen Sie damit?
Lukas:
Jungfräulichkeit, meine ich, heißt doch wohl in diesem Zusammenhang mit Jesus, dass sein Erscheinen ein völlig neuer Anfang ist; ohne jede Vorgabe. Mit Jesus beginnt eine neue Wirklichkeit. Mir wäre es wichtig, wenn auch Sie den Begriff "Jungfräulichkeit" im Zusammenhang mit der Geburt Jesu immer als ein Bild für diese neue Wirklichkeit ansähen. Dagegen erscheinen mir naturwissenschaftliche Überlegungen kleinkariert und töricht.
Christiane:
Ist es wahr, dass Jesus arm war?
Lukas:
Freilich war er arm. Das habe ich doch ganz deutlich gemacht. Er lebte von Spenden. Aber er war auch ein Freund der Armen. Das heißt nicht nur Freund der Mittellosen, sondern ebenso der Unterdrückten, der Frauen, der Kinder, der Kranken und Schwachen. Zu ihnen gehört er, ihnen verheißt er das Reich Gottes. Darin weiß er sich einig mit der Tradition seines Volkes Israel.
Christiane:
Dann lag hier wohl auch der eigentliche Zündstoff in seinem Konflikten mit der Priesterhierarchie. Oder?
Lukas:
Die hat er zu den Reichen gezählt. Nicht nur, weil sie tatsächlich oft begütert waren, sondern weil sie sich im Besitz der Gerechtigkeit Gottes fühlten, und damit glaubten, über diese Gerechtigkeit verfügen zu können.
Christiane:
Und wie stand er zu den Gesetzen seiner Religion?
Lukas:
Ich wollte Jesus auch zeigen als den Befreier von religiösen Satzungen, sofern diese sich gegen die Menschen auswirkten. Sie werden die Streitigkeiten mit den Schriftgelehrten um den Sabbat kennen. Darf man an diesem Ruhetag Ähren raufen oder einen Kranken heilen? Lesen Sie dazu in Kapitel 6, die Verse 1-11 und in Kapitel 14, die Verse 1-6.
Michael:
Hatte er nicht auch Konflikte mit dem blinden Nationalismus in seinem Volke?
Lukas:
Das habe ich eher unterschwellig erfahren und dargestellt. Ich wollte ihn aber auf jeden Fall zeigen als den Überwinder nationaler Grenzen. Denken Sie nur an den römischen Hauptmann, dessen Diener erkrankt war und gerettet wurde. Denken Sie an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Sie finden die beiden Stellen im Kapitel 7, Verse 1-10, und Kapitel 10, Verse 30-37. An diesen Stellen zeige ich ihn auch als Überwinder enger nationaler Grenzen.
Matthias:
Ich habe vorhin nicht verstanden, was Sie vom Auftreten gegen das Chaos gesagt haben. Könnten Sie das noch etwas deutlicher erklären?
Lukas:
Da haben wir uns wohl vom Thema abbringen lassen. Aber Ihre Frage passt hier sehr gut. Genesis 1 ist ja schnell gefunden. Hier bitte lesen Sie den Vers 2. Dort ist das Urchaos dargestellt: "die Erde war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, usw." Jahwe ordnet dieses Chaos in dem berühmten Sechstagewerk. Allein durch sein Wort. Wenn Jesus gegen das Chaos des Sturmes auf dem See auftritt, dann handelt er wie Jahwe. Nur durch sein Wort!
Matthias:
Ja, aber viele Menschen sind schon gegen alle möglichen chaotischen Naturgewalten aufgetreten. Dieser Vorfall auf dem See kann doch unmöglich als ein Beweis für seine "Herrlichkeit" gelten.
Lukas:
"Beweis" würde ich auch nicht sagen wollen. "Hinweis" wäre wohl richtiger. Es läge mir schon daran, auf den Kampf gegen das Chaos bei anderen Gelegenheiten und unter anderer Gestalt hinzuweisen. Die "Herrlichkeit" offenbart sich nicht durch ein Ereignis allein, sondern durchzieht das ganze Leben Jesu wie ein Gewürz die ganze Speise. In den Berichten meiner Gewährsleute habe ich Jesus im Kampf gegen das Chaos erlebt.
Sebastian:
Und wo zeigt sich dieses Chaos?
Lukas:
Ihm zeigt es sich in der Tatsache der Existenz krasser Not vieler neben dem Reichtum weniger. Ihm zeigt es sich in der Krankheit und im Tod. Ihm zeigt es sich in gesetzlichen Ordnungen, wenn diese sich im Einzelfall oder überhaupt gegen den Menschen auswirken. Ihm zeigt es sich, wenn Menschen sich über andere Menschen erheben. Ihm zeigt es sich, wenn Einzelne oder Gruppen ausgesondert werden. Z.B. die Sünder, die Zöllner, die Frauen, die Kinder, die Armen, die Heiden, die Samariter.
Sebastian:
Mir scheint fast, Chaos und Sünde seien das Gleiche.
Lukas:
Nicht das Gleiche. Die Sünde lässt uns in das Chaos zurücksinken. Der Verfasser der zweiten Schöpfungsgeschichte in Genesis 2 hat bereits darauf hingewiesen, dass der Mensch sich selbst aus der ihm zugedachten Welt hinaus geworfen hat, weil er wie Gott sein und das Gute und das Böse erkennen wollte.
Anja:
Meinen Sie denn wirklich, dass das Streben nach Erkenntnis eine Sünde sei?
Lukas:
Nein, das meine ich nicht, und auch Jesus hat es nicht gemeint. Aber er hat gewarnt vor dem Vertrauen auf die eigene Einsicht, das eigene Vermögen, oder gesellschaftliche Stellung. Stattdessen wirbt er für unbedingtes Vertrauen auf Gott. Das hat er ja selbst auch vorgelebt. Wir sprachen schon darüber.
Angelika:
Wie müsste sich denn das in unserem praktischen Leben auswirken?
Lukas:
Da, glaube ich, wird es am besten sein, wenn Sie den Text selbst aufmerksam lesen. Sie werden sich wundern und Jesus selbst zu vernehmen glauben. Fangen Sie beim Kapitel 6 an, dann sind Sie schnell mitten drin.
Angelika:
Sie kennen doch aber sicher so einen Kernsatz.
Lukas:
Dann lassen Sie mich auf einen Satz hinweisen, der meist übersehen wird. Er steht im Kapitel 9, Vers 48 und zwar im Nachsatz: "Denn wer unter Euch allen der Kleinste ist, der ist groß." Es ist wohl kaum zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass dieser Satz allein schon zu einer vollständigen Umbildung unserer Gesellschaft führen müsste, wenn er nur allgemein angewendet würde.
Gudrun:
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Wie sollte denn das gehen? Wenn der jetzt Kleinste der Größte wäre, dann stünde unsere Gesellschaft zwar auf dem Kopf, aber es gäbe wieder einen kleinsten, der dann der Größte sein sollte.
Lukas:
Offenbar haben auch die Jünger Jesus so missverstanden. In Kapitel 22 berichte ich in den Versen 24-26 von einem Streit unter den Jüngern. Matthäus und Markus nennen sogar Namen. Heutige Psychologen würden vielleicht von einer Hackordnung sprechen, die sich anbahnt. Jesus sieht das ganz anders und macht den Streitenden seinen Standpunkt klar. Das würde in heutiger Sprache etwa so aussehen: Leute, wir sind nicht auf dem Hühnerhof, wo der das Sagen hat, dessen Schnabel am stärksten ist, sondern wir sind Menschen. Unter uns haben andere Regeln zu gelten. Hier ist der der Größte, der der Diener aller ist.
Gudrun:
Wie soll man das verstehen?
Lukas:
Ich will versuchen, Ihnen das an einem Beispiel Ihrer Welt zu erläutern: Der Chef einer Fabrik hat bei allen seinen Entscheidungen immer das Wohl aller seiner Mitarbeiter zu bedenken. Dabei geht es nicht nur um den gerechten Lohn, sondern ebenso um die Sicherheit an den Arbeitsplätzen, um ein gutes Betriebsklima, um zweckmässige Aus- und Weiterbildung, um Sicherung eines ausreichenden Einkommens aller, um Mitsprache, um Altersvorsorge. Der Dienst eines solchen Chefs hört nicht am Fabriktor auf, sondern schließt auch die Familien seiner Mitarbeiter ein. Auch der Schutz der Umwelt gehört dazu. Durch sie dient er wirklich allen!
Wolfgang:
Nun ist ja nicht jeder ein Fabrikherr.
Lukas:
Aber kein Mensch lebt für sich allein. Fast immer ist ein anderer von ihm abhängig. Sei er Schalterbeamter, Verkehrsteilnehmer, oder Schüler. Kein Mensch ist befreit vom Dienen. Je höher er steht, soll heißen je größer sein Machtbereich ist, umso mehr wird von ihm erwartet.
Anja:
Friedrich, der Preußenkönig, fühlte sich als erster Diener seines Staates. Hat Jesus das gemeint?
Lukas:
Nein, nicht der Diener des Staates, auch nicht der Kirche oder einer anderen Institution ist gemeint. Nur der Dienst am Menschen zählt bei Jesus.
Anja:
Habe ich wirklich richtig verstanden? Meinen Sie, dass es bei Beachtung dieses Jesusgebotes zu einer Revolution unserer Gesellschaft käme?
Lukas:
Die würde aber ganz sanft sein und keine Tränen kosten.
Christoph:
Ja, und warum kommt es nicht dazu?
Lukas:
Jesus gibt die Antwort: Es liegt an Eurem Glauben! Oder wörtlich: "Wenn Euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet Ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Hebe dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz' dich ins Meer! und er würde Euch gehorchen." Das steht im Kapitel 17, Vers 6. Auf diese drastische Art sagt uns Jesus: Wenn ihr euch wirklich auf Gott allein verließet, so könnten Dinge geschehen, die ihr alle jetzt für unmöglich haltet. Ihr könntet z.B. die Welt wieder so haben, wie sie euch übergeben wurde und wie sie war, bevor ihr euch selbst die Erkenntnis von Gut und Böse angemaßt habt.
Alexander:
Glauben Sie das wirklich?
Lukas:
Seien wir einmal ehrlich! In unserem praktischen Handeln ist doch "gut", wer oder was unseren Interessen entspricht, und "böse", wer oder was unseren Interessen zuwiderläuft. Sie wissen aus der Geschichte, dass das Urteil "böse" für die Betroffenen oft lebensgefährlich war.
Susanne:
Aus meinem Katechismus habe ich gelernt: Glauben heißt für wahr halten, was Gott geoffenbart hat. Mir scheint, diese Definition des Wortes "Glauben" ist bei der Stelle, die sie eben zitiert haben, nicht anwendbar. Oder?
Lukas:
Wenn Jesus sagt: Das Reich Gottes ist nahe, so ist das nicht etwas Ähnliches, wie wenn ein Bahnhofsvorsteher sagt: Der Zug wird in 2o Minuten eintreffen. In beiden Fällen verlangt die Mitteilung unseren Glauben. Aber der Glaube, den Jesus verlangt, ist himmelweit verschieden von dem, den der Bahnbeamte beanspruchen kann.
Susanne:
Und was verlangt er?
Lukas:
Jesus verlangt nicht nur ein Fürwahrhalten seiner Ankündigung. Er will, dass wir uns mit allen Kräften unseres Leibes und unserer Seele für dieses Reich Gottes einsetzen. Darum meint das Gleichnis vom Maulbeerbaum: Wenn Euer Einsatz für das Reich Gottes auch nur winzig klein wäre, so würden doch Dinge geschehen, die ihr für unmöglich haltet. Oder: Wenn ihr euch wirklich auf Gott verließet und nicht auf euch und eure Kräfte allein, so könnte sich die Welt von Grund erneuern. Es würde niemandem eine Schwierigkeit bedeuten, Diener aller zu sein.

Niemand meldete sich zu einer Frage. Es ging wohl den anderen wie mir selbst, dass uns die Worte sehr nachdenklich gemacht hatten. Nach einer ziemlich langen Pause, meldete sich

Christian:
Gestatten Sie mir noch eine Frage, zu der wohl noch Zeit ist heute Vormittag. Ihre Erklärungen zu Konzept und Arbeitsweise waren durchaus einleuchtend. Aber es ist doch auch wahrscheinlich, dass Sie sich nach den "vielen" noch aus bestimmten aktuellen Gründen zu ihrem Buch veranlasst gesehen haben. Ist die Vermutung richtig?
Lukas:
Es gibt sicher Autoren, die einfach Freude daran haben, einen Stoff schriftlich zu formen. Ich leugne nicht, dass mir das auch so ging. Aber ich hatte auch aktuelle Anlässe: Es gab schon sehr früh Strudel und Strömungen in der jungen Kirche.
Christian:
Das kann man ja leicht in den Paulusbriefen spüren. Mit welchen mussten Sie sich auseinandersetzen?
Lukas:
Da war einmal der Streit um die Frage, ob man erst Jude, d.h. beschnitten, werden musste, ehe man Christ werden könne. Ich habe im Evangelium mehrfach die Gelegenheit wahrgenommen, zu erzählen, wie Jesus die Grenzen seines Volkes überwindet. Lesen Sie im Kapitel 7, die Verse 1-10; im Kapitel 10, die Verse 13-14 sowie 30-37; im Kapitel 13, die Verse 22-30; im Kapitel 17, die Verse 11-19; im Kapitel 23, den Vers 47. Ich bin überzeugt, dass das Konzil der Apostel in Jerusalem seine Entscheidung in Treue zu der Tradition getroffen hat, die ich viel später in meinem Buch festgehalten habe.
Stephanie:
Da waren Sie ja selbst gleich zweimal betroffen. Einmal als Teamgefährte des Paulus und außerdem als heidnischer Grieche, das waren Sie doch?
Lukas:
Das betraf mich selbst. Ja, durchaus. Aber noch mehr muss ich Paulus bewundern, der sich mit Jesus so identifizieren konnte, dass er, ohne ihn je persönlich erlebt zu haben, auf seiner Linie fortfuhr und dem Gottesvolk den Weg aus der Enge einer Nation in die Weite der ganzen Welt zeigte. Dabei blieb er in völliger Übereinstimmung mit der religiösen Geschichte seines Volkes.
Christian:
Offenbar war diese Auseinandersetzung durch das Apostelkonzil noch nicht aus der Welt geschafft. Hatten Sie vielleicht noch andere aktuelle Anlässe für Ihr Evangelium?
Lukas:
Da und dort gab es noch eine andere Turbulenz, weil es immer noch Jünger von Johannes dem Täufer gab, der zur Zeit Jesu von Herodes enthauptet worden war. Mag sein, dass sich dieses Problem schon erledigt hatte, als ich über 40 Jahre nach Jesu Kreuzigung das Evangelium schließlich aufschrieb, aber zu der Zeit meiner Forschungen in Jerusalem war es doch noch lebendig und hatte mich beeindruckt. Sie können die Spur meiner Bemühungen, Jesus und nicht Johannes als den Christus zu bekennen, in den Kapiteln 1, 2 und 3 leicht finden.
Marita:
O, da kann ich mir mancherlei leidenschaftliche Parteinahme gut vorstellen. Wie hat die junge Kirche das nur verkraftet? Aber ich muss feststellen, dass Sie selbst sich zu keinerlei extremer Äußerung haben hinreißen lassen.
Lukas:
Das ist ein hohes Lob für mich, denn leider haben wir die Tugend der Geduld und Toleranz nicht immer parat. Die war aber noch besonders gefragt bei der dritten Strömung, mit der wir damals zu ringen hatten: Es gab nämlich Leute, die das Ende der Welt bzw. die Wiederkunft Jesu in naher Zukunft erwarteten und entsprechend predigten. Das löste einerseits Ängste aus, weil mancher Prediger mit dem Endgericht drohte, das binnen kurzer Zeit kommen sollte, andererseits war jeder Tag, an dem das Gericht nicht kam, Wasser auf die Mühlen der Spötter und Ungläubigen.
Marita:
Dadurch wurden wiederum viele Gläubige in ihrem Glauben angefochten und irritiert. Wie konnte die Kirche das nur überstehen?
Lukas:
In meinem Evangelium habe ich jeden Eindruck einer sogenannten "Naherwartung", die manche Zeitgenossen Jesu aus dessen Worten herausgehört hatten, vermieden. Jesus hat vom langsamen Wachstum des Gottesreiches gesprochen. Lesen Sie dazu vielleicht in Kapitel 13 die Verse 18-21.
Wolfgang:
So hat Ihr Buch mitbewirkt, dass diese Strömungen und Turbulenzen schließlich auch ohne eine Entscheidung der Kirchenleitung aufhörten.
Lukas:
Ja, vielleicht. Ich habe in solchen Fällen auf den Heiligen Geist gesetzt und mich so verhalten, wie es in der Apostelgeschichte durch Gamaliel empfohlen wird. Sie finden die Stelle im Kapitel 5, in den Versen 34-39.

Herr Lukas wartete ein paar Minuten, aber niemand suchte nach der Stelle oder meldete sich zu Wort. Schließlich sagte der Seminarleiter: "Lassen Sie uns hier abbrechen. Es ist ohnehin schon Mittagszeit. Wir sehen uns um 15.3o Uhr hier wieder. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit."

Die Teilnehmer zögerten noch etwas, sich von den Gedankengängen zu lösen, die den Vormittag beherrscht hatten. Kleine Gruppen blieben zusammen und tauschten ihre Meinungen aus. Schließlich aber begaben sich doch alle zum Essen in den Speisesaal.

2

Nach dem Mittagessen werden wohl die meisten zum Lukasevangelium gegriffen haben. Wer von uns kennt schon die Evangelien so gut, dass er sie aus dem Kopf unterscheiden kann. So begann ich zu lesen und markierte mir mit dem Bleistift Stellen, zu denen ich vielleicht etwas fragen könnte. Es war mir schnell klar, dass wir in der Zeit, die zur Verfügung stand, niemals alle Fragen anpacken konnten, auch dann nicht, wenn, wie am Vormittag, nicht diskutiert wurde.

Auffällig pünktlich waren alle wieder zur Stelle. Herr Lukas und der Seminarleiter kamen zusammen. Leider! Ich hätte gerne meine Frage gestellt, bevor alle wieder da waren. Meine Blamage von gestern Abend war zu frisch in Erinnerung.

In den Tischgesprächen hatte sich herausgestellt, dass das größere Interesse wahrscheinlich dem Sondergut des Lukas galt. Das ging mir selbst auch so. Ich wollte heute das erfahren, was das dritte Evangelium von den beiden anderen Synoptikern unterschied. So versprach ich mir, etwas von der besonderen Sicht dieses Evangelisten zu erkennen. Zugleich erhoffte ich Vorteile für das Verständnis der anderen Evangelien.

"So, da sind wir wieder! Ich habe mir erlaubt, Ihnen Herrn Lukas während der Mittagszeit zu entführen. Ich hoffe, das hat Ihnen die Ruhe gegeben, sich für diese Nachmittagsstunden gut vorzubereiten." Viele nickten. "Bitte, Herr Lukas!"

Alle schauten unseren Gast erwartungsvoll an. Der blieb bei seinem Stil vom Vormittag und munterte mit einer Handbewegung zur Fragestellung auf. Gleich meldeten sich mehrere. Mit einem Kopfnicken forderte er Alexander auf.

