Oskar Herwartz: Das neue Leben des König Abgar




Inhaltsverzeichnis




VORWORT.

Der Historiker Eusebios lebte von etwa 263 bis 339 n.Chr. Er schrieb eine Kirchengeschichte und war Biograph des Kaisers Konstantin. Seine ausgedehnten Reisen in dessen Reich führten ihn auch nach Edessa. Die Stadt heißt heute Urfa und liegt in der Türkei nahe der Grenze zu Syrien. Dort fand er im alten königlichen Archiv einen Briefwechsel zwischen dem König Abgar V. der von 6-46 n.Chr. lebte, und Jesus.

Sein Bericht über diesen Fund ist für den interessierten Leser auf den letzten Seiten dieses Buches abgedruckt. Er ist der Hintergrund dieser Erzählung

Mein Interesse richtete sich auf drei Punkte:

Zum einen stellte ich mir vor, ich hätte einen solchen Bescheid bekommen, wie der kranke Abgar ihn von Jesus erhielt. Ob ich die Geduld des Königs gehabt hätte? Ich glaube kaum. Darum hat sie mir großen Eindruck gemacht.

Zum anderen wusste ich von einem uralten Theologenstreit um die Frage. ob Jesus etwas Schriftliches hinterlassen habe. Ich habe mit meiner Erzählung den Versuch einer Vermittlung unternommen, der das Zeugnis des Eusebios auch für die annehmbar machen könnte, die Jesus für einen Analphabeten halten.

Und drittens wollte ich versuchen, die Verwirklichung des Gottesreiches im Modell von Edessa darzustellen. Die im Bericht des antiken Historikers genannten Namen sind in der Erzählung weitgehend erhalten geblieben.

Meckenheim, den 1. 11.1993

Der Größte unter euch werde wie der Kleinste und der Herrschende wie der Diener.


In alten, längst vergangenen Zeiten erzählte man sich in Edessa folgende Geschichte:

DAS NEUE LEBEN DES KÖNIGS ABGAR

Es war zu der Zeit, als Tiberius Kaiser in Rom war und seine Soldaten die römische Macht nach Osten schon bis an den Euphrat vorgeschoben hatten, so daß der Fluß nun die Grenze zum mächtigen Reich der Parther bildete, da herrschte über die Stadt Edessa der König Abgar. Zwar war er kein ganz selbständiger Fürst, sondern in einer gewissen Abhängigkeit von der östlichen Großmacht, aber in seiner Stadt war er der Herr, der seine Herrschaft schon von seinen Vätern irnd Vorvätern übernommen hatte. Darum konnte er sich auch der Fünfte seines Namens nennen.

Seine Regierungszeit war ruhig. Kein Feind konnte die feste Stadt ernsthaft bedrohen. Die Straßen, auf denen die Handelskarawanen Seide aus China und Gewürze von den indischen Inseln in die Stadt brachten, wurden ohne besondere Mühe durch seine Soldaten von Räubern aller Art freigehalten. Die Macht des Königs sorgte auch dafür, dass alle Waren in der Stadt feilgehalten wurden, ehe sie zu den Häfen am Mittelmeer oder am Schwarzen Meer weiter transportiert wurden. Dadurch wurden nicht nur die Handelsherren reich. Die Handwerker, die Wirte und alle anderen, die von der Versorgung der Fremden und ihrer Tiere lebten, konnten sich ebenso eines hübschen Wohlstandes erfreuen.

Auch die Schatzkammer Abgars füllte sich mit Reichtümern und mancherlei seltenen Kostbarkeiten. Ein Archiv hütete die Kontrakte und Verträge, die zum Wohle der Stadt und seiner Bewohner abgeschlossen worden waren, und dazu noch mancherlei Dokumente zur Geschichte der Stadt und seines Königshauses.

Abgar hätte also durchaus ein glücklicher König sein können, denn er war ein Mann, der mit seinem Geschick zufrieden war, und der nicht etwa nur danach dürstete, seinen Reichtum und seine Macht zu verliehren.