Alexander:
Ich habe, wie Sie geraten haben, bei Kapitel 6 zu lesen angefangen. Aber ich habe zunächst einmal schnell weiter geblättert bis ich im 1o. Kapitel auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter stieß.
Lukas:
Und was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Alexander:
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich höre, wie treffsicher Jesus die vielbeschäftigten Kleriker aufs Korn nimmt, welche die Not, die vor ihnen liegt, nicht sehen. Aber diesmal bin ich auf eine Pointe gestoßen: Jesus antwortet nicht auf die Frage des Schriftgelehrten: "Wer ist denn mein Nächster?" Sondern er versucht ihm klarzumachen, dass er selbst Nächster werden soll.
Lukas:
Stimmt!
Alexander:
Das bedeutet doch, dass ich das Liebesgebot nicht so sehen muss, dass ich alle Menschen als meine Nächsten lieben soll, sondern die, die mir in der Not geholfen haben. Hat Jesus das so gemeint?
Lukas:
Sie haben Recht. Jesus gibt durch das Gleichnis und die Auswertung des Schriftgelehrten eine unerwartete Antwort: Der Nächste ist der, welcher sich für den Hilfsbedürftigen sofort und sachgemäß eingesetzt hat. Und er mahnt: "Dann geh und mach es genauso!" Darin steckt aber unausgesprochen: Liebe du den, der dir Gutes erwiesen hat! Dabei mach aber keinen Unterschied, ob Jude oder Samariter oder Heide!
Alexander:
Will Jesus sagen: Denk dran, dass Du ohne die Hilfe vieler anderer Menschen gar nicht leben kannst!
Lukas:
Die Folgerung ist wohl richtig.
Daniel:
Das bringt mich zu einer Anschlußfrage: Darf ich vermuten, dass Jesus auch noch darauf hinweisen wollte, dass ganz im Hintergrund für alle Menschen der der Allernächste bleibt, der auch dann noch da ist, wenn alle anderen fehlen: Gott?
Lukas:
Da dürften Sie auf der richtigen Spur sein. Nun brauchen Sie nur noch einen kleinen Schritt. Dann werden Sie feststellen, dass jeder Mensch, der einem anderen zum Nächsten wird, in einer Linie zum Vater steht. Oder anders ausgedrückt: Der Nächste ist Beauftragter Gottes, Hand Gottes. Damit ist Nächstenliebe und Gottesliebe wirklich einander gleich, wie der Schriftgelehrte richtig zitiert.
Stephanie:
Haben Sie das eigentlich alles schon bedacht, als Sie die Geschichte in Ihr Evangelium aufgenommen haben?
Lukas:
Schwer zu sagen. Aber mit Sicherheit kann ich feststellen, dass jeder, der sich mit Jesus beschäftigt, immerfort neue Entdeckungen macht.
Matthias:
Heute Morgen hat Christian Sie nach aktuellen Gründen für die Abfassung Ihres Buches gefragt. Da haben Sie von der Naherwartung gesprochen, die manche Ihrer Zeugen aus den Worten Jesu herausgehört haben sollten. Ich habe nun aber in Kapitel 21 die Verse 5-24 gefunden: Diese Stellen lassen durchaus den Schluss zu, Jesus spräche nicht von großen Zeiträumen, wenn er von der Endzeit redete. Wie sehen Sie das?
Lukas:
Ja, ja, das ist ein Stück, das ich von Markus übernommen habe. Ich habe in diesen Versen allerdings nie eine Endzeitrede gesehen. Ich glaube, auch Markus nicht. Können wir nicht, ohne Propheten zu sein, aus der Erfahrung der Geschichte sagen, dass jedes Menschenwerk nur eine Zeitlang existieren kann. Jesus wusste eben, dass der Tempel, der einmal von Menschen errichtet wurde, auch wieder zerfallen oder zerstört werden würde. Lasst Euch nicht blenden! mahnt er seine Jünger.
Matthias:
Außerdem war er, denke ich, Realist bei der Beurteilung politischer Entwicklungen. Er sah, dass die Bestrebungen der jüdischen Nationalisten zur Katastrophe führen mussten.
Lukas:
Wenn Sie die Pracht des Tempels gesehen hätten, würden Sie Verständnis haben für den Schock, den die Jesusworte auslösten. Sie blieben im Gedächtnis.
Friederike:
Aber das ging doch auch alles in Erfüllung.
Lukas:
Ja, in mehreren Etappen. Vollkommen abgetragen wurde der Tempel erst unter Kaiser Hadrian (135 nach Chr.), der auch Jerusalem einen neuen Namen gab: Aelia Capitolina. Damals blieb wirklich "kein Stein auf dem anderen".
Wolfgang:
Dann ist ja wohl auch kaum logisch, die Abfassungszeit des Markusevangeliums in den Jahren nach der Zerstörung Jerusalems zu vermuten, weil sich da die Untergangsprophezeiung Jesu erfüllt habe.
Lukas:
Auch das Markusevangelium hat selbstverständlich eine Entstehungsgeschichte. Aber es ist nur natürlich, dass das Schicksal Jerusalems besonders die Judenchristen tief beeindruckt und Markus veranlasst hat, die Prophezeiung Jesu hervor zu heben. Seine Worte waren auch ein Trost für gerade diese Christen.
Friederike:
O ja, richtig! das kann ich verstehen. Genau genommen erfüllen sich die Voraussagen Jesu bis in unsere Zeit, denn immer noch werden Menschen, weil sie sich zu Jesus bekennen, verfolgt. Die Entwicklung des Reiches Gottes aber geht weiter.
Tobias:
Ich bin auf Kapitel 15 gestoßen. Die Gleichnisse vom verlorenen Schaf oder der verlorenen Drachme kann ich ganz gut verstehen. Die etwas übertrieben dargestellte Freude ist wohl als Gegengewicht gegen die Ausgrenzung von Sündern aus der Gemeinschaft der Gerechten, wie sie leider nicht nur bei den Juden, sondern auch in der Kirche immer wieder vorkommt, zu betrachten. Aber beim letzten Gleichnis in diesem Kapitel, das wir ja aus vielen Predigten kennen, scheint mir doch der brave Sohn wirklich ein bisschen schlecht wegzukommen.
Lukas:
So werden viele denken. Aber bitte versetzen Sie sich einmal richtig in die Situation. ihr Bruder ist, durch eigene Schuld, unter die Räder gekommen. Nun kommt er zwar abgebrannt, aber auch voller Reue, wieder nach Hause. Die Eltern nehmen ihn auf. Sie freuen sich, dass er wieder da ist. Freuen Sie sich dann nicht? Es ist doch Ihr Bruder! Das Gleichnis hat einen offenen Schluss. Der Hörer oder Leser sieht sich selbst in der Rolle des unbescholtenen Bruders. Wird er die Freude des Vaters teilen oder?
Tobias:
Sie machen mich ziemlich kleinlaut.
Lukas:
Jesu Zuhörer waren das offenbar auch.
Wolfgang:
Ich bin hängen geblieben am Kapitel 16 und zwar an der Geschichte von dem klugen Verwalter. Wie kann "der Herr" den Verwalter loben? Imponierte ihm die Raffinesse dieses Burschen?
Lukas:
Ich war seinerzeit, wie Sie jetzt, auf meine eigene Deutung angewiesen. Es gibt Menschen, und die meisten von uns haben auch etwas mit ihnen gemeinsam, die halten sich, ja krallen sich an ihrem Besitz fest. Man kennt Fälle, in denen Menschen dadurch sogar zu Tode gekommen sind. Solchen dürfte das Gleichnis besonders gelten.
Wolfgang:
Das verstehe ich nicht.
Lukas:
Der kluge Verwalter hat anscheinend mit dem Geld seines Herrn auch selbst Geschäfte gemacht. In dessen Namen hat er Darlehen gegeben, die zum Fälligskeitstermin in Sachwerten zurückgezahlt werden sollten. Die Rückzahlmenge hatte er so diktiert, dass für ihn ein beträchtlicher Teil abfiel. Ohne seinem Herrn etwas wegzunehmen, konnte er auf diese Mengen verzichten. Das heißt, er ließ den "ungerechten Mammon" fahren, um sich damit Freunde zu machen. Genau das scheint mir die Pointe. Genau dieses Handeln ist vorbildlich für uns. Halten wir uns also nicht fest an unserem Besitz, der ja nur eine Leihgabe Gottes ist, sondern machen wir uns damit Freunde, indem wir davon großzügig hergeben.
Martin:
Ich hatte heute beim Lesen manchmal den Eindruck, dass Sie Wert darauf legen, einen Gegensatz zwischen Jesus und den Juden deutlich werden zulassen. Hatten Sie diese Absicht?
Lukas:
Da müssen Sie bitte mehrere Dinge gleichzeitig sehen: 1. Jesus gehört zum jüdischen Volk, nicht nur blutmäßig, sondern mit seinem ganzen Fühlen und Denken. Darum ist er nicht von den Juden zu trennen. Aber 2. hat er sein Volk in das Reich Gottes führen wollen. Doch dieses Volk hat ihm die Gefolgschaft größtenteils versagt und ihn damit veranlasst, seine Botschaft an alle Völker zu richten. 3. stamme ich aus der Heidenwelt und bin ein Schüler von Paulus, dessen Vorstellungen die meinen geworden sind. Aber 4. ist es durchaus möglich, dass meine Schilderungen auch ein bisschen einseitig sind, um die Römer nicht unnötig vor den Kopf zu stoßen. Unsere Christen in Rom hätten das als erste zu spüren bekommen.
Anja:
Ich habe mich im Kapitel 16 an den Versen 14 und 15 gestoßen. Irgendwo habe ich gelesen, die Pharisäer seien durchaus fromme Leute gewesen und verdienten das harte Urteil Jesu eigentlich nicht. Wir kennen ja auch Pharisäer als seine Anhänger.
Lukas:
Jesu deutliche Kritik an den Pharisäern ist nicht nur in meinem Buch zu lesen. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht und meine nun, Jesus lehnte diejenigen ab, die ihre moralischen Forderungen hauptsächlich an andere stellten, selbst aber nicht danach lebten. Manche Pharisäer scheinen auch ihre sittlichen Forderungen in formalen Dingen so hoch gehängt zu haben, dass sie nur von begüterten Juden erfüllt werden konnten. In den von Ihnen angezogenen Versen kommt nun noch zum Ausdruck, dass sie Reichtum auch für eine Bestätigung der Gnade Gottes ansahen. Bei solchem Denken mussten sie über Jesus lachen, weil er selbst arm war, und es außerdem mit den Armen in Israel hielt, die nicht imstande waren, alle Vorschriften des Gesetzes richtig zu erfüllen. Leute mit solchen Vorstellungen gibt es zu allen Zeiten. Darum habe ich es für richtig gehalten, die Meinung Jesu über sie ohne Abschwächung zu berichten. Ein weiteres Beispiel für Jesu Denken gibt Kapitel 18, in den Verse 9-14. Die werden Sie kennen.
Christoph:
Vorigen Sonntag hat unser Kaplan uns aus Kapitel 13 die Verse 25-30 ausgelegt. Das sind ja recht beängstigende Worte für manche Leute.
Lukas:
Was hat er denn gesagt?
Christoph:
In Erinnerung ist mir geblieben, dass er meinte, die Leute, die sagten, sie hätten mit Jesus zu Tische gesessen usw. das wären heute die Bischöfe und Funktionäre kirchlicher Verbände, die Theologen und Titelträger. Wie ist Ihre Meinung?
Lukas:
Die könnten sich jedenfalls vor Jesus nicht auf ihre Stellungen berufen.
Christoph:
Was hat Sie denn zu dieser Bemerkung veranlasst?
Lukas:
Da muss ich noch einmal von mir erzählen: Sie wissen, dass ich in Rom in der Gemeinde gearbeitet habe, Mich haben die Erfahrungen dieser Arbeit schließlich auch zu meinem Evangelium veranlasst.
Christoph:
Klar, in jeder Gemeinde gibt es Menschen, die sich auf ihre Arbeit und ihr Wirken etwas einbilden, die nach Ehrentiteln streben, die von Gott alles ganz genau wissen.
Lukas:
In Rom gab es auch noch einige, die Jesus gekannt hatten und sich daher für besondere Menschen hielten. Als ich nun daranging, meine Aufzeichnungen zu überarbeiten, da stieß ich auch auf die Notiz, die den Versen 13, 23-30 zugrunde liegt, und plötzlich wurde mir klar, dass sie in der Sprache Jesu genau die Leute beschrieb, deren Wesen mir so unangenehm aufgefallen war. Ich übernahm sie darum. Wie aus der Predigt Ihres Kaplans erkennbar, haben sie heute noch Bedeutung.
Lara:
Ich bin in Kapitel 19 auf die Verse 11-27 gestoßen. Die kamen mir so fremd vor. Ich kannte dieses Gleichnis von mancher Predigt. Aber in denen war immer von Talenten die Rede und nicht von Minen.
Lukas:
Ja, ich kann mir ihre Verwirrung gut vorstellen. Das Gleichnis kommt fast wörtlich bei Matthäus im Kapitel 25 vor. Dort ist von Talenten die Rede. Dieser Begriff ist von da sogar in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch eingedrungen. Das Gleichnis haben wir beide aus der heute Vormittag genannten Spruchsammlung bekommen.
Lara:
Das ist interessant. Aber außer diesem, wie ich glaube, unbedeutenden Unterschied der Geldsummen, möchte ich wohl gerne erfahren, welche Bedeutung die Rahmenerzählung mit dem König hat, und was das Gleichnis überhaupt sagen will.
Lukas:
Gut. Erstmal die Rahmenerzählung: Ich habe die fast zeitlose Form, wie sie wohl von Jesus stammt, ein bisschen aktualisiert. Sie wissen, dass im Nahen Osten der damaligen Zeit kleine Könige herrschten, die ihre Ernennung in Rom bekamen. Herodes ist wohl der bekannteste von ihnen. Und selbstverständlich gab es dabei Intrigen, wie sie auch angedeutet sind, einschließlich des blutigen Endes. Zu einer solchen fast typischen Geschichte habe ich die ursprünglich einfachere Rahmenerzählung entwickelt. Möglich, dass dabei auch ein wenig die Überheblichkeit eines Griechen, wie ich es bin, gegenüber den "Barbaren" mitgewirkt hat.
Lara:
Und das Gleichnis selbst?
Lukas:
Nun das Gleichnis selbst: Ich habe vorhin etwas gesagt über die Leute, die in der Gemeinde so unangenehm auffallen, weil sie sich für so richtig halten. Aber es gibt auch Leute, die nichts tun wollen, die sich von den Aktiven mitschleppen lassen, die sich zu handeln fürchten, weil sie etwas falsch machen und sich blamieren könnten. Das sind die, die ihre Mine in ein Tuch binden und abwarten.
Lara:
Da bin ich aber erstaunt, mit welcher Sicherheit Jesus die Erfahrungen in den Gemeinden vorausgesehen und in seinen Gleichnissen angesprochen hat.
Lukas:
Dann können sie sich auch vorstellen, wie gerne ich sie in mein Buch aufgenommen habe. Ich habe sie nicht interpretieren wollen, weil das besser durch jeden einzelnen in der Gemeinde aus seiner jeweiligen Erfahrung geschehen kann. Die Gleichnisse Jesu sind wirklich zeitlos in Bedeutung und Format.
Luke:
Ich bin auf Kapitel 11 ....
Lukas:
Aha, auf das Vaterunser.
Luke:
Ja, auf das Vaterunser. Dazu habe ich mehrere Fragen: 1. Warum haben Sie einen anderen Text als Matthäus? 2. Wer von Ihnen beiden hat den richtigen? 3. Neuerdings beten wir immer noch einen Lobpreis hinterher den wir, wie ich glaube, von den Protestanten übernommen haben. Woher stammt der? In den Evangelien finde ich ihn nicht! 4. Wie kann uns Gott überhaupt in Versuchung führen?
Lukas:
Also erstmal habe ich keinen anderen Text als Matthäus. Ich habe nur weniger. Vergleichen Sie bitte die beiden Texte indem Sie sich zu je zwei und zwei zusammentun. Der eine schlägt Lukas 11, der andere Matthäus Kapitel 6, Vers 9 auf. Er wartete ab, bis alle bereit waren.
Lukas:
Zuerst fehlt das "Unser" bei der Anrede "Vater" und danach die Worte "im Himmel". Sie dürfen gern sagen, mein Text sei dürrer, aber nicht anders. Matthäus hat noch zwei Einschübe, die, wenn ich das richtig sehe, meinen Text etwas ergänzen. Der Einschub "Dein Wille geschehe" usw. ist doch deutlich eine Wiederholung des "Dein Reich komme" unmittelbar davor. Wenn Gottes Reich kommt, dann geschieht auch Gottes Wille. "Erlöse uns von dem Bösen" dreht das " führe uns nicht in Versuchung" ins Positive. Ich sehe da eigentlich keinen Unterschied. Damit ist die Frage nach dem "richtigen" Text wohl erledigt.
Luke:
Ich würde gerne eine Erklärung für das Mehr bei Matthäus haben.
Lukas:
Ich habe Ihnen heute Morgen gesagt, dass unsere Texte zum Teil auch aus liturgischen Quellen stammen. Sie wurden im Gottesdienst gebraucht. Die Leiter der Gottesdienste haben sich manchmal nicht mit den ihnen zu nüchtern erscheinenden überlieferten Worten Jesu zufrieden gegeben, sondern haben sie etwas voluminöser gemacht. Solch angereicherter Text kann in das Matthäusevangelium gekommen sein.
Christiane:
Aber das geht doch nicht!
Lukas:
Bitte: Wenn Ihr Priester die Messe eröffnet mit den Worten: "Der Herr, der Euch heute Morgen hier zusammengeführt hat, sei mit Euch!", so werden Sie doch kaum irritiert sein, obwohl der richtige Wortlaut viel einfacher ist. So etwa stelle ich mir auch das Zustandekommen der Erweiterungen bei Matthäus vor.
Susanne:
Ist die Lobpreisung am Schluss auch so ein Zusatz?
Lukas:
Er wurde gegen Ende des ersten Jahrhunderts oft gebraucht. Aber er steht nicht in einem Evangelium. Kirchen der Reformation haben ihn wieder aufgenommen. Mit ihnen beten ihn die Katholiken jetzt auch. Übrigens ist die Weiterführung der letzten Vaterunserbitte in der Messe auch ein Zusatz zu Jesu Worten.
Anja:
Sie haben Lukes vierte Frage noch nicht beantwortet!
Lukas:
Oh ja! "Führe uns nicht in Versuchung." Das ist so ein Satz, dessen Auslegung ich immer wieder neu versuchen muss. Bedenken Sie aber, dass "die Sünde" der Menschen ihr mangelndes Vertrauen in Gott ist. Jesus nennt das ihren Kleinglauben. Erst infolge dieses Kleinglaubens kommen Handlungen zustande, die wir Sünden nennen. Anderseits kann der Mensch seinen Glauben auch überschätzen. Darum hat Jesus niemals mit attraktiven Versprechungen geworben, sondern eher durch Warnungen geschreckt. In diesem Zusammenhang lese ich auch das Gleichnis vom Turmbau in Kapitel 14, Verse 28-30. Es warnt vor einem vollmundigen Glauben, der gefährlich ist, weil er die eigentlichen Ansprüche, die an den Glaubenden gestellt werden, übersieht.
Luke:
Wie hängt das mit meiner Frage zusammen?
Lukas:
Geduld! Vor dem Hintergrund, den ich eben darzustellen versuchte, könnte die Bitte umschrieben etwa lauten: Lass uns unsere Glaubenskraft nicht überschätzen und dadurch in Gefahr geraten, allen Glauben zu verlieren.
Sebastian:
Ich habe in Kapitel 17 die Stelle von der Heilung von zehn Aussätzigen gefunden, von denen nur einer zurückgekehrt ist, um zu danken. Es sind die Verse 11-19. Sie bringen diese Stelle als einziger. Was hat Sie dazu veranlasst?
Lukas:
Erlauben Sie die Gegenfrage: Stört Sie etwas an dieser Stelle?
Sebastian:
Offengestanden Ja! Es stört mich, dass Sie da plötzlich von der Heilung von zehn Männern berichten, während Sie doch sonst eher zurückhaltend mit Berichten von Wundern sind. Erzählt die Stelle einen historischen Vorgang oder ist sie ein Gleichnis?
Lukas:
Lassen wir diese zweite Frage nochmal offen. Ich hatte die Geschichte in meinen Notizen, die ich mir in Jerusalem gemacht hatte. Vielleicht hätte ich sie nicht verwertet, wenn ich damals sofort an die Abfassung meines Buches gegangen wäre. Aber meine Gemeindeerfahrungen ließen mich die Dinge anders sehen.
Sebastian:
Wieso?
Lukas:
Ein Wort, das ich bei Ihnen immer wieder höre, ist: Hauptsache gesund! Auch in Rom hielt man Gesundheit für einen hohen Wert. Aber die wenigsten leiteten davon eine Dankbarkeit für ihr Gesundsein ab. Mit dieser Erfahrung las ich nun die Notiz wieder und da waren die neun Geheilten, die ihre Krankheit schon vergessen hatten, ehe der Amtsarzt sie gesundgeschrieben hatte.
Sebastian:
Also doch ein Gleichnis und nicht historisch?
Lukas:
Wer will das so genau sagen. In Jesu Gegenwart wurde manche Historie zum Gleichnis. Denken Sie mal an den "Verlorenen Sohn" oder "Barmherzigen Samariter". Mir scheint es wichtiger uns selbst anzuschauen. Wie halten wir es denn mit der Dankbarkeit? Dabei wissen wir ganz genau, dass nicht nur unsere Gesundheit, sondern unser Leben überhaupt ein Geschenk des Herrn ist.
Dominik:
Ja, aber wir können doch nicht immerzu in lauter Dankbarkeit auf den Knien liegen!
Lukas:
Das verlangt Gott auch nicht von uns. Aber er erwartet, dass wir die Möglichkeiten, die er uns durch das Leben und die Gesundheit schenkt, ausschöpfen, damit die Bitte "Dein Reich komme!" kein Lippengebet bleibt. So stelle ich mir meinen Dank vor.
Susanne:
Ich habe mir die Geschichte der beiden Männer angestrichen, die zu gleicher Zeit im Tempel beten. Hier im Kapitel 18, Verse 10-14. Das wäre ja eine leicht zu verstehende Sache, wenn da nicht Ihre Theorie von Jesus, dem Freund der Armen, wäre. Ich stelle mir einen Zöllner als einen reichen Halsabschneider vor. Vom Pharisäer wird aber nicht ausdrücklich gesagt, er sei reich. Also kann ich annehmen, er sei von den beiden der weniger begüterte gewesen. Wie passt das zu Ihrem "Freund der Armen"?
Lukas:
Was das Vermögen der beiden angeht, so haben Sie wohl recht. Der Zöllner war bestimmt reicher als der andere. Dennoch wurde er begnadigt und der andere nicht. Jesus begründet das Urteil mit der Feststellung: Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden. So hat er sich auch an anderer Stelle geäußert. Lesen Sie dazu auch Kapitel 14, Verse 7-11!
Susanne:
Das ist der Rat an die Gäste bei einem Gastmahl, sich nicht auf die besten Plätze zu setzen, damit sie sich nicht selbst in Verlegenheit bringen, wenn sie Vornehmeren Platz machen müssen. Nicht wahr?
Lukas:
Richtig! Doch zurück zu den Beiden im Tempel und zur Armut: Der Pharisäer spricht mit Gott wie mit einem gleichrangigen Geschäftspartner. Er hält ihm seine vollen Hände entgegen. Voll von Verdiensten und guten Taten. Der reiche Zöllner dagegen hat erkannt, dass weder sein Geld noch eventuelle gute Werke ihn retten können, sondern nur die Gnade Gottes. Und um die allein bittet er. Der Reichere ist hier der vor Gott ärmere Mensch. Denn er weiß, dass weder sein Geld, noch seine Macht ihm Glück in dieser oder jener Welt verschaffen können. Darum vertraut er einzig auf Gott.
Stephanie:
Jesus hätte dieses Gleichnis doch auch mit zwei Pharisäern als Beter im Tempel erzählen können.
Lukas:
Aber er stellt dem allgemein geachteten Pharisäer und den allgemein verachteten Zöllner gegenüber. Das ist kein Zufall, sondern eine Parteinahme für diejenigen, die von allen gemieden wurden. Ich habe ja heute Morgen schon gesagt, dass ich Jesus als Freund der Armen und Ausgestoßenen darstellen wollte.
Gudrun:
Die Geschichte vom reichen Prasser und dem armen Lazarus fand ich im Kapitel 16, die Verse 19-31. An der stört mich schon lange dieses ganze barocke Drum und Dran wie z.B. "Abrahams Schoß" und "Höllenfeuer". Ob das nicht so eine Stelle ist, von der bestimmte Prediger die Qualen der Hölle ableiten, welche die Vorstellung eines barmherzigen Gottes so schwierig erscheinen lassen?
Lukas:
Sie haben recht. Die Stelle wirft Probleme auf. Eigentlich habe ich nie gemeint, sie sei wortwörtlich so von Jesus erzählt worden. Es ist nicht recht sein Stil. Jesus konnte allerdings wohl auch sehr volkstümlich sein. Und das ist die Stelle. Es soll uns aber hier nicht interessieren, ob wir den Originalton hören oder nicht. Es ist Jesu Thema reich und arm zu konfrontieren. Hier das fette Lachen der im Luxus Schwelgenden, dort das Jammern des armseligen Bettlers, der nicht einmal die Hunde von sich fernhalten kann.
Wolfgang:
Wo befinden wir uns in diesem Bild?
Lukas:
Jesus steht neben dem armen Lazarus. Das ist sicher. Die Welt ist nicht in Ordnung, solange es dieses Gegenüber von Arm und Reich gibt. Sie ist vielmehr im Chaos krassester Ungerechtigkeit.
Wolfgang:
Ich vermute, dass hinter diesem Gleichnis auch noch besondere Gemeindeerfahrungen von Ihnen stehen.
Lukas:
Ganz recht! Sie wissen, dass ich mein Buch für christliche Gemeinden geschrieben habe. Leider haben meine Erfahrungen in solchen Gemeinden auch gezeigt, dass der Sachverhalt, den Jesus beschreibt, in einigen von ihnen zu finden war. Auch Paulus musste schon früh gegen solche Missstände in Korinth einschreiten.
Friederike:
Und wie ist es heute? Dank einer guten öffentlichen Wohlfahrt liegt kein Lazarus vor unserer Haustür.
Lukas:
Vielleicht können Sie der Not nicht so unmittelbar ins Auge sehen wie der Reiche es gekonnt hätte. Aber das Chaos ist global gesehen das gleiche. Sie wissen es aus den Medien: Es gibt ungezählte Hungernde, Flüchtlinge, Ausgestoßene, Verfolgte, Unterdrückte, Ausgebeutete, nicht nur irgendwo auf der Welt, sondern auch bei Ihnen. Im Tode stellt Gott seine Ordnung wieder her! Auch heute!
Friederike:
Aber Sie können doch nicht im Ernst behaupten, Gott würde den Reichen für alle Ewigkeit in der Hölle lassen! Wo bleibt da die Barmherzigkeit?
Lukas:
Da muss ich aber noch einmal Wolfgangs Frage wiederholen, wo denn Ihr Ort sei. Beim Reichen oder bei Lazarus? Unsere Geschichte beschäftigt sich mit der Gerechtigkeit Gottes. Wir sollten sie ernst nehmen! Schließlich haben ja die Menschen selbst den "unüberbrückbaren Abgrund" aufgerissen.
Marita:
In dem Gleichnis steckt doch aber noch etwas! Warum darf Lazarus die Brüder des reichen Prassers nicht warnen?
Lukas:
In den Gemeinden, in denen mein Buch gelesen wurde, wusste man das genau. Es waren Gemeinden in heidnischer Welt. Diese war weitgehend bestimmt durch Genusssucht und brutale Rücksichtslosigkeit. Die Christen verkündigten Jesus den Auferstandenen. Aber wer von den Reichen glaubte ihnen? Nicht einmal dem auferstandenen Jesus! Geschweige denn einem wieder erschienen Bettler.
Martin:
So drückt der Stil des Gleichnisses das Gewicht aus, das Jesus selbst der Ungerechtigkeit von Reichtum einerseits und bitterster Armut andererseits gab?
Lukas:
Ich sah keinen Grund, den Ernst der Mahnung durch den Gebrauch weniger Anstoß erregender Wendungen und Bilder abzumildern. Stoßen Sie sich also bitte auch nicht an dieser "barocken" Form. Ich glaube, es war richtig, sie so in mein Buch aufzunehmen. Es ist kein Wort zu viel.
Andreas:
Auch keines zu wenig? Der Reiche hat keinen Namen! Sollte das bedeuten, dass er vor Gott ein Niemand ist. Lazarus aber ein Mensch?
Lukas:
Ja, das ist einer von den feinen Pinselstrichen, die in Jesu Gleichnissen zu finden sind.
Christian:
Mir ist die Erzählung von der "Verklärung Jesu" aufgefallen. Sie steht im Kapitel 9 in den Versen 28-36. Ich kann mir den Vorgang und den Sinn der Stelle noch nicht so richtig vorstellen. Was sagen Sie dazu?
Lukas:
Der Zugang zu dieser Stelle ist für den heutigen rational denkenden Menschen nicht ganz so einfach. Vielleicht ist er leichter, wenn Sie auch noch die Verse vorher lesen. Dort kündigt Jesus in sehr eindrucksvoller Weise sein Leiden und auch das Leiden seiner Jünger an. Einige Tage später nimmt er dann die sensibelsten unter ihnen, Petrus, Jakobus und Johannes, mit auf den Berg.
Daniel:
Und dort wurde Jesus verklärt! Was heißt denn das?
Lukas:
Dort wurde den Jüngern plötzlich klar, dass Jesus der von den Propheten verheißene Messias ist. In der Erzählung wird das aber nicht in dürren theologischen Worten geschildert, sondern wie eine Vision. Vielleicht war es eine Vision. Aber das mag auch nur die Form der Erzählung sein. Jesus bekommt nämlich darin Kennzeichen, die ihn als Messias ausweisen: Moses und Elias sollen, nach dem Volksglauben, unmittelbar vor der Ankunft des Messias wieder auf der Erde erscheinen. Sie erinnern sich, dass Johannes der Täufer auch als Elias angesprochen wurde. In der Vision sind sie die Kennzeichen, die Jesus als Messias ausweisen.
Alena:
"Dort wurde ihnen plötzlich klar"! Dazu hätte es doch aber nicht einer Verklärung bedurft. Sie sind doch die ganze Zeit mit ihm im Lande herumgezogen.
Lukas:
Es soll Männer geben, die schon ein halbes Leben mit ihrer Frau verheiratet sind und dann erst merken, dass sie diese Frau lieben. Im Ernst: Einige von Ihnen haben in ihrem Leben sicher schon die Erfahrung gemacht, dass ihnen zu einer bestimmten Stunde plötzlich klar geworden ist, dass sie einen Menschen, den sie schon länger kennen, liebten, ohne dass sie hätten sagen können, warum gerade jetzt.
Alena:
Sie meinen, so wäre es den Dreien gegangen?
Lukas:
Richtig! Sie wussten plötzlich: Jesus ist der "Herr". Aber sie konnten dieses Wissen nur durch die Kennzeichen Moses und Elias ausdrücken. Wie etwa ein Maler, der Petrus oder Paulus darstellen will, seinen Gestalten Schlüssel und Schwert als Kennzeichen gibt.
Matthias:
Man könnte meinen, Sie seien wirklich Maler gewesen, wie die Legende behauptet.
Lukas:
Lassen wir uns nicht von unserem Thema abbringen! Der Vergleich mit einem Bild scheint mir durchaus berechtigt. Die Wolke, in der die Gestalten verschwinden, und aus der die Stimme ertönt, erinnert mich an die Mandorla auf manchen Bildern. Sie haben bestimmt schon eine gesehen: Es ist ein ovaler, farbiger Rahmen um eine bestimmte Gestalt auf einem Bild. Der soll andeuten, dass das, was innerhalb dieser Mandorla dargestellt ist, von den anderen Figuren des Bildes nicht wahrgenommen werden kann.
Matthias:
Sie meinen, dieselbe Aufgabe habe in unserer Erzählung die Wolke?
Lukas:
Ja, sie weist auf etwas hin, was von unseren leiblichen Sinnen nicht wahrgenommen, von unserer Logik nicht eingesehen werden kann. Eine plötzliche Erleuchtung im Glauben ist beschreibbar wie eine plötzlich erkannte Liebe.
Claude:
Haben denn die beiden Personen, Moses und Elias, noch eine besondere Bedeutung für Sie oder haben Sie nur das übernommen, was Markus schon erzählt hat?
Lukas:
Wenn Sie meine Erzählung mit der von Markus vergleichen, werden sie merken, dass ich ihr eine Erweiterung gegeben habe, die auf meinen eigenen Weg zu Jesus, dem Christus, hindeutet. Es ist der Vers 32. Auch meine Augen waren lange Zeit "vom Schlaf" gehalten, ehe ich Jesus als den Herrn erkannt habe. Vielleicht kommen wir noch auf die Erzählung von den Emmausjüngern zu sprechen. Dann....
Michael:
Ja, danach wollte ich gerade fragen!
Lukas:
Na gut, dann sprechen wir also über Kapitel 24. die Verse 13-35. Welche Frage hatten Sie dazu?
Michael:
Ich habe festgestellt, dass Markus nur einen kleinen Satz von zwei Jüngern bringt, denen Jesus erschienen ist, als sie über Land wanderten. Wie kommen Sie an Ihre so ausführliche Erzählung?
Lukas:
Ich hatte in meinen Aufzeichnungen mehrere Geschichten von Jesus nach seiner Auferweckung. Als ich sie später bei der Abfassung meines Buches wieder las, packte mich diese ganz besonders. Mehrere Tage dachte ich nur an sie. Kurzum: Der Weg nach Emmaus ist mein Weg zu unserem Herrn, den wir erkennen am Brotbrechen.
Christoph:
Warum gerade am Brotbrechen?
Lukas:
So erkannten sich ja die Christen untereinander. So erkannte ich Christus, unseren Herrn. Ich "kannte" ihn ja schon länger, wusste eine Menge von ihm, vielleicht mehr als viele andere. Aber "erkannt" habe ich ihn erst in der Gemeinde am Brotbrechen. Das war unser Zeichen, so wie für die Apostel auf dem Berge Moses und Elias Zeichen waren. Jesus war das Brot, das für uns am Kreuz gebrochen wurde. Das Korn, das Frucht trägt, wenn es gestorben ist. Das Lamm, das geschlachtet werden, der Gottesknecht, der leiden musste.
Michael:
Sie sehen also Parallelen zwischen den beiden Stellen?
Lukas:
Nicht eigentlich Parallelen. Aber vergleichen kann man schon. Auf dem Berg wurde den drei Jüngern klar, dass Jesus nicht ein politisches Reich wiedererrichten wollte, wie das Volk es erwartete, das den Messias als neuen König David sah. Jesus stellt sich vielmehr in die Reihe der Propheten. Auf dem Weg nach Emmaus berichtigt er erneut die Anschauung der beiden Jünger und erweitert zugleich die Prophetenlinie bis zu Jesaja, als dessen Gottesknecht er sich selbst zu erkennen gibt.
Marita:
Sie meinen also, Jesus sieht sich nicht als neuer David, als Wiederhersteller politischen Königtums, sondern reiht sich ein in die Linie der großen geistigen Führer seines Volkes, ja der Menschheit. Moses, der als erster seinen Gott als Jahwe erfuhr, den Gott, der immer bei uns ist. Elias, der diesen Gott so leidenschaftlich gegen alle Überfremdungen verteidigte. Jesaja, der den Messias als das Opferlamm, den Gottesknecht sah. Ist das so?
Lukas:
Ja, so etwa sehe ich das.
Marius:
Aber der Engel hat doch Maria verkündet, Gott werde ihm den Thron Davids geben. Das berichten Sie selbst.
Lukas:
Das ist so. Und Sie können noch hinzufügen, dass Jesus auch später noch mit David oder dem politisch-religiösen Titel "König" in Verbindung gebracht wird. Man stellte sich den Messias eben als Sohn Davids vor. Jesus widerlegt alle diese Illusionen geradezu grotesk: Seine Krone ist aus Dornen, sein Thron ist das Kreuz, sein Königsmantel schließlich ist seine Nacktheit. Die Verwirrung selbst seiner besten Freunde hielt geraume Zeit an.
Christina:
Und im Volk tauchte immer wieder ein neuer Messias auf.
Lukas:
Vor denen hatte Jesus ja auch schon gewarnt.

Lukas schwieg und zunächst meldete sich niemand zu einer Frage. Nach einer Weile, die Lukas geduldig abwartete, hob sich doch eine Hand.

Andreas:
Ich habe eben noch einmal zurückgeblättert zum Bericht über die Taufe Jesu. Der steht im Kapitel 3. Dort wird Jesus schon einmal, in Vers 22, als "Mein geliebter Sohn" angesprochen. Das ist doch auch schon eine Offenbarung der geheimnisvollen Vater-Sohn-Beziehung. Stehen die beiden Berichte, Taufe und Verklärung, vielleicht in einem Zusammenhang?
Lukas:
Ja. Und Sie können noch einen dritten dazu rechnen: den Himmelfahrtsbericht. Da finden Sie bei mir allerdings zwei. Nehmen Sie den aus dem ersten Kapitel meines anderen Buches, der Apostelgeschichte. Dort finden Sie zwei Engel, Gottesboten also, die Zeugnis ablegen von der göttlichen Macht Jesu. Nun vergleichen Sie bitte die drei Stellen: Die erste Offenbarung gab Jesus allein die Gewissheit von seiner Beziehung zu Jahwe. Bei der Verklärung wurde sie drei ausgewählten Jüngern zuteil. Bei der Himmelfahrt erfahren es alle Jünger. So entfaltet sich die Offenbarung.
Thomas:
Haben Sie das mit Absicht so angelegt?
Lukas:
Das brauchte ich nicht, weil ich die beiden ersten Berichte schon bei Markus vorfand. Matthäus und ich haben an den Schluss unserer Evangelien je einen kurzen Bericht über die Aufnahme in den Himmel angefügt. Insofern stimmen wir überein. Ich habe in meinem zweiten Buch die Aufnahme noch einmal dargestellt und die Entfaltung der Offenbarung noch deutlicher gemacht. Bei mir steht sie damit auch im Einklang mit der großartigen Entfaltung, die ich miterlebt und in eben diesem zweiten Buch beschrieben habe.
Gudrun:
Wir haben vorhin über eine "barocke" Stelle gesprochen. Ich habe in Kapitel 8, in den Versen 26-39 noch eine gefunden, mit der ich nicht fertig werde.
Lukas:
Das ist die Stelle mit den Dämonen, die in die Schweine fahren. Ihre Schwierigkeiten kann ich mir gut vorstellen.
Gudrun:
Warum haben Sie die überhaupt gebracht? Sie passt nicht recht zu Ihnen.
Lukas:
Bedenken Sie, ich habe auch diese Geschichte von Zeugen aufgenommen, und ich wollte sie nicht gerne fallen lassen, weil auch Markus und Matthäus sie bringen. Sie hatte also Gewicht. Natürlich habe ich sie nicht kritiklos übernommen. Als ich über sie nachdachte, wurde mir bald klar, dass hinter dieser Erzählung verborgen eine Begebenheit steckt, die vielleicht so skizziert werden könnte: Jesus ist mit dem Boot auf die andere Seite des See von Genezareth gefahren. Dort liegt das Land von Gerasa, einer eleganten Stadt. Zurzeit Jesu hatte sie einen ziemlich schlechten Ruf. Offenbar herrschte dort eine freigeistige Atmosphäre, die sich in jeder Beziehung auswirkte. Die jüdische Gemeinde scheint da kräftig mitgemacht zu haben, so dass man von sittlicher Verwahrlosung sprechen kann. Sie wurde hin und her gerissen von Habgier, Feindschaft, Neid, Gewalttaten, Unterdrückung, Orgien aller Art und wie man die bösen Geister immer nennen mag. Ihre Zahl war "Legion", d.h. also "riesig groß". Der Zustand der Gemeinde ist mit dem Bild des Besessenen, der von Dämonen geschüttelt wird, treffend beschrieben. Wie Jesus mit der Gemeinde fertig wird, übergeht die Erzählung. Er ist mit ihr fertig geworden, hat sie von ihren Dämonen befreit. Aber er hat ihr nicht gestattet, mit ihm zu ziehen. Sie sollte vielmehr in ihrer Umwelt den Glauben an Gott bezeugen. Die Dämonen hielten sich weiterhin in der heidnischen Gerasener Bevölkerung, den "Schweinen", wo sie so wirkten, wie sie es immer tun: zur Vernichtung, zum Tode.
Dominik:
Das ist aber eine phantastische Darstellung. Das klingt ja wie der Entwurf zu einem Roman.
Lukas:
Sie haben bestimmt mehr Phantasie als ich. Versuchen Sie einmal, sich den "Roman" noch in Einzelheiten auszumalen. Sie werden staunen! Nicht zuletzt über die knappe Darstellung, mit der die Erzähler diese Geschichte ohne Verlust an Wesentlichem weitergegeben haben.
Michael:
Dass der Geheilte, sprich die jüdische Gemeinde von Gerasa, mit Jesus nicht mitziehen darf, hat doch bestimmt auch eine Bedeutung.
Lukas:
Ich jedenfalls habe unseren Neubekehrten immer geraten nicht aus ihrer Umgebung wegzuziehen, sondern in ihr als Christen, als "Sauerteig" zu leben.
Sebastian:
Sie haben vorhin schon auf die Vielseitigkeit Jesu hingewiesen. Ich habe das Kapitel 12 eben ganz gelesen. Es ist ja voll von solchen Gelegenheitssprüchen, die in veränderter Form Gleiches oder Ähnliches aussagen. Aber da steht noch das Gleichnis vom reichen Bauer.
Lukas:
Aber sie wollen doch nicht sagen, das Gleichnis passe da nicht hin?
Sebastian:
Na ja. So richtig verstehe ich es auch nicht.
Lukas:
Sie müssen immer Verschiedenes gleichzeitig sehen: Jesus verlangt Glauben, das heißt Einsatz für das Reich Gottes, und er weist daraufhin, dass dieser Glaube nicht billig zu haben ist.
Dominik:
Heute Morgen haben Sie etwas darüber gesagt, was im Verständnis Jesu der Glaube ist. Wenn ich mich richtig erinnere, so war es das entschiedene Streben nach dem Reiche Gottes.
Lukas:
So ähnlich habe ich es wohl gesagt. Gleichzeitig wirbt Jesus immer wieder für das Sichverlassen auf unseren Gott, der uns nie im Stich lässt. Immer wieder warnt er vor der nur trügerischen Sicherheit des Reichtums.
Alexander:
Das Gleichnis vom reichen Bauer ist drastisches Beispiel dafür?
Lukas:
Beachten Sie bitte auch die Verse 13-15. Dort steht der Anlass zu der Gleichniserzählung. Jesus sollte in einer Erbsache entscheiden.
Martin:
Warum hat er sich denn darauf nicht eingelassen? Er hätte doch eine gerechte Erbteilung vornehmen können.
Lukas:
Jesus laboriert nicht an den Symptomen herum, sondern er verlangt radikalen Verzicht auf jedwede Habgier. Mit dem Gleichnis von dem reichen Bauern und seiner guten Ernte spricht er nicht ins Leere, sondern unmittelbar den Mann an, der ihn wegen der Erbteilung um einen Schiedsspruch gebeten hatte: Wenn du nicht so gierig wärest und blind dafür, dass du nichts mitnehmen kannst, wenn dir dein Leben genommen wird, dann wäre es überhaupt nicht zu einem Streit gekommen.
Sebastian:
Jetzt merke ich: In den Versen nachher spricht Jesus auch davon, dass man sich keine Sorgen machen soll um den morgigen Tag. Gott wird für seine Kinder sorgen.
Lukas:
Jesus verlangt Sorglosigkeit. Das bedeutet aber nicht etwa Faulheit im Denken und Handeln. Er meint: Strebt mit allen euren Kräften das Reich Gottes an. Lasst Euch in diesem Streben nicht irre machen von Gedanken, die etwa Nahrung und Kleidung betreffen. Die gehören für Jesus in eine andere Ebene, gewissermaßen in die kreatürliche Welt.
Christiane:
Dann heißt das also. Ich darf sehr wohl für meine Selbsterhaltung arbeiten und sorgen. Aber wenn diese Arbeit und Sorge mich hindert, nach dem Reich Gottes zu streben, dann bin ich falsch.
Lukas:
Da möchte ich noch auf den Vers 32 hinweisen: "Fürchte Dich nicht Du kleine Herde!" usw. Bedenken Sie immer, dass mein Buch für die Gemeinden geschrieben ist, die in einem manchmal bitteren Abwehrkampf gegen oft scheinbar übermächtige Gegner standen. Fürchtet Euch nicht, will Jesus auch uns sagen. Strebt nach dem Reich Gottes, alles andere ergibt sich.
Alexander:
Sie haben heute Morgen schon den Kaiser Nero erwähnt, Aber die eigentlichen großen und systematischen Verfolgungen kamen doch erst später, als Ihr Evangelium längst geschrieben war. Wer waren zu Ihrer Zeit die übermächtigen Gegner?
Lukas:
Sie haben Recht. Noch war nicht die Zeit der großen, blutigen Verfolgungen. Die Gefahr für das junge Christentum lag in der herrschenden Kultur, in die eingebettet auch die zahlreichen religiösen Bewegungen lebten. In meinem zweiten Buch habe ich an mehreren Stellen von Streitigkeiten berichtet, in die Paulus verwickelt war. Seine Gegner waren zunächst die Synagogen, dann aber auch z.B. in Ephesus die Silberschmiede, die von der Anfertigung von silbernen Statuetten der Großen Mutter, der Göttin Artemis, lebten und daher deren Kult verteidigten, oder in Athen die Philosophieprofessoren, für die Jesu Auferstehung keine Diskussion wert war. Sie können sich den kulturellen Druck der hellenistischen Philosophien, auf die kleinen, jungen Gemeinden, denen vielfach einfach noch die Sprache zu ernsten Debatten mit den Gegnern fehlte, gar nicht erdrückend genug vorstellen. Das Wort Jesu, das der kleinen Herde Mut machen sollte, war keineswegs überflüssig. Ist es auch heute nicht.