Leider litt er aber an einer bösen Krankheit, die keiner seiner Ärzte heilen konnte. Immer wieder hatte er viel Geld ausgegeben, um aus dem ganzen Land Ärzte heranzuziehen, die ihn wieder gesund machen sollten. Aber niemand konnte das.

DIE KARAWANE AUS DEM SÜDEN

Da geschah es eines Tages, dass eine Karawane von Süden her in der Stadt eintraf und in der Karawanserei Quartier nahm. So etwas kam nicht oft vor, darum war es kein Wunder, dass die Reisenden von Tobias, dem Wirt, gebeten wurden, von ihren Erlebnissen während der Reise zu erzählen. Die Vorgänge in den von den Römern besetzten Gebieten erregten allgemein größtes Interesse.

Sogleich verstummten daher die Märchenerzähler und die Musikanten, die sonst im Hof der Karawanserei für Kurzweil am Abend sorgten. Alle, Fremde wie Einheimische, waren aufmerksame Zuhörer, denn Palästina war schon seit langem ein Wetterwinkel. Wer seine Ware heil dort hindurch bringen wollte, war sicher gut beraten, wenn er die Pax Romana, das ist der Friede, den die Römer für ihre Weltherrschaft propagierten, und die Realität dieses Friedens in den unterworfenen Gebieten richtig einschätzen konnte.

Alexander, der Führer der Karawane, kam denn auch gleich auf den Punkt: "Die schwierigsten Etappen unserer Reise waren zweifellos die in der Gegend von Jerusalem und am See Gennesaret. Das ist ja schon lange so. Erst kämpften dort die Erben des großen Herodes miteinander. Als dann die Römer dazwischen gingen, bekam der Herodes Antipas sein Stück am See, und die Römer annektierten Jerusalem und Judäa.

"Typisch die Römer! Wenn es irgendwo was zu ordnen gibt, und dabei auch noch was für sie selbst abfällt, sind sie dabei!" rief einer der Zuhörer dazwischen.

Alexander schaute sich erst erschrocken um, ob nicht ein Spion diesen Zwischenruf mitgehört hätte. Dann fuhr er fort: "Ruhe allerdings gab es deswegen nicht. Überall gibt es Rebellen sowohl gegen Antipas, wie gegen die Römer. Die verschiedenen Machtbereiche mit ihren Grenzen, die Gebirge und die Wüsten erleichtern es den Banden, sich der Verfolgung durch die Soldaten zu entziehen. Dazu kommt noch, dass die vielen religiösen Feste der Juden immer wieder unübersehbare Pilgermengen nach Jerusalem bringen. Deren Reaktionen auf oft ganz kleine Anlässe kann niemand voraussehen. Sie werden von den religiösen Führern oft als Gotteslästerung ausgelegt und.."

Wieder wurde Alexander von einem Zuhörer unterbrochen: "Na, großartig! Wenn Religion und Nationalismus zusammengehen, dann wird ein gemeiner Raub schnell zu einer patriotischen Tat, und ein Mord zum Racheakt für den beleidigten Gott."

"Genau so ist es. Dazwischen dann die römischen Soldaten, die auch nicht zimperlich sind, wenn sie Vergeltung üben nach einem wirklichen oder auch nur eingebildeten Angriff. Die machen keinen Unterschied zwischen Gegnern und Unbeteiligten. Da genügt ein Steinwurf um ein ganzes Haus nieder zu reißen, und die Bewohner entweder zu töten oder, wenn sie dazu taugen, in die Sklaverei zu verschleppen."

"Gibt es denn niemand, der da Ordnung macht?"

"Einer, der immer für Vernunft und gegen Gewalt gepredigt hatte, wurde auf Befehl von Antipas enthauptet, nur weil er diesem sogenannten König seine angeblich illegale Ehe vorgeworfen hatte. Aber Ruhe gab es deswegen natürlich nicht, denn gleich ist ein neuer Prophet aufgestanden, der ein Reich Gottes predigt, das in ganz naher Zukunft kommen soll. Mal sehen, was der Pilatus dazu sagt."

Alexander schloss seinen Bericht mit dem Rat: "Jedenfalls gärt es in der Gegend. Und wenn man kann, sollte man das Gebiet meiden."