Hier schien dem Seminarleiter Zeit für eine Unterbrechung zu sein. "Es tut mir leid", sagte er, "aber die Hausordnung ruft uns jetzt zum Abendbrot." Wir waren überrascht, dass der Nachmittag schon hinter uns liegen sollte. Aber es war so. Eine Hälfte des Seminares war vorbei. Jeder nahm sich vor, das dritte Evangelium nochmals zu lesen, um für morgen gerüstet zu sein. Wer allerdings gehofft hatte, es könnte sich Gelegenheit bieten zu einer gemütlichen Unterhaltung mit Herrn Lukas, sah sich enttäuscht. Herr Lukas blieb unsichtbar.

3

Am Morgen des zweiten Tages waren alle pünktlich zur Stelle. Es hatte gestern Abend noch manche Diskussion gegeben. Viele Seiten Lukasevangelium waren durchstöbert worden. Manche uns noch neue Geschichte lernten wir kennen. Der eine und andere hatte sich seine eigenen Gedanken gemacht und hoffte sie heute prüfen zu können. Herr Lukas kam wieder zusammen mit dem Seminarleiter. Dieser nahm zuerst das Wort zu einem Morgengruß. Dann meinte er, wir könnten gleich weitermachen. "Ich denke, wir überlassen es, wie gestern, Ihnen, durch Ihre Fragen die Gespräche zu steuern, auch wenn dadurch vielleicht ein "Roter Faden" nicht erkennbar wird. Fairerweise soll aber auch Herr Lukas, wie bisher, die Freiheit haben, Dinge anzusprechen, die durch Ihre Fragen nicht gefordert werden. Bitte, wer will heute als erster? Oder hatten Sie noch ein Anliegen, Herr Lukas?" Lukas schüttelte den Kopf und gleich meldete sich Marita zu der ersten Frage.

Marita:
Mir hat es gut gefallen, was Sie gestern zur Jungfräulichkeit Mariens gesagt haben. Ich finde es wirklich kleinkariert, was dazu von manchen Theologen und kirchlichen Autoritäten gesagt wird. Keiner hat dazu doch mehr als seine vorgefasste Meinung, die er durch gewagteste Folgerungen aus unbewiesenen und unbeweisbaren angeblich wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet.
Lukas:
Danke für Ihre Zustimmung. Aber sicher haben Sie doch noch eine Frage oder?
Marita:
In der Tat. Ich habe noch einmal Ihre "Weihnachtsgeschichte" gelesen. In den Versen 11 und 12 erzählen Sie wie der Engel den Hirten die Ankunft des Messias verkündet. Da formulieren Sie: "Und das soll Euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind, finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt." Wieso ist ein neugeborenes Kind ein Zeichen für den Messias? Diese Frage kostete mich einige Nachtruhe. Aber ich kam dann auf die Idee, dass jedes Neugeborene ein neuer Anfang ist. Jesus ist uns durch seinen Tod und seine Auferweckung vorangegangen. Er hat uns dadurch diesen Weg als Hoffnung für uns, als unseren Weg, verkündet. Warum soll das nicht auch auf sein ganzes Leben und also auch auf seine Geburt zutreffen.
Lukas:
Einverstanden! Was folgern Sie daraus?
Marita:
Wenn das so ist, dann ist jede Geburt eines Menschen ein Neuanfang, auf den das Zeichen der Jungfräulichkeit zutrifft. Bei dieser Idee unterstützen mich die Sätze, die Ihr Freund Paulus im Römerbrief Kapitel 6, Verse 1-11, geschrieben hat. Mir scheint, Jesus hat durch seine Einzigartigkeit auch unsere Einzigartigkeit gerettet. Sind wir doch als seine Brüder und Schwestern Söhne und Töchter des Vaters. Mit dieser These stimmt überein, dass wir von jedem Menschen seine Unverwechselbarkeit annehmen. Jesus zeigt sich uns also als der Mensch, wie Gott ihn geschaffen hat. Jeder Mensch ist ihm nach Gottes Willen ähnlich. Von der Geburt bis zu seiner Aufnahme in den Himmel. Was halten Sie von diesen Nachtgedanken?
Lukas:
Man sollte diesen Gedanken nachgehen. Vielleicht könnten sie ein Ausweg aus dem Teufelskreis immer neuer Spitzfindigkeiten über die Jungfräulichkeit Mariens sein.
Michael:
Bei Maritas These gewinnt der Satz "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen vor aller Zeit" auch für uns alle Bedeutung: Wir dürfen glauben, dass jeder einzelne Mensch etwas ganz Einzigartiges ist, wie wir das von Jesus durch unseren Glauben wissen.
Lukas:
Ich möchte Sie alle ermutigen, weiter zu denken und über die Ergebnisse auch zu sprechen. Sie werden ja nicht gleich den Anspruch erheben, für die ganze Kirche reden zu müssen oder eine "neue Theologie" zu verkünden.
Thomas:
Ich bin über Kapitel 7, Verse 11-17 nicht hinweggekommen.
Lukas:
Und was hat Sie daran gestört?
Thomas:
"Gestört" ist nicht der richtige Ausdruck. Aber ich habe mir die Situation vorgestellt: Da wird ein Toter wieder lebendig. Und was tun die Leute? Sie fürchten sich.
Lukas:
Das kann man aber doch verstehen!
Thomas:
Ja sicher, aber man hätte doch erwartet, dass sie Jesus in das Dorf eingeladen, oder gar versucht hätten, ihn bei sich zu behalten. Einen Mann, der Tote wieder lebendig macht! Aber nichts davon.
Lukas:
"Die Kunde von dem Vorfall verbreitet sich in der ganzen Gegend."
Thomas:
Das erscheint mir als Reaktion doch sehr dürftig. Fast möchte ich sagen, eine gewaltige Tat ohne Folgen.
Lukas:
Jesus selbst hat bei anderen Gelegenheiten auch eher abgewiegelt.
Thomas:
Na, ich weiß nicht, ob man das damit abtun kann.
Angelika:
Könnte das merkwürdige Fehlen an Weiterungen mit der besonderen Situation zusammenhängen?
Lukas:
Wie meinen Sie das?
Angelika:
Nun, Sie berichten, der Tote sei ein junger Mann, der einzige Sohn einer Witwe. Wenn ich richtig orientiert bin, so war ein Hauptsinn eines jüdischen Frauenlebens die Verwirklichung des Segens über Abraham: Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie die Sterne am Himmel. Wenn nun eine Frau Ihren Mann und dann auch noch ihren einzigen Sohn als jungen, das meint wohl unverheirateten Mann verliert, dann ist sie von diesem Segen ausgeschlossen. Ihr Leben ist sinnlos.
Lukas:
Diese Darstellung scheint mir richtig. Aber was schließen Sie daraus?
Angelika:
Zunächst ist das Mitleid Jesu und auch der Mitbürger verständlich. Es ist aber auch verständlich, dass die Mitbürger diese Wohltat an der Witwe aus dem genannten Grunde als einzigartig ansahen und nicht daran dachten, dass nun jeder Tote von Jesus ins Leben zurückgerufen werden sollte.
Lukas:
Sie haben eine hohe Meinung von der Vernunft der Menschen in Naim. Vielleicht haben Sie recht. Die von mir festgehaltene Überlieferung gibt keine andere Reaktion als Staunen und Gotteslob, welch letzteres schon verwunderlich genug ist. Aber haben Sie sich einmal gefragt, warum ich die Geschichte Übernommen habe.
Dominik:
Sie hat doch Ihre Bedeutung in sich. Sie zeigt die "Herrlichkeit" Jesu. Einer Ihrer Konzeptpunkte.
Lukas:
Stimmt! Aber Sie wissen doch auch, dass ich bei Wundern immer zurückhaltend bin.
Dominik:
Warum das?
Lukas:
Jesus selbst wollte nicht durch Wunder überzeugen. Er wollte den Glauben. Aus dem gleichen Grunde bin ich vorsichtig. Die Folgerung, Jesus hat einen Toten aufgeweckt, also ist er Gottes Sohn, ist nicht gut. Mir ist bedeutend lieber, wenn Jesu Mitleid gerühmt wird. Denn das heißt ja: Gott hat Mitleid mit uns. Das ist Gute Botschaft!
Dominik:
Dann sind Sie uns noch eine Antwort schuldig: Warum erzählen Sie die Geschichte in ihrem Evangelium? Übrigens als einziger Evangelist!
Lukas:
Ich wollte diese Geschichte auch als ein Gleichnis aufgefasst sehen.
Stephanie:
Ein Gleichnis? Wofür?
Lukas:
Sowohl Theophilus, dem ich das Buch gewidmet habe, wie mein Lehrer Paulus, wie auch ich haben unsere Erfahrungen machen müssen mit kranken, ja toten Gemeinden. Ihnen wollte ich Hoffnung machen, dass Jesus retten kann. Wenn um die tote Gemeinde noch getrauert wird, dann kann sie wieder zum Leben kommen.
Gudrun:
Ein Gleichnis! Lässt sich das nicht auch noch anders verstehen?
Lukas:
Ja vielleicht. Wie sehen Sie es denn?
Gudrun:
Ich meine eine gute Gemeinde leidet mit jedem seiner Glieder. Hier mit der Frau, deren Unglück in seiner ganzen Größe miterlebt wird. Ihr Lehrer Paulus sagt doch: "Wenn ein Glied leidet, leiden alle." In einer so lebendigen Gemeinde können dann Wunder geschehen. Tote können lebendig bleiben.
Lukas:
Sie meinen, die Gemeinde von Naim könne als Vorbild für jede Gemeinde gelten.
Gudrun:
In dieser Hinsicht: ja! Dazu passt dann auch sehr gut, dass nicht alle für ihre Toten Erweckung einfordern, sondern dass sie für ihr Erlebnis Gott loben und danken und, das scheint mir besonders wichtig, die Kunde missionarisch weitergeben. Eine rechte Gemeinde kann nicht anders, als von ihrem Gotteserlebnis überall zu erzählen.
Lukas:
Thomas, hat der Verlauf unseres Gespräches Ihnen Ihre Bedenken genommen?
Thomas:
Im Augenblick ja. Vielleicht komme ich noch einmal darauf zurück.
Matthias:
Gestern hat einer gemeint, Sie seien tatsächlich Maler gewesen, wie die Legende erzählt. Aber mir scheint, Sie sind auf jeden Fall Dichter. Oder haben Sie die Hymnen im ersten Kapitel, Verse 46-55, nicht gedichtet?
Lukas:
Ja, wer will das so genau sagen? Aber lassen Sie mich versuchen, Ihnen weiterzugeben, was ich von Maria erfahren habe: Sie war, als ich sie kennen lernte, eine Greisin, die natürlich zu einem guten Teil in der Vergangenheit lebte. Als ich sie vorsichtig fragte, wie das denn nun gewesen sei, als der Engel ihr die Botschaft gebracht hatte, erzählte sie mir ganz eifrig von ihren Gefühlen. Ich kann das jetzt hier nur kurz andeuten. "Es dauerte eine geraume Zeit bis ich halbwegs begreifen konnte, was mit mir geschehen war. Als ich aber dann die Zeichen meiner Schwangerschaft erkannte, wusste ich nicht mehr aus noch ein mit meinen Gedanken. Ich konnte ja mit niemanden sprechen. Josef war nicht da. Es würde noch Monate dauern bis er wieder kam. Da fiel mir Elisabeth ein, meine Cousine. Auf dem Wege dorthin wurde ich immer froher. Lieder fielen mir ein, Verse aus den Propheten, aus der Thora. Eine ganz neue Welt würde heraufgeführt werden. Die Mächtigen würden vom Thron gestürzt, die Hungrigen gesättigt, die Armen würden glücklich sein, Trauer würde aufhören. Als mich dann Elisabeth begrüßte, sprudelte das alles aus mir heraus. Endlich konnte mich jemand verstehen." Die Begeisterung von damals konnte ich immer noch in ihren Augen lesen.
Matthias:
Die Begeisterung Marias hat sie dann beflügelt, das Magnifikat zu dichten?
Lukas:
Sagen Sie lieber, ich hätte ihre Worte in die Form gebracht, die sie verdienten. Wenn Sie Ihre Bibelausgabe nehmen, so werden sie am Rand neben jedem Vers einen Verweis auf eine Stelle im Alten Testament finden. Die ganze Dichtung ist also eine Aneinanderreihung von Bibelstellen. Die Psalmenzitate hat Maria gebraucht bei ihrer Erzählung. Einige andere Verse auch. Die Juden können ja sehr viel von ihren Schriften auswendig. So zusammen komponiert ergibt es aber eine Art theologisches Vorwort zu meinem Buch: Gott schafft durch Jesus die Welt neu.
Matthias:
Man merkt die Begeisterung noch. Der Vers: "Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter!" stammt bestimmt von Ihnen.
Anja:
Da geht mir aber noch etwas auf: Mir kommt es vor als reiche dieser Hymnus wie eine Pfahlwurzel tief hinein in die Geschichte Israels mit seinem Gott Jahwe. Die einzelnen Verse erscheinen mir wie die zarten Seiten wurzeln, die Kraft saugen aus dem Humus dieser Geschichte. Damit gibt das ganze Gedicht Zeugnis von dem verborgenen Gott in den vergangenen Jahrhunderten. Jahwe ist immer bei dir. Alle seine vielen, leisen Offenbarungen zusammengenommen ergeben schon das Programm des Gottesreiches, das Jesus verkündet.
Lukas:
Ja, manchmal kann ein Vergleich das, was man gern sagen will, bedeutend besser ausdrücken, als eine lange Erklärung.
Claude:
Nach Vers 56 ist Maria bis zur Zeit der Niederkunft Elisabeths bei ihr geblieben. Da aber schweigt der weitere Text von ihr. Wie mag das kommen?
Lukas:
Der Rest dieses Kapitels stammt aus Traditionen der Johannesjünger, die diese sich erzählten. Ich habe deren Überlieferungen mit in mein Buch genommen, damit sie nicht verloren gingen oder als eigene Johannesüberlieferungen zu den gestern erwähnten Turbulenzen beitrügen. Ich habe aber darauf geachtet, dass die beiden Überlieferungen im richtigen Verhältnis zueinander blieben. Johannes war der Vorläufer, Jesus ist der Herr.
Claude:
Das ist interessant, aber es trifft nicht meine Frage, wie es kommt, dass wir nichts mehr von Maria hören. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass Maria ihre Cousine vor deren Niederkunft verlassen hat. Auch über die Rückkehr nach Nazareth erfährt man nichts.
Lukas:
Ja, das stimmt, da ist eine Lücke. Ich bin selbst überzeugt, dass Maria bei Elisabeth geblieben ist. Von ihrem Rückweg nach Nazareth und auch von ihrer Auseinandersetzung mit Josef, die Matthäus erwähnt, hatte ich in meinen Notizen kein Wort.
Claude:
Schade. Es kommt mir ziemlich geheimnisvoll vor. Auch über die Jugendjahre ihres Kindes schweigt ja die Überlieferung fast vollständig.
Lukas:
Es gibt Überlieferungen, die diese Lücken teilweise schließen könnten. Aber ich stand ihnen sehr kritisch bis ablehnend gegenüber. Zumal sie zur Verdeutlichung meines Buchanliegens nichts beitragen konnten. Weiteres möchte ich dazu nicht gerne sagen. Wir müssten ja auch die Texte dieser Überlieferungen hier lesen können. Vielleicht einander mal.
Daniel:
Dann können wir jetzt wohl das Thema wechseln?
Lukas:
Ja, wenn sich niemand mehr zu dem bisherigen meldet.

Nach einer kleinen Pause:

Lukas:
Daniel hatten Sie eine neue Frage, die Sie bewegt?
Daniel:
Ja, hab ich! Gestern Abend habe ich noch lange über die "Wunderbare Brotvermehrung" nachgedacht. So wurde die Stelle Kapitel 9, Verse 12-17 von unseren Geistlichen und Religionslehrern immer genannt.
Lukas:
An Brotvermehrung habe ich eigentlich nicht gedacht. Der Gedanke könnte allerdings durch die 12 Körbe nahegelegt sein, die hinterher noch eingesammelt wurden.
Daniel:
Ja, ganz recht. So wurde immer geschlossen. Aber es kann doch auch ganz anders sein. Ja, es muss anders sein.
Lukas:
Warum muss es anders sein?
Daniel:
Sie haben gestern Morgen darauf hingewiesen, dass Jesus abgelehnt habe, aus Steinen Brot zu machen. Sie haben sogar gesagt, dass Sie die Versuchungsgeschichten für programmatisch hielten. Und nun diese Geschichte von einer geradezu gewaltigen Brotvermehrung. Da darf einem doch der Gedanke kommen, hier müsse etwas anderes geschehen sein.
Sebastian:
Ich könnte mir auch schon vorstellen, was!
Lukas:
Da bin ich gespannt!
Sebastian:
Ich sehe die Situation so: Jesus hat den ganzen Tag zu den Leuten gesprochen. Vom Reich Gottes natürlich. Sie hatten seine Gleichnisse gehört. Sie ahnten, dass dieses Reich Gottes etwas sein musste, in dem gegenseitige Achtung, Liebe, Hilfsbereitschaft und vieles andere Gute herrschen sollte. Sie wussten, so hatte noch niemand zu ihnen gesprochen. Aber der Schritt zur Verwirklichung, der fehlte noch. Den macht Ihnen Jesus nun vor: Um die Leute alle satt zu machen, hätte er alle, nein jeden einzelnen, auffordern können, seine Taschen umzudrehen, und alles mit allen zu teilen. Das tat er aber nicht, sondern er verteilte das bisschen, das für ihn selbst und seine Jünger notfalls ausgereicht hätte, an alle. Durch sein Beispiel löste er die Angstsperren bei allen. Für eine kurze Stunde wurde das Wunder des Reiches Gottes für alle sichtbar, denn Jesus lebt, was er sagt: Erst das Reich Gottes, alles andere kommt dazu.
Friederike:
Dann besteht auch keine Unstimmigkeit mehr zwischen der ersten Versuchung und der Speisung der Vielen.
Lukas:
Danke Daniel, Sebastian und Friederike! Bedenken Sie aber bitte alle, dass das Wunder bleibt. Auch dann, wenn wir uns Gedanken über den Ablauf des Ereignisses machen können. Dass die fünftausend Männer gegen ihre natürliche Angst, hungern zu müssen, eines Sinnes werden und ihr Brot mit dem Nachbarn teilen, ist ein Wunder.
Christoph:
Dann ist diese Erzählung ja wirklich eine Gute Botschaft vom Reiche Gottes, dass wir uns fragen müssen: Warum handeln wir eigentlich nicht immer so, dass jeder mit jedem teilt?
Lukas:
Jesus gibt die Antwort: Es liegt an Eurem Glauben! Sie erinnern sich, dass ich Ihnen das gestern Vormittag schon einmal gesagt habe.
Michael:
Unsere Stelle steht offenbar nicht nur mit der Versuchungsgeschichte im Zusammenhang, sondern auch mit dem letzten Abendmahl und mit dem Treffen in Emmaus.
Lukas:
Können Sie das etwas deutlicher machen?
Michael:
Wir wären schon glücklich, wenn es uns gelänge, unser Brot mit dem Nachbarn zuteilen, so wie das wohl bei der Speisung der Fünftausend nach Jesu Vorbild geschehen ist. Im Abendmahlssaal teilt sich Jesus aber selbst wie Brot, und in Emmaus erkennen die beiden Jünger Jesus genau am Brotteilen.
Lukas:
Und die Versuchungsgeschichte?
Michael:
Da ist von Teilen keine Rede. Da soll Brot einfach hergestellt werden. Ohne Mühe.
Lukas:
Gut, Michael! Der Mensch lebt nicht nur vom Brot. Diese Weisheit Jesu kannten die Caesaren in Rom nicht. Sie glaubten, sie könnten dem unzufriedenen Volk mit Brot, das sie aus Afrika heranschafften und gratis verteilten, den Mund stopfen. Im Reiche Gottes wird Brot nicht billig verteilt, es wird geteilt. Freiwillig und von allen.
Gudrun:
Ich erinnere mich, in mancher Predigt gehört zu haben, die Speisung der Vielen sei schon ein Hinweis auf die Kommunion gewesen.
Lukas:
Auch Johannes hat in seinem 6. Kapitel eine solche Beziehung hergestellt. Bei mir ist die Darstellung viel einfacher, und ich habe von mir aus keine Folgerungen gezogen. Aber Sie haben ja den Zusammenhang auch ohne Hilfestellung in meinem Text erkannt.
Claude:
Jesus teilt sein Brot mit den Vielen. Jesus teilt sich als Brot für alle. Jesus wird erkannt am Brotbrechen. Darüber werde ich noch eine Weile nachdenken müssen.
Stephanie:
Wir sprachen ja schon über die Naherwartung. im Kapitel 9, Vers 27 berichten Sie aber den Ausspruch: "Wahrhaftig ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie das Reich Gottes gesehen haben." Da kann man doch wirklich von Naherwartung sprechen.
Lukas:
Wenn Sie schon mal ein bisschen früher anfangen zu lesen, dann erfahren Sie, was Jesus von denen verlangt, die seine Jünger sein wollen. Einige von denen, denen er das erzählt, werden ihn verstanden haben und sind ihm nachgefolgt. Wer Jesus in solchem Ernst nachfolgt, ist im Reich Gottes. Viele Heilige, auch der heutigen Zeit, können davon Zeugnis ablegen.
Luke:
Dieser Satz hatte doch zur Zeit der Abfassung Ihres Buches nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung wie für die, an die Jesus ihn seinerzeit gerichtet hatte. Darum werden Sie ihn für die sicher nicht aufgeschrieben haben, sondern für Ihre Leser. Also für uns!
Lukas:
Stimmt. Aber was folgern Sie daraus?
Maria:
So gesehen kann man doch auch umschreiben: Wenn Ihr die Mühe nicht scheut, und wenn Ihr Euch nicht vom Getriebe der Welt oder durch Euch selbst blind machen lasst, dann braucht Ihr nicht zu warten bis Ihr gestorben seid, um das Reich Gottes zu erleben. Es hat schon begonnen. Ihr müsst nur anders denken und sehen lernen, dann werdet Ihr es auch gewahr werden. Den Schatz im Acker, die kostbare Perle, die ganz leise wachsende Saat, das keimende Senfkorn.
Lukas:
Schön war das, Maria. Aber ich möchte doch etwas Wasser in den Wein gießen. Es ist zwar alles richtig, was Sie gesagt haben, aber unser Erlebnis des Reiches Gottes ist doch auch noch sehr unscharf, und wir sind vor Täuschungen und Enttäuschungen nicht sicher. Paulus sagt: Jetzt sehe ich wie im Spiegel, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
Wolfgang:
Aber ich lasse mich auch nicht davon abbringen, dass viele Menschen hier in unserer Welt das Reich Gottes erleben können. Ich denke an die Ehe, die geglückte Familie um ihren Mittagstisch, einen Chor von Mönchen, ein harmonisches Team mit einer wichtigen Aufgabe, eine Messfeier in einer lebendigen Gemeinde. Sie erleben das Reich Gottes schon hier und vor ihrem Tod. Zugegeben niemals ganz sicher, immer in Gefahr es zu verlieren. Aber dennoch wirklich. Ich meine so etwa könnte Jesus es auch gemeint haben.
Lukas:
Ich kann beim besten Willen jetzt nicht mehr sagen, wie ich die Stelle damals, als ich schrieb, kommentiert hätte. Aber heute finde ich ihre Meinungen gut und richtig. Vor allem, weil sie durch Erfahrungen gedeckt sind.
Alexander:
Manchmal ist Jesus wirklich nicht zu begreifen! Ich habe die Stelle mit dem reichen jungen Mann gefunden, der so schwere Aufnahmebedingungen erhält, dass er traurig weggehen muss, weil er ihnen nicht entsprechen kann. Das steht im Kapitel 18 in den Versen 18-25. Bei anderen fallen solche Bedingungen offenbar weg.
Lukas:
Bei wem sind sie offenbar weggefallen?
Alexander:
Bei den Frauen, die ihn begleiteten und ihm mit ihrem Vermögen dienten. Das hab ich in dem Kapitel 8, Vers 3 gelesen.
Lukas:
Jesus, das wird Ihnen schon aufgefallen sein, ist ein Individualist. Und zwar in dem Sinne, dass er jeden Menschen, der ihm gegenübersteht, ganz als eine einzigartige Person betrachtet. Er kennt kein Schema, nach dem er Menschen einteilt oder beurteilt.
Christoph:
Sie meinen, er hätte den reichen jungen Mann als einen Menschen erkannt, der durch seinen Reichtum gehindert wird, wirklich glücklich im Reiche Gottes zu sein?
Alexander:
Dann hätte Jesus ihm helfen wollen, nicht aber abschieben?
Lukas:
Jesus wollte ihn zu der Einsicht bringen, dass der Reichtum ein Hindernis zu seinem eigenen Glück ist, das er überwinden muss. Lesen Sie in Kapitel 19 die Verse 1-10. Der reiche Zöllner Zachäus wird ganz anders behandelt, weil ihm diese Einsicht schon gekommen ist. Der war dabei, sich von den Fesseln des Reichtums zu befreien.
Christoph:
Wie kommt das eigentlich, dass Reichtum so ein Hindernis ist für das Reich Gottes?
Lukas:
Jesus würde sagen: "Euer Kleinglaube ist es! Ihr verlasst Euch fast ausschließlich auf Euer Vermögen, nicht aber auf Gott. Ihr müsst erst davon durchdrungen sein, dass Eure eigenen Kräfte, Euer Reichtum, Eure Macht nichts anderes als Leihgaben sind, die für das Reich Gottes eingesetzt werden sollen."
Susanne:
Ich habe gerade noch ein bisschen weiter gelesen. In den Versen 24 und 25 berichten Sie ja von sehr ernsten Worten Jesu zum Thema Reichtum. Die Leute waren da wohl auch sehr deprimiert, wenn sie fragen: "Wer kann dann noch gerettet werden?"
Lukas:
Aber Jesus tröstet sie: "Was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich." Das steht im Vers 27.
Christiane:
Anschließend äußert sich aber dann Petrus dazu: In Vers 28 erinnert er Jesus daran, dass die Apostel alles verlassen haben und Jesus gefolgt sind. Offenbar ist für ihn Nachfolgen und Im-Reich-Gottes-Sein das Gleiche.
Lukas:
Ja, so sehe ich das auch.
Christiane:
Ja, das bemerkte ich nur gerade und musste es aussprechen. Meine Frage war eigentlich etwas anderes: Mir scheint nämlich, dass Petrus, und die anderen wohl auch, nicht ganz sicher sind, ob sie nicht in eine Falle gelaufen sind. Sie haben alles, was sie hatten, auf Jesus gesetzt. Nun möchten Sie sich gerne versichern, ob auch alles in Ordnung geht mit ihnen und dem Reiche Gottes. Mir scheint, es zittert die Angst mit, ein Leben sinnlos vertan zu haben.
Lukas:
Ob Sie das unbedingt aus der Stelle lesen müssen? Oder ob da nicht auch ein bisschen Stolz aus den Worten spricht? Petrus wäre das doch zuzutrauen. Wie dem auch sei. Jesus macht hier eine wichtige Bemerkung: "Jeder, der um des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der kommenden Welt das ewige Leben."
Stephanie:
Ah, da ist ja wieder die Naherwartung!
Jonas:
Aber nein, die Stelle kann man wirklich nicht als Beweis dafür in Anspruch nehmen. Die Worte können hier doch nur bedeuten: "Tröstet Euch, Ihr seid nicht in eine Falle gelaufen. Ihr werdet nicht das Gefühl haben, vergeblich gelebt zu haben. Euer Leben wird ausgefüllt und glücklich sein.
Lukas:
Ja, und der Satz ist auch so, wie er da steht, von Jesus gesagt worden. Das können Sie an dem Wort "Amen" am Anfang erkennen. Das war seine Eigenart.
Friederike:
Haben Sie den Satz deshalb in Ihr Evangelium genommen, weil er echt ist. Schließlich war er ja inhaltlich überholt. Die Leute, an die er gerichtet war, lebten bei der Abfassung Ihrer Schrift meist schon nicht mehr.
Lukas:
Aber die Prophezeiung war schon in Erfüllung gegangen! Ich kannte ja viele von Ihnen persönlich. Alle waren sie erfüllt vom Leben im Reiche Gottes, für das sie sich unermüdlich einsetzten.
Friederike:
Dann ist das Versprechen oder die Prophezeiung an uns, ihre heutigen Leser, gerichtet? Wir werden glücklich sein, wenn wir um des Gottesreiches willen Besitztümer und liebe Menschen verlassen. Das ist aber schwer.
Lukas:
Was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott aber möglich!
Wolfgang:
Mich haben die bösen Winzer des Gleichnisses in Kapitel 20, Verse 9-16 geradezu aufgeregt. Das ist ja die ganz moderne Situation eines Kapitalanlegers in einem Krisengebiet. Da investiert einer eine ganze Menge in eine Fabrik. Da schafft einer Arbeitsplätze. Aber als er seine Zinsen einfordert, ist Revolution. Wollte Jesus die Revolution im Gleichnis verherrlichen?
Lukas:
Ich bin bisher noch nicht auf einen solchen Gedanken gekommen. Ein solches Vorkommnis war allerdings nicht selten. Ein großer Teil des Grundbesitzes in Palästina war damals in ausländischem Besitz, der natürlich seine Zinsen forderte.
Wolfgang:
Aber gleich den Sohn erschlagen. Die Winzer konnten doch wohl kaum annehmen, das könnte gut gehen.
Lukas:
Na, da müssen sie wissen, dass das Erscheinen des Sohnes und Erben ihnen wohl als Zeichen für den Tod des Besitzers galt. War er tot, dann war der Weinberg herrenlos und gehörte dem, der ihn sich aneignete.
Wolfgang:
Das hört sich fast an wie Wilder Westen. In diesem Fall kam die Strafe ja dann auch. Aber die Bedeutung der Stelle ist doch mit dieser Moritat nicht erschöpft.
Lukas:
Nein, um ihrer selbst willen hat sie weder Jesus erzählt, noch ich aufgeschrieben. Vielleicht lesen Sie den Vers 16. Die Leute waren offenbar entsetzt.
Martin:
Es scheint, als hätten sie die Geschichte für bare Münze gehalten und nicht als ein Gleichnis aufgefasst.
Christian:
Die einfachen Leute vielleicht, aber offenbar haben sich die Schriftgelehrten und Priester als die Winzer des Gleichnisses wiedererkannt. War "Weinberg" nicht schon von alters her ein Deckwort für "Volk Israel"?
Lukas:
Stimmt. Jesaia hat es auch so genannt.
Martin:
Jetzt verstehe ich: Jesus fragt seine Zuhörer in Vers 17: "Was bedeutet das Psalmwort: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden." Anscheinend hat darauf niemand eine Antwort gegeben. Darum lese ich den Vers 18 auch als kaum falsch zu deutende Drohung.
Lukas:
Ja, wenn die Schriftgelehrten und Priester nicht nur verstanden, dass das Gleichnis eine offene Kritik an ihnen war, sondern auch, dass Jesus sich mit dem Psalmzitat selbst als den Sohn des Besitzers, sprich als Sohn Gottes, vorstellte, durch den sie gerichtet werden. In Vers 19 habe ich das ja auch geschrieben.
Andreas:
Ich möchte mir die ganze Szene gerne vorstellen. Vielleicht war es so: Jesus lehrt im Tempel. Er steht aber in der Spannung, ob es ihm gelingen wird, sich Gehör bei den Führern seines Volkes zu verschaffen. Nun sieht er unter seinen vielen Zuhörern auch Schriftgelehrte und Priester. Mit dem Gleichnis legt er die Kluft zwischen dem Volk und seinen Führern offen. Ich kann mir vorstellen, wie er die Menschen angeschaut hat, den Angstschrei der einfachen Leute "Das darf nicht geschehen" aufnimmt. Ganz ruhig wartet er auf eine Äußerung der Priester und Schriftgelehrten. Werden ihnen die Augen aufgehen? Werden sie sich als diejenigen erkennen, die Gott Widerstand leisten und auch gegenüber den Propheten immer geleistet haben? Die Spannung wächst von Sekunde zu Sekunde. Wohin wird sich die Krise wenden? Werden sie ihn verspotten? Werden sie mit den Achseln zucken und weggehen? Jesus lässt ihnen Zeit, aber dann kommt messerscharf die Frage nach der Bedeutung des Psalmverses. Damit ist für die Schriftgelehrten klar: Jesus erklärt sich als Sohn des Weinbergbesitzers, im Klartext als Sohn Gottes. Aber die Wissenden bleiben blind, sie werden Jesus ans Kreuz bringen.
Lukas:
Wir sollten diese Stelle einmal szenisch spielen. Vielleicht heute Abend, wenn Sie dann noch Lust dazu haben. Für diesen Vorschlag gab es freundlichen Beifall. Herr Lukas nickte Anja zu, die sich schon lange gemeldet hatte.
Anja:
Ich bin auf die Erzählung mit dem Hauptmann von Kafarnaum gestoßen. Sie steht im Kapitel 7 in den Versen 1-10. Eigentlich ist diese Stelle ja gut bekannt. Beim Vergleich mit Matthäus ist mir aber aufgefallen, dass Sie eine viel längere Einleitung vor den eigentlichen Kern, dem Bekenntnis des Hauptmannes von seiner eigenen Unwürdigkeit, gesetzt haben. Dafür hat dann Matthäus noch eine längere Drohrede Jesu dahinter gesetzt. Das muss doch einen Grund haben.
Lukas:
Die Verse, die Sie als Drohrede bezeichnen, habe ich an anderer Stelle, nämlich im Kapitel 13. Es sind dort die Verse 28 und 29. Wir haben sie also beide aus der gestern Morgen erwähnten Spruchsammlung. Matthäus hat sie nun an dieser Stelle eingebaut. Ich habe eine andere Stelle für geschickter gehalten. In welchem Zusammenhang Jesus sie tatsächlich gesprochen hat oder ob er diese Sätze gar mehrmals und bei verschiedenen Gelegenheiten gebraucht hat, hat keiner von uns mehr feststellen können. Ich halte seine Wahl für möglich, ich aber meine auch.
Anja:
Ja, das klingt ganz gut. Aber nun die Einleitung. Da erzählen Sie eine richtige Story, die den Hauptmann für den Leser und Jesus auf Distanz hält. Er spricht zu Jesus nicht unmittelbar, wie bei Matthäus, sondern nur durch jüdische Mittelsmänner, die ihn auch noch besonders als einen Wohltäter der Gemeinde empfehlen. Was haben Sie damit bezweckt?
Lukas:
Manchmal ist es gar nicht so einfach für einen Autor, sich selbst zu interpretieren. Aber ich will es versuchen: Ich hatte die Notiz in meiner Sammlung. Sie rührte mich, weil sie von diesem heidnischen Hauptmann und seinem Bemühen erzählte, etwas Gutes zu tun. Die Juden ließen nicht gerne ein gutes Haar an einem Heiden, schon gar nicht an einem Soldaten. Hier machten meine Zeugen eine Ausnahme.
Anja:
Ich habe Sie hier kennengelernt als einen Mann, der keinen Satz zu viel schreibt. Darum kommt mir der Gedanke, Sie hätten in dem Hauptmann eine gewisse Ähnlichkeit mit sich selbst erkannt.
Lukas:
Wenn diese Ähnlichkeit überhaupt besteht, so ist sie nicht beabsichtigt. Ich sehe mich lieber als ein Suchender und nicht als ein Wohltäter.
Maria:
Mir gefällt das "Herr, ich bin nicht würdig" des Hauptmanns so sehr. Ich könnte mir jetzt vorstellen, dass dieses Bekenntnis durch Leute wie Sie in die Liturgie hinein gebracht worden ist. Von den Heidenchristen meine ich.
Lukas:
Möglich, aber haben Sie sich einmal gefragt, warum es dem Hauptmann so wichtig war, dass Jesus nicht in sein Haus kam?
Stephanie:
Das hatte sicher was mit den kleinlichen Gesetzen der Juden zu tun. Vielleicht durfte man das Haus eines Heiden nicht betreten, weil man unrein wurde.
Lukas:
Richtig. Der Hauptmann wusste das ganz genau. Die Heilung des Dieners gestattete es ihm, Jesus von seiner Schwelle fernzuhalten, damit er nicht unrein wurde. Es gibt keine Stelle in meinem Buch, die erzählt, dass Jesus in ein heidnisches Haus gegangen wäre. Erst in meinem anderen Buch erzähle ich, wie Simon Petrus, durch eine besondere Erscheinung ermutigt, das Haus des Cornelius betritt und ihn mit allen seinem Hausgenossen tauft. Lesen Sie das Kapitel 10 der Apostelgeschichte als Ergänzung zu unserer Stelle.
Susanne:
Also über meine Stelle komme ich aber überhaupt nicht weg. Solche Rede hätte ich Jesus ganz gewiss nicht zugetraut. Ich tue mich schwer, zu glauben, das sei frohe Botschaft.
Lukas:
Von welcher Stelle sprechen Sie, Susanne?
Susanne:
Ach so! Ja, hier die drei Verse 51-53.
Lukas:
In welchem Kapitel?
Susanne:
Kapitel 12. Das kann doch Jesus so nicht gesagt haben.
Lukas:
Jesus hat manchmal Dinge gesagt, die nicht leicht zu verstehen sind. Besonders, wenn man die Situation nicht kennt. Und so geht es uns wirklich hier. Matthäus hat die Verse auch in seinem Kapitel 10. Sie stammen also aus der Spruchsammlung. Ich muss zugeben, dass sie bei mir etwas beziehungslos im Text stehen. Bei Matthäus stehen sie im Zusammenhang einer längeren Rede Jesu, die zwar nicht weniger schonungslos, aber doch durchsetzt ist mit Versen, die zwischen der Dunkelheit auch gute Botschaft bringen.
Martin:
Und warum zeigen Sie mit Ihrer Version keine Hoffnung?
Lukas:
Lesen Sie mal schnell die Verse 54-57. Sie schließen sich unmittelbar an. "Die Zeichen der Zeit" sollen wir erkennen.
Martin:
Ah ja, irgendwo habe ich mal gelesen, der Traubensaft müsse auch gären und Schmutz absondern, damit guter Wein entstünde, oder von einem Marmorblock müsse eine Menge abgemeißelt werden, damit die Figur, die darin stecke, sichtbar würde. Dann wäre der Streit ein Zeichen dafür, dass das Reich Gottes lebendig und im Kommen ist. Also doch gute Botschaft. Aber ehrlich, ich hätte das nicht aufzuschreiben gewagt. Wenn ich mir allerdings die Geschichte des Christentums ansehe, so kann ich nur sagen: Wie wahr!
Marita:
Ja, alles gut und schön. Es stimmt ja, dass auch noch zu unserer Zeit unter den Christen immer wieder und, oft aus nichtigsten Anlässen, gestritten wird. Aber die Verse klingen doch so, als habe Jesus den Streit gewollt.
Lukas:
Nein, den wollte er ganz sicher nicht. Doch war er ein Realist und konnte daher voraussehen, was kam. Er machte die gleiche Erfahrung ja auch zu seiner Zeit. Er selbst war ein "Zeichen des Widerspruchs". Erinnern Sie sich noch des Verses 34 im 2. Kapitel?
Marita:
Nein, ist mir nicht gegenwärtig.
Lukas:
Ich zitiere: "Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel durch ihn viele zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird."
Marita:
Da verstehe ich aber wirklich nicht, wie Sie das unter dem Titel "Evangelium" oder "Gute Botschaft" einordnen können.
Lukas:
Vielleicht erinnern Sie sich noch, dass ich für meinen Freund Theophilos und für heidenchristliche Gemeinden geschrieben habe. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie entsetzt die Christen waren, wenn sie erleben mussten, dass unter ihnen Streit, oft um nichtigste Dinge, keine Seltenheit war. Lesen Sie einmal den ersten Brief von Paulus an die Korinther. Dort finden Sie gleich am Anfang, in Kapitel 1-4, Mahnungen zur Einigkeit. Sie waren offenbar dringend nötig.
Marita:
Aber Jesus hat doch Liebe gepredigt und Frieden versprochen.
Lukas:
Richtig. Doch war er sich vollständig darüber im Klaren, dass dieser Frieden nicht sofort eintreten könne. Jesus hat diesen Frieden gesät, doch die Saat wächst sehr langsam. Der Friede wird den Menschen nicht über die Ohren gestülpt werden. Aber jeder, der an ihn glaubt, das heißt also danach strebt, wird ihn erleben. Ebenso wird er allerdings auch erleben, dass er angefeindet, ja verfolgt wird. Jesus sagt das seinen Jüngern voraus. Ich habe in meinem Buch daran erinnert, damit die Menschen sich nicht zu sehr beunruhigen und zweifeln, oder gar verzweifeln.
Stephanie:
Also doch eine "Gute Botschaft"?
Lukas:
Ja, doch dazu gehören auch die Verse 49 und 50. Jesus wünscht, dass seine Verkündigung des Reiches Gottes überall verstanden und angenommen wird. Aber er weiß um die Opfer, die das kostet. Und er scheut sich nicht, den Opfergang als erster zu gehen.
Martin:
Wenn ich jetzt die Verse 58 und 59 lese, dann scheinen mir die etwas darüber sagen zu wollen, wie der Streit unter Christen geführt werden müsste. Wie lesen Sie das?
Lukas:
Ja, das lese ich auch so. Diese beiden Verse mögen einfach zivilrechtlich verstanden werden. Aber ihren eigentlichen Sinn gewinnen sie erst, wenn man sie auf religiöse Streitigkeiten unter Christen anwendet. Selbst in sehr wichtigen Fragen des Glaubens und der Sittlichkeit darf der Streit nie vor ein Gericht gebracht werden. Keinesfalls vor ein weltliches, wie die Juden mit Jesus getan haben. Es gibt ja auch noch das Gericht der Zeit.
Martin:
Wie verstehe ich das?
Lukas:
Es gab unzählbar viele Streitpunkte im Laufe der Geschichte. die oft schon nach kurzer Frist uninteressant waren. Das Gericht der Zeit hatte gesprochen und manchen, der sich erbittert für oder gegen eine These ereifert hatte, lächerlich gemacht. Vorsicht also auch vor diesem Gericht!
Martin:
Wenn das doch wirklich beachtet würde! Wie oft habe ich in meinem Leben schon erlebt, dass man sich um Dinge erbittert gestritten hat, die schon wenig später keinen Menschen mehr aufregten. Ich denke an Handkommunion, Messdienerinnen oder Frauen im Altarraum.
Lukas:
Wenn Sie die Kirchengeschichte durchgehen, werden Sie noch viele solcher Beispiele finden. Mit noch viel heftigeren Auseinandersetzungen, die mit Mord und Krieg einhergingen. Viele von ihnen waren den folgenden Generationen schon nicht mehr verständlich.
Thomas:
Was raten Sie denn im Falle eines Streites unter uns Christen, der ja nun offenbar unvermeidbar ist?
Lukas:
Bei einem Streit innerhalb der Gemeinde oder Kirche sollten Sie immer auf der Ebene gegenseitiger Achtung bleiben. Damit vermeiden Sie eine unnötige Verschärfung der Streitsituation. Denken Sie immer auch an die Zeit danach. Streben Sie immer die Versöhnung an und sei es durch geduldiges abwarten, bevor ein Gericht mit dem Streit befasst wird.
Angelika:
Sie haben selbst an anderer Stelle noch eine andere Lösung vorgeschlagen.
Lukas:
Welche meinen Sie?
Angelika:
In Ihrem anderen Buch im Kapitel 5, Verse 38 und 39 rät der Ratsherr Gamaliel im Prozess gegen die Apostel: "Lasst von diesen Männern ab, und gebt sie frei; denn wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten." Das lese ich wie eine theologische Erklärung Ihres "Gerichtes der Zeit"
Lukas:
Danke für diesen Hinweis!
Thomas:
Ich staune, was alles in so ein paar Versen verborgen sein kann. Ich bin jetzt bereit von Evangelium zu sprechen. Aber verkünden können wir dieses nur, wenn wir uns danach richten.
Lukas:
Genau so ist es!
Christiane:
Ich habe mich ehrlich geärgert über Ihre Geschichte von Marta und Maria. Sie steht in Kapitel 10 und dort in den Versen 38-42. Da kommt Jesus in ein Dorf. Wenn Sie wenigstens gesagt hätten, dass es Betanien war, wäre mir etwas wohler. Wahrscheinlich sind die Apostel alle mitgekommen oder doch ein so großer Teil, dass die Hausfrau, die sie "freundlich" aufnimmt, alle Hände voll zu tun hat, ein Essen auf den Tisch zu bringen. Da darf sie doch wohl Hilfe von ihrer Schwester erwarten. Aber Jesus rügt sie geradezu für ihre Sorge.
Susanne:
Aber ich kann auch Maria gut verstehen. Jesus hat bestimmt Gleichnisse vom Reiche Gottes erzählt. Sie musste zuhören, bereit alles andere liegen zu lassen.
Lukas:
Ich muss zugeben, dass die Geschichte, von einer Frau gelesen, wirklich ärgerlich ist. Das liegt auch an meinem knappen Stil, der nur das Notwendigste bringt. In diesem Fall die Verse 41 und 42. Aber schlagen Sie bitte zurück zu Kapitel 9 und lesen Sie die Verse 59-62. Da finden Sie ebenso brüske Forderungen Jesu an Männer, die gerne mit ihm gehen möchten, aber vorher noch wichtige Dinge erledigen wollen. Dagegen scheint mir die Rüge an Marta schon fast höflich.
Christiane:
Damit kann ich mich noch nicht abfinden. Warum haben Sie nicht geschrieben, was nun weiter geschehen ist? Es gab doch eine Spannung, die unmöglich durch das Jesuswort der Verse 41 und 42 überwunden war. Ich hätte sehr gerne gewusst, wie so ein Problem unter der Bedingung des Reiches Gottes gelöst werden kann.
Lukas:
Da muss ich Sie leider an Ihre Phantasie verweisen. Meine Notizen haben nicht mehr hergegeben. Bedenken Sie dass ich außer für Theophilos auch für Gemeinden schrieb. Bei meiner Arbeit hatte ich vielfach Leute erlebt, die sich um das Wort Gottes nur herzlich wenig kümmerten, dafür sich aber häufig voll bei Festen und anderen Veranstaltungen in Planung, Vorbereitung und Durchführung engagierten. Leute, die zum Beispiel sehr großen Wert auf eine prächtige Taufzeremonie legten und dafür auch viel einsetzten, die sich aber um den Sinn der Taufe überhaupt nicht scherten.
Susanne:
Ach solche Leute gibt es auch heute noch. Nur bisher habe ich noch niemals gehört, dass man diese Stelle als Kritik an ihnen auffassen kann.
Lukas:
Nun habe ich aber noch zwei Bitten im Zusammenhang mit unserer Marta-Diskussion: Erstens möchte ich Sie alle anregen, die Geschichte von Marta, Maria und Jesus weiter zu schreiben. Vielleicht bekomme ich das Ergebnis auch mal zu sehen. Und zweitens möchte ich gerne von Christiane wissen, was sie vorhin gemeint hat mit ihrer Bemerkung: "Wenn Sie wenigstens gesagt hätten, dass es Bethanien war."
Christiane:
Ja, sehen Sie, auch im Johannesevangelium kommt der Name Marta vor. Die wohnt mit Ihrer Schwester Maria und ihrem Bruder Lazarus in Bethanien. Wenn die beiden Marta identisch sind, dann wäre aus der bei Ihnen gerügten Marta die Frau, nein der Mensch geworden, der als Erster seinen Glauben an die persönliche Auferstehung von den Toten bekannt hat. Daraus würde ich dann folgern, dass sie trotz der Rüge die Freundschaft zu Jesus weiter gepflegt hat.
Lukas:
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die beiden Marta die gleichen Personen sind.