"Seid Ihr denn selbst auch belästigt worden?' fragte Tobias

"Nicht unmittelbar," antwortete Alexander "aber man merkt ja die Sicherheitsmaßnahmen der Truppen. Außerdem hört man immer wieder von Zwischenfällen."

"Erzähle doch!" forderten die Zuhörer.

"Die Leute sprachen zum Beispiel von einer Provokation, die der Landpfleger Pilatus sich in Jerusalem erlaubt hatte, indem er das Bild des Kaisers im Tempel der Juden aufstellen ließ. Das soll einen Aufstand mit vielen Toten gegeben haben. Pilatus ist dafür vom römischen Senat oder sogar vom Kaiser Tiberius gerügt worden. Das hinderte ihn offenbar aber nicht, eine Gruppe von Juden, die ganz friedlich im Tempel opfern wollten, am Altar niederhauen zu lassen."

"Und warum hat er das gemacht?" wollte einer wissen.

Alexander zuckte mit den Schultern: "Den Grund dafür konnte mir keiner sagen."

Er schwieg ein paar Augenblicke, dann erinnerte er sich wohl daran. dass er jenseits des Euphrats war und sich ohne Gefahr eine Kritik erlauben konnte: "Diese sogenannten Landpfleger der Römer sind widerliche Tyrannen und heizen die Unruhen durch ihr Benehmen immer wieder an. Pax Romana gibt es nur für die Besatzer. Alles andere ist Dreck."

Aus dem Zuhörerkreis kamen ein paar Unmutsäußerungen als Zustimmung zu dieser offenen Bemerkung. Die meisten waren aber in ihrer Gier nach Sensationen enttäuscht, weil sie merkten, dass Alexander keine blutigen Zwischenfälle erlebt hatte, über die er hätte berichten können.

"Wie soll das enden?" fragte sich mancher und schon begannen die ersten wegzugehen, da meldete sich einer von den Kaufleuten, die mit der Karawane gekommen waren:

"Ich heiße Jonas und komme aus Naim, einem kleinen Ort in der Gegend an dem See. Diese Gegend heißt bei uns Galiläa."

"Ja, gut! Aber komm zur Sache! Was willst du uns von dort erzählen?"

"Alexander hat eben in seinem Bericht von einem Propheten gesprochen, der ein Reich Gottes für die nächste Zeit angekündigt habe."

"Na, gut! Los, fang an! Aber mach es nicht zu fromm! Was für ein Gott ist denn das überhaupt?"

"Du brauchst ja nicht hier sitzen zu bleiben, wenn ich dir zu langweilig bin. Jetzt aber erst einmal deine Frage. Eine besonders gute Frage, meine ich. Wenn Jesus, so heißt der Prophet, von dem ich erzähle, wenn Jesus also von Gott redet, dann meint er Jahwe, den Gott der Juden. Den nennt er seinen Vater und dessen Reich kündigt er an."

"Also ein religiöser Spinner! Darum soll ich hier sitzen bleiben?"

"Ich sagte doch: Du brauchst nicht."

"Los rede endlich!" ließen sich einige Stimmen hören.

"Auch ich wollte es nicht glauben, als ich zum ersten Mal von diesem Jesus hörte. Da wurde nämlich erzählt, er könne Krankheiten heilen. Ohne Behandlung und ohne Arznei!"

"Das gibt es doch nicht! Glaubst du das etwa jetzt?"

"Ich brauch' das nicht zu glauben. Ich habe bei uns in der Stadt gesehen. wie er einen Toten wieder lebendig gemacht hat. Mit meinen eigenen Augen habe ich das gesehen und ich bin bereit, das jedem unter Eid zu bezeugen."

"Bei Thanatos, so etwas habe ich noch nie gehört. Der Hades sollte einen Toten wieder heraus gegeben haben?"

Nun glaubten die meisten, den Kopf schütteln zu müssen. Es erschien ihnen einfach zu unglaublich, was Jonas ihnen da aufgetischt hatte. Dann konnten sie ja gleich zu den Märchenerzählern gehen. Das taten sie auch.