Jetzt erhob sich der Seminarleiter und meinte, man solle doch ernsthaft versuchen, sich auch jeder für sich kreativ mit dem Text zu beschäftigen. Der Verlauf des heutigen Tages habe die Befähigung der Teilnehmer doch ganz deutlich bewiesen. Er fände die Idee mit dem Weiterschreiben der Geschichte von Marta und Maria sehr gut. Ebenso fände er die Idee einer szenischen Gestaltung einzelner Stellen ganz prima und er hoffe, dass wir schon bald Gelegenheit dazu fänden. Im Übrigen sei es nun Zeit zum Essen. Am Nachmittag zur gewohnten Zeit werde er und Herr Lukas wieder zur Verfügung stehen.

Die Gespräche auf den Fluren und in den Treppenhäusern waren heute wesentlich ungezwungener und fröhlicher als gestern. Vielleicht lag das einfach daran, dass die Umgebung nicht mehr so ungewohnt war. Ich glaube aber, es ging den anderen ähnlich wie mir. Wir waren mit dem Lukasevangelium heute sehr viel vertrauter, weil wir gelernt hatten, Zusammenhänge aufzuspüren, und nun den Mut hatten, die einzelnen Stellen mit eigenen Augen und eigenem Verständnis zu lesen. Das machte mich froh.

4

Es hatte in der Mittagspause viele engagierte Gespräche gegeben. Mit Spannung erwarteten alle den Beginn der Nachmittagsveranstaltung und waren entsprechend pünktlich zur Stelle. Der Seminarleiter meinte, wir müssten uns wohl sehr zusammennehmen, wenn wir, in bisheriger Weise fortfahrend, an ein einigermaßen zufriedenstellendes Ende kommen wollten. Aber niemand wollte etwas von einer Änderung der Methode wissen. Zwar ließ sich der Seminarleiter darauf ein, meinte aber, wir hätten so wichtige Komplexe wie Wunder, Passion und Auferweckung bisher ausgespart. Warum sollten wir an diesem Nachmittag unseren Schwerpunkt dorthin legen. Herr Lukas schien keine Hast aufkommen lassen zu wollen. Er meinte, seine Gesprächspartner seien doch schon durchaus in der Lage, sich ihre eigene Meinung zu den aufgeworfenen Fragen zu bilden. Das sei nach seiner Ansicht wichtiger als die Behandlung aller Kapitel, was ohnehin wohl kaum möglich sei.

Dann wandte er sich wieder seinen Zuhörern zu.

Lukas:
Ich glaube Marius hat sich zuerst gemeldet.
Marius:
Ja, ich habe Fragen zum Kapitel 4 und darin zu den Versen 14-30. Das sind das erste Auftreten Jesu in Galiläa und sein Besuch in Nazareth.
Lukas:
Gut. Wie sind Ihre Fragen?
Marius:
Zunächst ist mir aufgefallen, dass Sie zwar von seiner Predigt und einer allgemeinen Zustimmung in Galiläa berichten, dass Sie aber nichts über den Inhalt der Predigt mitteilen.
Lukas:
Markus hat am Anfang seines Evangeliums den Inhalt der Predigt Jesu mit ganz kurzen Worten skizziert. Das können Sie lesen in seinem Kapitel 1, Verse 14-15. Ich hielt es für richtiger, den Predigtinhalt lieber nach und nach in meinem weiteren Bericht zu bringen. So wollte ich den Leser Schritt für Schritt zu Jesus mitnehmen.
Marius:
Nun gut. Aber dann bringen Sie den Besuch in Nazareth, der beinahe schon das Ende seines Lebens gewesen wäre. Ich versuche mir die Situation in der Synagoge vorzustellen: Jesus kommt als Gast und man reicht ihm die Buchrolle des Propheten Jesaia. So etwas war wohl üblich, wie es scheint. Er wählt sich eine Stelle aus. Aber warum zitiert er nun nicht allein diese Stelle, sondern schiebt einen Vers ein und verändert einen weiteren. Jedenfalls lese ich das aus meiner Einheitsübersetzung.
Lukas:
Und ein Satz ist ausgelassen! Die einfachste Erklärung wäre doch wohl, dass Jesus die Worte "und alle heile, deren Herz zerbrochen ist" einfach überschlagen, und den Satzteil "und den Blinden das Augenlicht:" aus seinem Gedächtnis zugefügt hat. Der Ausdruck "Gefesselten" und "Zerschlagenen" dürfte kaum einen Unterschied ausmachen. Zu Jesu Zeiten war Gefangensein und Misshandeltwerden kaum zu unterscheiden. Ist es heute vielerorts auch noch nicht.
Gudrun:
Bleiben die beiden Zitate. Das eine weggelassen, das andere zugefügt.
Lukas:
Das kann viele Gründe haben. Jesus kann es so gemacht haben. Dann müsste man nach den Gründen forschen. Mein Zeuge kann es etwas durcheinander gebracht haben. Auch ich kann schuld sein. Aber schauen Sie doch mal: Der Sinn des Textes ist doch unverfälscht.
Gudrun:
Und dann sagt Jesus: "Heute hat sich das Wort erfüllt" Alle finden das wundervoll, niemand nimmt Anstoß, obschon doch jeder wissen müsste, dass Jesaia vom Messias spricht. Alle wundern sich nur, dass der Sohn Josefs so schön predigt. Wütend werden die Leute erst, als Jesus ihnen klarmacht, dass sie keinen Anspruch auf "Wunder" haben. Die frommen Männer von Nazareth! Vom Felsen wollten sie ihn deshalb stürzen.
Lukas:
Finden Sie das so seltsam? Es ist nichts gefährlicher als Fans zu enttäuschen. Dann werden sie eklig. Erst sonnt man sich gern in der Vorstellung, der berühmte Mann kommt aus unserem Dorf. Dann die brüske Absage an ihre Gier nach Sensation. Es gehört zu Jesu Heilungen, Menschen die Augen für sich selbst zu öffnen. Ihren Egoismus aufzudecken. Erst dann kann Heil kommen. Diese Kur ist schmerzhaft, und die Patienten werden leicht böse. Wie unerzogene Kinder, die ihren Willen nicht bekommen.
Michael:
Heilungen! Hat Jesus wirklich Kranke geheilt oder sind die Geschichten alle erfunden.
Lukas:
Jesus hat viele auffallende Heilungen bewirkt. Aber bedenken Sie, dass das nicht unbedingt mit Gott in Verbindung gebracht wurde. Es gab auch im Heidentum viele erstaunliche Heilungen. Ich habe nur dann über solche Ereignisse berichtet, wenn mit ihnen mehr ausgesagt wurde, als nur ein überraschendes Gesundwerden.
Michael:
Da haben ich gleich einen Fall: Ein Blinder wird sehend. Das steht in Kapitel 18, Verse 35-43. Die beiden anderen Synoptiker berichten ebenfalls über das Ereignis, wenn auch mit unterschiedlichen Begleitumständen. Wissen Sie, Dämonenaustreibungen, aber auch Heilungen von Blutungen, Lähmungen will ich ja gerne als tatsächlich geschehen annehmen. Aber ein von Geburt blinder Mensch wird nicht plötzlich sehen können. Jedenfalls müsste Jesus hier die Macht Gottes ausspielen. Aber das will er doch gerade nicht. So habe ich Sie jedenfalls verstanden. Ist die ganze Geschichte nun historisch oder nicht?
Lukas:
Ich glaube, sie ist geschehen. Die Abweichungen in der Darstellung unter uns drei Synoptikern haben kaum eine Bedeutung für diese Frage. Die Ablehnung Jesu, aus Steinen Brot zu machen, ist etwas anderes, als sich von dem Glauben eines armen Menschen dazu bringen zu lassen, seine Macht einzusetzen. Das war ja so ähnlich auch in Naim. Offenbar haben sich die Zuschauer auch nicht zu Konsequenzen hinsichtlich der Person Jesu gedrängt gefühlt.
Thomas:
Könnte es nicht vielleicht auch so sein, dass der Glaube des Blinden die Heilung bewirkt hat, wie ich aus dem Vers 42 schließen zu können glaube?
Lukas:
So könnten die Zuschauer auch gedacht haben.
Maria:
Nun sagen Sie uns doch einmal, warum haben Sie denn die Geschichte in Ihr Buch aufgenommen?
Lukas:
Fast möchte ich glauben, diese Frage könnten Sie sich jetzt bereits selbst beantworten! Ich habe Ihnen früher schon gesagt, was Jesus unter Glauben versteht: nämlich den vollen Einsatz für das Reich Gottes. Wenn ein Mensch sich für ein Ziel voll einsetzt, dann lernt er dieses Ziel immer besser kennen. So sehr, dass es kaum übertrieben ist, ihn jetzt einen Sehenden zu nennen, während er vorher gleichsam blind war. Der Mann aus unserem Kapitel 18 hat Jesus so sehen gelernt, dass er ihn besser erkannte, als wenn er ihn mit seinen leiblichen Augen gesehen hätte. Die Zuschauer blieben dagegen gleichsam blind. Darum ist der Vorgang für mich ein Gleichnis so mancher Bekehrung geworden. Der Mensch, der vorher blind war, wird mit dem Glauben sehend. Darum steht die Geschichte hier!
Anja:
Wollen Sie etwa, alle Heilungswunder einfach als Selbstheilungen durch den eigenen Glauben der Kranken erklären?
Lukas:
Schlagen Sie doch bitte Kapitel 9 auf. Da beklagt Jesus im Vers 41 die "ungläubige und unbelehrbare Generation", weil seine Jünger einen Besessenen nicht heilen können. Ich möchte mich so ausdrücken: Jesus riss die Kranken mit sich in das Vertrauen an die heilende Macht Gottes. Unter seiner Führung bekamen sie dieses Vertrauen, das sie auch körperlich gesund machte.
Anja:
Die Jünger hatten dann also eben diesen Glauben noch nicht, und darum blieben sie unfähig, andere von der Krankheit zu befreien.
Lukas:
So kann man das durchaus sagen.
Claude:
Warum hat Jesus nur die 12 Apostel mitgenommen, als er das Abendmahl hielt, und nicht die Frauen, die bei ihm waren?
Lukas:
Sie haben also Kapitel 22, Verse 7-13 gelesen. Den Grund kann ich auch nur vermuten. Ich habe für mich nie einen Zweifel gehabt, dass nur die Apostel mit dabei waren. Aber schließen muss man das nicht notwendig. Ich habe das Wort Zwölf nicht gebraucht.
Claude:
Aber ich möchte das doch aus dem Vers 3 dieses Kapitels entnehmen. Es ist irgendwie in meinem Kopf. Ich habe den Ausdruck "Zwölf Apostel" immer als Chiffre für das ganze Israel, die ganze Kirche gelesen.
Lukas:
Das können Sie auch.
Claude:
Dann meinen Sie also, dass doch auch Frauen dabei waren?
Lukas:
Nein, nein, das habe ich nicht sagen wollen! Nur lässt ihre Nichterwähnung keinen sicheren Schluss darauf zu, die Frauen seien grundsätzlich ausgeschlossen gewesen.
Claude:
Ich wüsste aber doch gerne, was Sie davon halten. Für manche unserer Theologen scheint das sehr wichtig zu sein, weil sie davon den Ausschluss bzw. Einschluss der Frauen bei der Zulassung zum Priestertum ableiten.
Lukas:
Die Frage war für die Zeugen, die ich befragte, wohl überhaupt nicht vorhanden. Ich könnte mir vorstellen, dass Jesus die Frauen aus Gründen ihrer Sicherheit nicht dabei haben wollte. Er rechnete wohl damit, dass sie in seiner Nähe in Gefahr geraten könnten. Er erwartete in dieser Nacht das entscheidende Zusammentreffen mit dem Hohen Rat. Dabei waren Frauen sicher sowieso nicht geduldet.
Claude:
Diese Begründung habe ich noch nie gehört. Wie kommen Sie denn auf die Idee?
Lukas:
Nun erstens hat Jesus niemals jemand grundsätzlich aus seinem Umkreis ausgeschlossen, warum sollte er das bei den Frauen tun, die ihm so lange treu nachgefolgt waren. Zweitens haben die Jünger die Frauen nicht ausgeschlossen, als sie sich vor dem Pfingstfest im Saal versammelten. Das hätten sie aber sicher getan, wenn Jesus sie aus grundsätzlichen Gründen vom Abendmahl ausgeschlossen hätte. Die hätte er ihnen dann auch bestimmt genannt, und meine Zeugen hätten sie gewusst.
Alena:
Dann hat sich also die Kirche in ihrer Haltung zu den Frauen ihrer Umwelt angepasst, in der offenbar die Frauen weniger geachtet waren als Männer?
Lukas:
Vielleicht sollten Sie besser sagen, die Kirche habe sich nicht befreit von diesem Denken ihrer Umwelt. Mein Buch bietet jedenfalls keine Anhaltspunkte für einen Ausschluss von Frauen von Aufgaben und Diensten in der Kirche.
Alexander:
Im Kapitel 19 habe ich das Evangelium gefunden, das erzählt, wie Jesus in Jerusalem einzog. Wie ein König, sagten die Leute. Ich meine, das passt doch nicht zu ihm. Wie sehen Sie das?
Lukas:
Jesus war sicher keiner, der sich selbst durch eine solche Demonstration herausstellen wollte. Es gab ja auch nur diese eine.
Daniel:
Es gibt aber auch noch die Gewaltanwendung gegen die Händler im Tempel. Das passt auch nicht zu Jesus. Oder?
Lukas:
Da muss ich etwas ausholen: Jesus hat, wie sie wissen, in Galiläa gepredigt und hat auch eine gewisse Zahl von Anhängern hinter sich bekommen. Der Ruf, er sei vielleicht der sehnlichst erwartete Messias, war bestimmt auch nach Jerusalem gedrungen. Doch weder der Hohe Priester noch der Hohe Rat hatten bisher ernsthaft Kontakt mit ihm gesucht, um zu ergründen, was an den Nachrichten wahr sei oder falsch.
Matthias:
Tatsächlich bisher hat er es nur mit einigen örtlichen Gemeindeleitern oder Schriftgelehrten ohne offiziellen Auftrag zu tun gehabt.
Lukas:
Jesus wollte aber das ganze Volk ins Reich Gottes führen. Nun kommt er als Wanderprediger aus Galiläa in die Hauptstadt. Wenn man ihn dort hören soll, muss er sich Gehör verschaffen. Er tut es auf zweierlei Weise.
Matthias:
Zuerst durch eine friedliche Demonstration. Bei der stellten die Osterwallfahrer aus Galiläa vermutlich den Hauptanteil.
Lukas:
Nachdem er aber auch dann noch nicht zur obersten Behörde eingeladen wurde, verstärkte er sein Signal durch die Tempelreinigung. Durch sie stellte er übrigens nur ein Recht wieder her, das von den Verantwortlichen bisher sehr lässig gehandhabt worden war.
Martin:
Sie meinen, es war keine illegale Gewalttat?
Lukas:
Nein! Über sein politisches Augenmaß haben wir gestern schon gesprochen.
Jonas:
Aber sein Ziel hat er doch nicht erreicht?
Lukas:
Nein, das nicht. Darum blieb ihm nur noch der Weg, sich verhaften zu lassen, um auf diese Weise vor den Hohen Rat zu kommen. Er tat es, obwohl er erwartete, verurteilt zu werden. Vor diesem Hintergrund verstehen Sie bitte alle den Vers 2 in Kapitel 22.
Christoph:
Was Sie sagen, hört sich an, als wenn Jesus den Judas geschickt hätte. Meinen Sie das so?
Lukas:
Nein, so wohl nicht. Aber im vorletzten Vers von Kapitel 21 berichte ich, dass Jesus jeden Abend aus der Stadt ging. Es scheint mir klar, dass er sich in Jerusalem nachts nicht sicher fühlte. Nun brauchte er nur noch einen, der das Versteck verriet.
Christoph:
Das meine ich doch. Jesus hat den Judas als sein Werkzeug gebraucht!
Lukas:
Nein, Judas hat seine eigenen Absichten verfolgt. Ich denke, er hat Jesus in eine Lage bringen wollen, in der er seine Macht als Messias und Sohn Gottes voll einsetzen musste. Damit würde der von Judas und vielen anderen immer wieder angestrebte Freiheitskampf beginnen. So wurde er zum Verräter. Es war irregeleiteter Glaube. Jesus hat das zweifellos durchschaut.
Susanne:
Da sind wir ja gerade wieder in der Nähe der Verse 24-27 im Kapitel 22. Warum haben Sie die bloß so dicht an den Bericht über das Abendmahl gerückt? Ich finde das schockierend!
Lukas:
Das geschah nicht ohne Absicht! In den Gemeinden, die ich kennen gelernt habe, musste ich erleben, dass der Streit um die Herrschaft sich oft sogar im innersten Bereich abspielte. Für meine Leser war es schon tröstend, dass sich solcherlei Ehrgeiz auch in Jesu Nähe gezeigt, und wie klar der sich davon abgesetzt hatte.
Sebastian:
Wir sind in der Nähe des Abendmahles. Dazu hätte ich eine Frage.
Lukas:
Also die Verse 14-23. Was drückt Sie dabei?
Sebastian:
Gerade das Abendmahl hat ja in der Vergangenheit zu sehr schweren Auseinandersetzungen unter den Christen geführt. Es ist eine Menge Wissenschaft und Polemik zur Verteidigung gegenteiliger Thesen aufgewendet worden. Manches ist auch in unseren Tagen noch nicht abgebaut.
Lukas:
Ja richtig, man hat versucht ein Geheimnis unseres Glaubens mit wissenschaftlichen Methoden zu ergründen. Es ist aber ein Geheimnis geblieben.
Sebastian:
Wie war denn das bei Ihnen?
Lukas:
Ja, lassen Sie mich von mir sprechen: Wie ich Ihnen schon gestern erzählte, habe ich Jesus erlebt in dem, was ich über ihn erfahren und aufgeschrieben hatte. Heute würden Sie sagen "im Wort". Aber ich hoffe Ihnen auch erklärt zu haben, dass ich ihn auch im Glauben der Gemeinden erfahren habe. Dort erfüllte sich das Wort: "Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen". Versammlungen wie Einzelgespräche waren Jesuserlebnisse. Die Höhepunkte waren die Eucharistiefeiern, die an jedem Sonntag stattfanden. Im Brot und Wein war Jesus unter uns, teilte er sich uns mit.
Christoph:
Wort und Gemeinschaft. Deren Kräfte werden dann wirksam, wenn ich mich ihnen überlasse. Aber Brot und Wein sind Gegenstände. Sie werden gegessen und getrunken. Sie sind Sakrament. Äußere Zeichen und innere Wirkung. Der Priester sagt: "Dies ist mein Leib, mein Blut" Ein Wort verwandelt das Brot, den Wein. Aber die Materie bleibt Brot und Wein, obwohl es nun Leib und Blut Jesu ist. Können Sie mir das erklären.
Lukas:
Das haben schon viele probiert, aber ich sagte ja, es bleibt ein Geheimnis. Lassen Sie mich versuchen, Ihnen die Wirklichkeit dieses Geheimnisses verständlich zu machen: Stellen Sie sich ein Scheckformular vor. Ein Stück Papier, was nichts wert ist. Wenn Sie aber einen Stift nehmen und einen Geldwert einsetzen und die übrigen Formalitäten hinzufügen, dann hat dieses Papier plötzlich einen Wert. Ja, derjenige, der dieses Papier in der Hand hat, kann über Ihr Konto in Höhe des eingesetzten Geldwertes verfügen. Er ist in diesem Rahmen ebenso mächtig wie Sie selbst. Mächtiger sogar, denn Sie selbst würden auf ihren nur gesprochenen Befehl bei der Bank nichts bewirken. Das Papier sind Sie selbst. Vergleiche hinken, meiner auch. Vielleicht ist dieser aber doch wenigstens ein bisschen plausibel.
Sebastian:
Ich werde darüber nachdenken. Bisher glaubte ich zu wissen, dass ein Stück Brot nicht gleichzeitig Fleisch sein kann. Jetzt ist meine Überzeugung nicht mehr ganz so sicher.
Jonas:
An den Zusammenhang zwischen Brot und Wein beim Abendmahl mit dem Tod am Kreuz und der Auferweckung wird uns ja in jeder Messe immer wieder in Erinnerung gebracht. Ich sehe, dass unser Gott als Brot und Wein immerfort bei uns bleiben will. Es scheint, als sei ihm der geringste Mensch noch zu hoch für seinen Dienst an uns. Das Brot bin ich, sagt Jesus. In dieser Gestalt werde ich immer bei euch bleiben, denn ich ermächtige Euch, das Gleiche wie ich zu meinem Gedächtnis zu tun. Sind wir dazu eigentlich nach Ihrer Meinung alle bevollmächtigt?
Lukas:
Dazu sage ich erst einmal ein Ja! Niemand ist von dieser Vollmacht ausgeschlossen. Weder die Hautfarbe, noch die Nation, noch die gesellschaftliche Stellung, noch ein anderes Kriterium schließt von dieser Ermächtigung aus. Nicht einmal eine moralische Verfehlung.
Daniel:
Aber die kirchliche Praxis ist so weitherzig nicht!
Lukas:
Freilich, es hat sich schon sehr bald als praktisch erwiesen, der Gemeinde und damit der Kirche die Aufgabe zu übertragen, darüber zu entscheiden, wer nun unter allen jeweils das Recht ausüben soll.
Jonas:
Auf diese Weise entwickelte sich nach und nach ein Amtspriestertum. Diese Entwicklung ist im Grunde ja auch ganz gut. Leider versteinerten nun aber die Auswahlkriterien der Kirche sosehr, dass sie jetzt eine mir notwendig erscheinende Flexibilität vermissen lässt.
Lukas:
Können Sie das noch etwas deutlicher sagen.
Jonas:
Nun, soviel ich weiß, haben wir keine Einschränkung bezüglich der Herkunft der Priester. Insofern scheint mir alles in Ordnung. Ich kann auch den Zölibat verstehen. Ob der nun aber überall in der Welt der einzig richtige Weg ist, möchte ich bezweifeln. Eine Empfehlung dazu fände ich viel besser.
Daniel:
Mir scheint aber gar nicht gut, dass keine Notregelung besteht, die es ermöglicht, als Ausnahme Notpriester zu bestellen, wenn "ordentliche" Priester nicht verfügbar sind. Ich sehe auch keinen Grund dagegen, dass die Bestallung dann nur für eine gewisse Zeit gegeben würde, um Fehlentwicklungen vorzubeugen.
Lukas:
Das ist ja sehr interessant, was Sie da meinen. Nur im dritten Evangelium kann ich wirklich keinen Anhaltspunkt für oder gegen Ihre Vorstellungen finden. Es mag durchaus sein, dass die heutige Kirche manchmal etwas unbeweglich erscheint, aber ich möchte denken, dass der Geist immer noch Wege findet, die Entwicklung der Kirche in die Richtung zu führen, die ihrer Aufgabe entspricht.
Daniel:
Die Kirche strapaziert unsere Geduld aber ganz schön!
Lukas:
Geduld ist eine Tugend! Doch bleiben Sie nur immer ungeduldig. Verlieren Sie aber auf keinen Fall das Gottvertrauen. Denn der Geist führt die Kirche, nicht die Menschen.
Alexander:
Mir gefällt das nicht so ganz, was Jonas und Daniel über die Priester gesagt haben.
Lukas:
Ja, es fehlt noch etwas. Was meinen Sie?
Alexander:
Was war zuerst? Die Gemeinde oder der Priester? Ob ich an den Auftrag im Abendmahlsaal anknüpfe oder an die Geistausgießung zu Pfingsten. Die Initiative ging von Gott aus. Jesus berief die Apostel und Jünger und sandte sie zu allen Völkern. Dort gründeten Sie Gemeinden. Sie bauten die ersten Strukturen, damit darin ihre Berufung weitergegeben werden konnte. Das geschieht durch die Weihe.
Jonas:
Dazu möchte ich aber auch noch was sagen.
Lukas:
Ich bin gespannt.
Jonas:
Also, da erzählen Sie doch selbst in Ihrem zweiten Buch, im ersten Kapitel in den Versen 15-26, wie die Apostel ihr Zwölferkollegium wieder ergänzt haben, nachdem Judas tot war. Sie hatten zwei Kandidaten. Unter denen ließen sie das Los entscheiden. Aber die beiden waren ja vorher schon vorgeschlagen worden. Offenbar von den 120 Jüngern, die anwesend waren. Von einer Gemeinde also. Natürlich, eine Gemeinde braucht einen Gemeindeleiter. Das war Petrus in dem Falle. Aber es gibt keine Anzeichen, dass Petrus diese Gemeinde gegründet hat.
Lukas:
Nein darüber habe ich nichts geschrieben. Wer zu den Mitgliedern dieser Gemeinde zählte, können Sie davor in den Versen 13 und 14 lesen. Also, wenn ich recht sehe, so ist unsere Frage die: Sollen die Priester und Gemeindeleiter der Kirche von den Gemeinden selbst gewählt oder sollen sie berufen werden?
Susanne:
Ich meine vor jeder Weihe müssten die Kandidaten der Gemeinde präsentiert werden. O, da fällt mir ein. Ich war mal bei einer Diakonatsweihe dabei und dort hat ein Priester alle Kandidaten dem Bischof vorgestellt und ausdrücklich dazu gesagt, das "Volk" wünsche die Weihe.
Lukas:
Das finde ich aber gut. Dann ist ja beides da: der Vorschlag durch die Gemeinde und die Weihe durch den Bischof, den Nachfolger der Apostel.
Susanne:
Solchen Optimismus teile ich nicht, denn ich sann damals schon darüber nach, wer das "Volk" wohl gefragt habe. Und welches Volk.
Claude:
Jetzt fällt mir noch etwas ein: Was wäre denn geschehen, wenn damals in Jerusalem eine Frau vorgeschlagen worden wäre. In der Gemeindeliste haben Sie auch Frauen ausdrücklich erwähnt.
Lukas:
Es ist absolut sinnlos, sich Gedanken darüber zu machen, was hätte geschehen können, wenn zu irgendeinem Zeitpunkt eine bestimmte Entscheidung anders getroffen worden wäre. In Vers 8 desselben Kapitels sagt der Auferstandene zu den Jüngern: "und ihr werdet meine Zeugen sein...". Die Wahl einer Frau als Ersatz für Judas wäre damals sehr unzweckmäßig gewesen, denn die Frau war überhaupt nicht zeugnisfähig. Wie hätte sie ihrer Aufgabe gerecht werden können. Diese Situation hat die Frauen damals nicht abgehalten, in den Gemeinden mitzuarbeiten. Schon wenig später werden sie in den Briefen meines Freundes Paulus als tüchtige Mitarbeiterinnen genannt.
Martin:
Sollten wir nicht jetzt wieder zu unserem Text zurückkehren?
Lukas:
Natürlich, das müssen wir! Sicher haben Sie eine Frage.
Martin:
Verzeihung, ich wollte nicht kritisieren, sondern das Thema wieder auf Ihr Buch zurückführen. Sie gerade haben ja an mehreren Stellen nicht nur Frauen als Jüngerinnen erwähnt, sondern ausdrücklich deren Zeugnis innerhalb der Gemeinde klar unterstrichen. Mir ist die Bedeutung dieser Stellen gerade in dieser Hinsicht früher nie so klar gewesen.
Lukas:
Ich meine, ich hätte gestern Morgen schon deutlich gemacht, dass ich Jesus unter anderen auch als Freund der Frauen habe darstellen wollen. Jesus hat um sich einen Raum geschaffen, in dem Frauen selbstverständlich mitmachen konnten.
Martin:
Ich finde es beeindruckend, wie selbstverständlich Sie damals schon das Zeugnis der Frauen zur Grundlage Ihres eigenen Glaubens und Zeugnisses gemacht haben. Es kommt mir fast vor wie eine Vision, deren Erfüllung wir gerade in ihren Anfängen erleben.
Lukas:
Nicht gar so überschwänglich! Es stimmt allerdings, dass zur Zeit der Abfassung meines Buches Frauen in der Kirche voll mitarbeiteten im Dienst am Reiche Gottes in Wort und Tat. Viele von ihnen wurden aus diesem Grunde Opfer von Verfolgungen.
Gudrun:
Da scheint ja in späterer Zeit einiges verschüttet zu sein, das wir heute mühsam wieder ausgraben müssen.

Hiernach gab es eine kleine Denkpause. Dann meldete sich

Dominik:
In Kapitel 22 mit Vers 63 fängt es an und in Kapitel 23 geht es weiter. Das ist doch kein Prozess, der da abrollt. Das ist doch eine Kette von Verstößen gegen das Recht. Ich kann ja begreifen, dass die jüdischen Behörden Jesus gern loswerden wollten, dass sie dazu aber solche Räubermethoden anwendeten.
Lukas:
Können Sie das mal näher nennen, was Ihnen so böse aufgefallen ist?
Dominik:
Vers 63: Sie trieben Spott mit ihm, sie schlugen ihn. Wer gibt den Wächtern vor oder im Prozess das Recht zu schlagen? Oder das Verhör: Sie fragen "Du bist also der Sohn Gottes?" Seine Antwort: "Ihr sagt es, ich bin es" Darauf dieser oberste Richter: "Ihr habt es gehört, was brauchen wir noch Zeugen!" Freilich Zeugen brauchten sie nicht, Jesus sagte die Wahrheit über sich. Aber zu einer Verurteilung gehört doch wohl die Aufklärung des Sinnes und der Richtigkeit dessen, was der Angeklagte gesagt hat. Wie soll man sonst den Sachverhalt, als Grundlage für ein Urteil, klären? Und dann: Vor welches Gericht gehört denn der Angeklagte? Vor eine religiöse Instanz? Da war er beim Hohen Rat richtig. Warum dann vor Pilatus? Der schiebt ihn wieder an Herodes! Der wieder zurück an Pilatus. Der hält ihn für unschuldig. Aber er lässt ihn erst einmal auspeitschen. Das ist eine Strafe, zu der man verurteilt werden muss! Pilatus macht das aus dem Handgelenk. Dann lässt er einen Mörder frei und verurteilt Jesus zum Tode. Das alles schaffen die in ein paar Morgenstunden.
Lukas:
Ich glaube, da könnte ich noch etwas hinzufügen. Denn der Verurteilte wird ja nicht einfach hingerichtet, sondern ans Kreuz geschlagen. Das war die grausamste Strafe überhaupt. Sie war vorgesehen für entlaufene Sklaven und für Staatsfeinde.
Susanne:
Und die Leute schauten sich das an, als sei es ein Schauspiel. War das allgemein so?
Lukas:
Ja.
Sebastian:
Sagen Sie aber bitte nicht, die Welt sei damals eben grausamer gewesen. Leider kommen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten auch dieses Ausmaßes heute noch vor.
Susanne:
Aber selbst die übelsten Machthaber versuchen ihre Untaten vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Lukas:
Als ich den Bericht damals aufschrieb, hatte ich nicht das Gefühl etwas ungewöhnlich Grausames mitzuteilen. Für uns lag der Skandal vor allem darin, dass Jesus den Tod eines verbrecherischen Sklaven erdulden musste. Heute sind Sie viel sensibler, als wir es waren. Vielleicht sind Sie Jesus in seiner Menschlichkeit näher als wir.
Wolfgang:
Susannes Feststellung könnte ein gewisses Indiz für die Richtigkeit Ihrer Meinung sein. Grausamkeiten werden heute meist der Beobachtung entzogen. Trotzdem glaube ich, dass auch in unserer Zeit selbst eine grausame Kreuzigung noch ihre Zuschauer hätte.
Jonas:
Ich hätte noch eine Frage zu Ihrer Darstellung! Es ist die knappe Mitteilung im Vers 26 des Kapitel 23. Da wird ein Mann gegriffen, um Jesus das Kreuz zu tragen. Konnten denn die Soldaten das so einfach machen?
Lukas:
Ja, das konnten die. Jeder Jude war verpflichtet, einen Soldaten auf dessen Anforderung hin eine Meile zu begleiten, und ihm das Gepäck oder eine andere Last zu tragen.
Jonas:
Nach Ihrer Formulierung nehme ich an, dass dieser Simon das Kreuz allein tragen musste.
Lukas:
Ja, so scheint es gewesen zu sein. Das war aber nicht etwa eine Freundlichkeit des Kreuzigungskommandos, sondern nur die Einsicht, dass Jesus vielleicht nicht bis an den Richtplatz gekommen wäre. Die "Auspeitschung" war eine so grausame Strafe, dass mancher sie nicht überlebt hat. Jesus wird schon sehr schwach gewesen sein.
Christoph:
Für einen einzelnen Mann dürfte das Kreuz aber auch ziemlich schwer gewesen sein, wenn der Simon nicht nur den Querbalken getragen hat.
Lukas:
Das hab ich angenommen. Nur den Querbalken. Der Pfosten stand schon an der Richtstätte. Dafür kann ich mich zwar im Falle Jesu nicht verbürgen. So war es aber meist.
Anja:
In den dann folgenden Versen 27-31 bringen Sie eine Szene, die Jesus aber gar nicht so schwach erscheinen lässt. Er hält ja geradezu eine Rede an die Frauen. Wenn ich das Gewühl in der engen Straße und die Schmerzen, die er doch zweifellos hatte, bedenke, kommt mir das Ganze sehr unwirklich vor.
Lukas:
Unwirklich ist es nur, wenn Sie als wirklich allein das nehmen, was Sie sehen und hören können. In einem anderen Sinne aber geben die Verse eine harte Wirklichkeit wieder.
Anja:
Das müssen Sie mir noch etwas erklären.
Lukas:
Sie wissen doch, ich wollte Jesus als wirklichen Menschen darstellen. Dazu gehören auch Angst, Enttäuschung und Zorn. In welchen Zusammenhang konnte ich diese menschlichen Regungen besser darstellen als hier auf dem Wege zu seiner Hinrichtung?
Anja:
Sie meinen, das sei die Stunde der Wahrheit? Was hat Sie darauf gebracht?
Lukas:
Vielleicht sollten Sie sagen: Stunde der vollen Wahrheit. Die Wahrheit hat Jesus immer verkündet, wenn auch zum besseren Verständnis seiner Zuhörer in Gleichnissen. Eine kleine Notiz, überliefert von den Frauen, die seinen Weg begleitet hatten, gab mir den Anstoß.
Anja:
Wieso zeigen Sie nun mit diesen Versen die Menschlichkeit Jesu?
Lukas:
In den Worten an die Frauen versuche ich, seine innere Bewegung auszudrücken. Ein moderner Schriftsteller hätte sich vielleicht mit einer Schilderung der Vorgänge in seiner Seele versucht. Ich habe es als Monolog dargestellt.
Christoph:
Monolog stimmt doch gar nicht. Er hat doch zu den Frauen geredet.
Lukas:
Aber die haben nicht geantwortet. Vielleicht haben sie seine Worte überhaupt nicht verstehen können. Aber machen Sie sich einmal frei von Überlegungen, die sich mit dem äußeren Vorgang befassen. Ich habe Gelegenheit genommen, Jesus unmittelbar vor dem Ende seines Lebensweges noch einmal als Mensch zu zeigen.
Lara:
Als barmherziger Mensch, der trotz eigener Notlage noch an die armen Frauen denkt.
Lukas:
Nein, so nicht! Noch nicht! Stellen Sie sich bitte vor: Jesus ist auf dem Wege zur Hinrichtung und im Augenblick von seinem Kreuz befreit. Da überfallen ihn alle seine Emotionen. Ich habe den Schlüssel für das Verständnis der Verse an das Ende der Rede gelegt: "Wenn das am grünen Holze geschieht, was wird dann am dürren geschehen?"
Wolfgang:
Darf ich mal versuchen, diesen Satz mit unseren Worten aufzuschließen?
Lukas:
Ja, bitte!
Wolfgang:
Das könnte dann vielleicht so klingen: Zunächst war er sehr niedergeschlagen, wenn er daran dachte, dass er die gute Botschaft von Gottes Reich verkündet, und dass die Leute, für die diese Botschaft bestimmt ist, und die sie ihrerseits weitergeben müssten, nicht einmal mit ihm gesprochen hatten. Sie hatten ihm keine Chance gegeben, sich zu erklären. Auch im Vertrauen auf ihr Gefühl für Gerechtigkeit hatte er sich in die Hände der Ratsherren gegeben. Aber sie hatten ihn unter aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen an den Römer verraten, nur um ihn zu liquidieren. Sie haben seine Predigt für eine Bedrohung gehalten, haben sich angemaßt, über Gut und Böse entscheiden zu können. Als wären sie Gott selbst. Aber bei ihnen ist gut, was ihnen nützt, böse, was ihnen vielleicht Nachteile bringt. Er fühlte ihre Ungerechtigkeit als eine fürchterliche Gotteslästerung. Zugleich wurde ihm schrecklich bewusst: Wenn man mit mir, der ich niemanden Böses getan habe, so grausam umgeht, wie dann erst mit denen, die tatsächlich böse handeln. Schließlich stand vor seinem geistigen Auge nicht mehr nur sein eigener Tod. Der war beschlossene Sache und für ihn schon fast Geschichte. Aber das an ihm geschehene Unrecht musste neues Unrecht hervorbringen. Dabei würde es noch grausamer zugehen als jetzt bei ihm selbst.
Lukas:
Ihre heutigen Schriftsteller würden so oder ähnlich schreiben, um Jesu Gedanken auszudrücken. Zu unserer Zeit benutzte man lieber eine direkte Rede. So hab ich das auch gemacht. Ist das nun unwirklich oder wirklich?
Anja:
Sie haben mit knappen Worten eine aufgewühlte Seele wirklich dargestellt. Dafür benötigte Wolfgang viele Worte.
Friederike:
Aber Sie zeigen auch an diesem Tiefpunkt Jesus noch als den, der zuerst an andere denkt. An die Frauen. Ihnen wird es schlechter gehen als ihm jetzt.
Christiane:
Warum sagst Du Tiefpunkt? Der war doch bei seinem Tod am Kreuz!
Friederike:
Ich habe etwas weitergelesen. Die nächsten Worte Jesu sind die an den Schächer: "Heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein!" Und dann kommt: "Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist". Keine Andeutung mehr von Depression, sondern unerschüttertes Vertrauen in den Vater.
Lukas:
Ich glaube das Lesen im Evangelium macht ihnen jetzt schon richtige Entdeckerfreude. Hat noch jemand eine Frage zu dieser Stelle? Nein? Dann bitte Thomas.
Thomas:
Wir müssen noch einmal zurückblättern bis zu den Versen 54-62 im Kapitel 22. Da beschreiben Sie einen Vorgang, nämlich die Verleugnung Jesu durch Petrus, der um die Zeit der Abfassung Ihrer Schrift "Schnee von gestern" war. Auch die anderen Evangelisten haben das berichtet, das muss doch einen besonderen Grund haben.
Lukas:
Wir anderen haben diese Geschichte von Markus, und der von Petrus, zu dem er ein sehr freundschaftliches Verhältnis hatte. Wie sonst hätte er Kenntnis von diesem Geheimnis zwischen Jesus und ihm haben können?
Thomas:
Nun gut, Markus könnte das noch zu Lebzeiten seines Freundes aufgeschrieben haben. Petrus könnte durch die Kunde von seinem Fehlverhalten einem Personenkult, den es ja zu allen Zeiten zu geben scheint, entgegengewirkt haben. Aber Sie und die beiden anderen?
Maria:
Na, Thomas, Du hast selbst gesagt, dass die Neigung zum Personenkult jederzeit vorliegt. Könnten die anderen nicht bei den Nachfolgern in Rom auch schon Ansätze gesehen haben?
Thomas:
Doch das könnten sie. Ich glaube aber, es könnte noch andere Gründe gegeben haben. Markus hat seine Schrift "Frohe Botschaft" genannt, also könnte die Stelle doch auch, neben einer Mahnung zur Vorsicht, einen Trost oder eine Hoffnung bereit haben. Die andren wollten vielleicht gerade das weitergeben.
Lukas:
Danach lohnte sich zu forschen.
Thomas:
Zunächst bietet sich mir ein Vergleich an zwischen Judas, der sich aus Verzweiflung das Leben nimmt, und Petrus, der aus Reue weint.
Lukas:
Das scheint Ihnen aber zu billig, nicht wahr?
Thomas:
Ja, das ist so. Wir haben doch gestern über die Bitte "und führe uns nicht in Versuchung!" im Vaterunser gesprochen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Geschichte der Verleugnung Jesu dazu eine Art Illustration sein könnte. Petrus scheint mir ein Mann gewesen zu sein, der sich und seinem Glauben alles zutraute. Gerade er erlag der Gefahr, Jesus zu verleugnen. Vor dieser Gefahr ist auch der erste Mann der Kirche nicht gefeit.
Susanne:
Ich könnte mir vorstellen, dass diese Gefahr für alle besonders mutigen Christen damals sehr groß war. Ist sie heute auch noch, vor allem, wenn man den Spott als Bedrohung mitrechnet.
Jonas:
Geh' nicht zu nah ans Feuer! heißt es doch.
Lukas:
Tatsächlich hat im Hof des Hohen Priesters ein Feuer gebrannt. Ganz bestimmt ist die Verleugnungsgeschichte keine böse Nachrede gegenüber Petrus. Es ist Mahnung, ja, aber es ist auch Trost für alle Christen, die in der Gefahr einmal ihren Jesus verleugnet hatten. Also Frohbotschaft!
Christian:
Jedesmal, wenn ich die Passion lese, stelle ich mir die Frage nach dem Warum.
Lukas:
Dieselbe Frage, die Jesus den beiden Wanderern nach Emmaus aus der Schrift beantwortete.
Christian:
Aber seine Antwort besagt doch nicht mehr, als dass Gott schon den Propheten den gewaltsamen Tod seines Sohnes offenbart hat. Das "Warum?" bleibt.
Lukas:
Mir hat das seinerzeit genügt. Es war Gottes Wille! Später haben Theologen diesen Willen Gottes zu erklären versucht.
Alena:
Ja z.B.: Die Sünde Adams war eine so unendlich schwere Beleidigung Gottes, dass sie durch ein entsprechend wertvolles Opfer gesühnt werden musste. Nur Gottes Sohn konnte dieses Opfer sein.
Andreas:
Oder andere lehren: Gott liebt seine Menschen. Als sie sich von ihm abgewendet hatten, schickt er Propheten und zuletzt seinen Sohn. Aber der wird ans Kreuz geschlagen. Doch Gott nutzt diese Untat, um seine Herrlichkeit zu offenbaren.
Lukas:
So hat es Jesus selbst auch gesehen und in seinem Gleichnis von den bösen Winzern dargestellt. Wir haben das im Kapitel 20 gelesen. Allerdings steht da nichts von Offenbarung der Herrlichkeit, sondern eher von einer Warnung.
Luke:
Na gut. Aber wieder andere lehren: Jesus ist der Sündenbock, dem die Sünden der ganzen Menschheit aufgeladen werden, damit er durch seinen Tod jede von ihnen sühne.
Lukas:
Ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Meinungen Ihnen ausreichen.
Christian:
Nein wirklich nicht! Ich halte das alles für Vermutungen oder gar Berechnungen, die zu meiner Vorstellung vom Gottes Barmherzigkeit nicht passen wollen.
Lukas:
Ich vermute, Sie haben eine eigene Antwort auf das "Warum?".
Christian:
Ich weiß nicht recht.
Jonas:
Los, sag doch, was Du denkst!
Christian:
Na gut, wenn niemand was dagegen hat!

Niemand hatte etwas dagegen.

Christian:
Ich stelle mir das so vor: Gott ist der Schöpfer des Universums und darin unserer Erde, dieses winzigen Staubkörnchens. Auf dieser Erde schafft er das Leben. Das entfaltet sich nach seinen Gesetzen. Zuletzt erscheint der heutige Mensch. Ausgestattet mit Verstand und freiem Willen und der Fähigkeit zu lieben. Andere Menschen, ein Ideal, Gott! Ein solches Wesen wollte der Schöpfer und darum entstand es. Gott blieb inmitten seiner Schöpfung immer gegenwärtig. Aber nur langsam, sehr langsam lernten die Menschen ihn durch ihre Erfahrungen erahnen. Doch je mehr Wissen über ihre Welt sich die Menschen aneigneten, umso weniger trauten sie sich, sich allein auf Gott zu verlassen. Sie glaubten selbst zu wissen, was gut und was böse sei. Aber für jeden einzelnen war gut, wer oder was ihm nutzte, und böse, wer oder was ihm etwa schaden konnte. Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen und Unterdrückung waren die Folge. Manche Menschen herrschten über andere Menschen. Um sie von ihrem eigensüchtigen Denken zu befreien, wurde Gott einer von uns. Aber nicht ein mächtiger König, nein, er wurde einer von denen, die ständig die Gewalt der Machthaber im Nacken haben. Er verkündete und lebte das "Reich Gottes", in dem der der Erste ist, der allen ein Diener geworden ist. Das Kreuz ist für mich das Zeichen für "ganz unten". Jesus ist der Diener, ja der Sklave aller. Darum ist er der Erste im Reiche Gottes. Niemand kann sich von diesem gekreuzigten Gott unterdrückt fühlen. So erkenne ich die gute Botschaft vom Kreuz!
Lukas:
Das, Christian, scheint mir die Kurzfassung eines wichtigen Themas meines Buches. Wir haben über die Verse 24-27 im Kapitel 22 schon gesprochen. Vielleicht lesen Sie sie nochmals. Sie werden dann verstehen, was Christian vermutet.

Es trat eine Pause ein.

Offenbar waren alle von der Vorstellung "ganz unten" für Gott so gefangen genommen, dass es ihnen schwer fiel, anderen Gedanken nachzugehen. Dann aber meldete sich:

Michael:
Ich möchte gerne noch einmal auf ein Ereignis bei der Kreuzigung Jesu zurückkommen.
Lukas:
Das wäre gut. Christians Zeugnis hat uns so in seinen Bann geschlagen, dass wir die Ereignisse erst einmal vergessen hatten. Michael will uns wieder zurückführen. Also bitte!
Michael:
Sie schreiben in Kapitel 23 über den Tod Jesu. Sie sind nicht dabei gewesen. Die Informanten waren sich offenbar einig darüber, dass Jesus kurz vor seinem Tode noch einmal laut gerufen hat. Dieser Ausruf war zweifellos eine gewaltige Kraftanstrengung, denn er musste sich dazu an den Nägeln hochziehen, damit die Lungen die nötige Luft hatten. Sie geben dem, was Jesus gerufen hat, eine gewisse Weihe, wenn Sie in Vers 46 aus dem Psalm 31 die Worte: "Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist." zitieren. Wollten Sie damit gewissermaßen Jesus am Ziel seines Lebens darstellen?
Lukas:
Ja. das wollte ich. Vielleicht aber erinnern Sie sich an das, was ich gestern über das Wirken des Heiligen Geistes vor Beginn der Aufzeichnung meines Buches gesagt habe. Ich fühlte mich so eins mit Jesus, dass ich seine Todesstunde wie meine eigene erlebte. Mein letztes Wort konnte in meiner Erwartung nur durch diesen Psalmvers ausgedrückt werden.
Jonas:
Dann sind die Worte in Wirklichkeit gar nicht gesprochen worden?
Lukas:
Da sind wir wieder bei der "Wirklichkeit". Gestern Morgen habe ich Ihnen über die Zeit unmittelbar vor der Abfassung meines Buches erzählt. Ich möchte es jetzt wagen zu behaupten, Jesus und ich, wir waren damals in einer gewissen Weise eins. Ich war mir sicher, besonders in seiner Todesstunde, wie er zu fühlen. Es war Wirklichkeit, ähnlich einer Stigmatisierung. Was die Umstehenden von Jesu Worten mitbekommen haben, ist etwas ganz anderes. Wahrscheinlich konnten sie ohnehin kaum etwas verstehen bei dem Lärm, der beim Kreuz geherrscht hat. Markus deutet so etwas wie Missverständnis an. Wirklichkeit ist, dass Jesus den Sinn seiner Menschwerdung in seinem Tode erreicht hatte. Mit Christian gesprochen, war er ganz unten angekommen. Er hatte gesiegt!

Lukas schwieg und wir sagten lange auch nichts. Endlich meldete sich Andreas. Lukas nickte ihm fast erstaunt zu:

Andreas:
Nun sind wir in unseren Gesprächen bis zum Karfreitag nach Golgatha gekommen. Aber es gibt noch ein Kapitel das uns nach Ostern zur Auferstehung bringt. Es ist das letzte in Ihrem Buch. Darin steht Ihr Bericht über die beiden Jünger, denen Jesus auf dem Wege als Auferstandener, als Lebender den Sinn seines Leidens erklärt. Wir sprachen schon darüber. Aber das Kapitel erzählt auch von den Frauen, die Morgens zum Grab gehen, um den Leib Jesu endgültig zu versorgen. Offenbar war er wegen des Paschafestes nur unvollkommen und provisorisch bestattet worden. Die Frauen fanden ein leeres Grab vor und erhielten von zwei Männern die Auskunft von der Auferstehung.
Lukas:
Welche Frage haben Sie denn nun dazu?
Alena:
Ich glaube, die kann ich mir gut vorstellen. Es sind die Frauen, die nun doch Zeugen sein sollen.
Lukas:
Meinten Sie das, Andreas?
Andreas:
Ja, das ist mein Problem. Nun war ja das ganze wichtige Zeugnis von der Auferstehung allein bei den Frauen. Sie haben uns aber doch in Zusammenhang mit der Nacht vor seiner Verhaftung, dass Jesus die Frauen zurückgelassen habe, weil ihr Zeugnis ohnehin nicht gewertet worden wäre.
Lukas:
Vor dem Hohen Rat hätte ihr Zeugnis wirklich nichts gegolten Aber die Evangelisten haben das Zeugnis der Frauen alle übernommen. Am ausführlichsten Johannes. Ich bin überzeugt, dass unsere vielen Quellen darin übereinstimmten, dass die Frauen als erste am Grab waren. Sie haben die Botschaft vom leeren Grab den anderen Jüngern gebracht. Die haben sich dann selbst überzeugen können. Offenbar haben ihnen aber die Indizien keine rechte Sicherheit gegeben. Es bedurfte noch der Erscheinungen des Auferstandenen selbst bis der Glaube so gefestigt werden konnte, dass die Jünger Frauen und Männer für ihn in den Tod gehen konnten.

Niemand meldete sich mehr zu einer Frage Erst nach einer ganzen Weile, als sich wieder Bewegung im Raum bemerkbar machte. erhob sich der Leiter und machte sich zum Sprecher aller:

"Herr Lukas,

ich brauche Ihnen wohl kaum zu versichern, dass wir Ihnen für zwei unvergessliche Tage zu danken haben. Ich bin ganz sicher, dass ich im Namen aller Anwesenden spreche, wenn ich Sie nun bitte, zum Abschluss dieser Tage mit uns zu beten." Lukas nickte, schwieg eine Zeitlang und begann dann:

 
"Vater, dein Name werde geheiligt.
Lass uns immer daran denken, dass unser Leben von dir kommt.
Dein Reich komme
Lass es uns jetzt schon gewahr werden.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen.
Lass uns mit Dankbarkeit essen und teilen, was wir haben.
Und erlass uns unsere Sünden;
denn auch wir erlassen jedem, der uns etwas schuldig ist.
Gib und die Kraft und die Freiheit, damit wir nicht Sklaven
des Geldes und unseres Besitzes werden.
Und führe uns nicht in Versuchung.
Ja, lass uns niemals in die Lage kommen, unsere Mitmenschen
übervorteilen oder zu bedrücken zu können."

Alle antworteten: Amen



Hier den Text als pdf herunterladen