Das Leben im Hof der Karawanserei ging darauf wieder seinen gewohnten Gang. Die Reisenden, die am nächsten Tag weiter wollten, gingen zur Ruhe. Die anderen unterhielten sich noch bei einer Kanne Wein, hörten dem Märchenerzähler zu oder den Musikanten.

Tobias aber, der Wirt, bat Alexander und Jonas noch zu einem kurzen Gespräch. Als sie zu Dritt alleine waren, begann Tobias: "Jonas, was du da erzählt hast von dem Jesus, der einen Toten wieder lebendig gemacht hat, das ist, meine ich, auch wirklich nicht leicht zu glauben. Aber du scheinst mir kein Mensch zu sein, der andere zum Narren halten will. Darum glaube ich dir, dass Jesus Kranke gesund gemacht hat, ohne Arzneien und Kräuter. Wenn du mir das jetzt gleich noch einmal in Gegenwart von Alexander bestätigst, so muss ich das unserem König melden, der schon lange an einer Krankheit leidet, die niemand heilen kann."

"Das will ich gerne noch einmal bezeugen, auch vor deinem König, denn es ist wahr."

"Gut, dann melde ich das jetzt sofort dem König. Was der dann tut, bleibt abzuwarten."

"Heißt das, dass wir morgen früh nicht weiterziehen können?" fragte nun Alexander. "Das wäre aber schlecht."

"Zu meiner Meldung bin ich verpflichtet, Alexander. Ich hoffe aber, dass ihr deswegen nicht aufgehalten werdet. Komm jetzt, Jonas, wir wollen keine Zeit verlieren."

Die beiden gingen, so wie sie waren, zur königlichen Residenz und meldeten sich bei der Wache am Tor. Tobias war dort kein Unbekannter. So gab es keine Schwierigkeiten, nachdem er dem Wachhabenden die ungewöhnliche Botschaft des Jonas von dem Mann in Galiläa, der ohne Kräuter und Arzneien Krankheiten heilen konnte, klar gemacht hatte. Jedem in Edessa war die Krankheit des Königs eine persönliche Sorge.

Die Wache schickte sofort eine Ordonnanz in die Privatgemächer des Königs. Der Bote kam ziemlich schnell wieder zurück und überbrachte Jonas und Tobias den Befehl, sofort in den kleinen Audienzsaal zu kommen.

EINE KLEINE HOFFNUNG

Jonas und Tobias gingen also hinter dem Diener her, der ihnen mit einer Öllampe den Weg zum Audienzsaal beleuchtete. Der König war noch nicht da. Aber es dauerte nicht lange, bis sich eine Flügeltür öffnete, hinter der zuerst einige Lichter sichtbar wurden. Diener trugen in ihren Händen brennende Öllampen. Dann erkannte man andere Diener, die einen Tragstuhl an langen Stangen auf ihren Schultern trugen. Darauf saß, in einen dunklen Mantel gehüllt, der König. Die Diener setzten ihre Last auf einem etwas erhöhten Platz an einer Schmalseite des Raumes ab, zogen die Tragestangen aus den Ringen und stellten sich hinter ihren Herrn. Das spärliche Licht der Öllampen ließ sie vor dem Hintergrund fast verschwinden. Nur das Gesicht des Königs blieb hell im Widerschein der Lichter.

Tobias kniete nieder und berührte mit seiner Stirn den Fußboden. Jonas war als Ausländer zu solchem Kniefall nicht verpflichtet, aber er machte eine ehrerbietige Verbeugung.

Noch einmal öffnete sich eine Tür. Diesmal kam, wieder geführt von Lampenträgern, der Wesir Pyrrhon, den der König bei dieser späten, aber wichtigen Audienz keinesfalls vermissen wollte. Ein Sekretär mit Schreibtafeln und Stift begleitete ihn.

Mit einer Handbewegung forderte Abgar alle auf, Platz zu nehmen, und wandte sich zunächst an den Wesir: "Tobias hat mir soeben mitteilen lassen, in seiner Karawanserei seien Reisende aus Ägypten eingetroffen. Er wird dich morgen, wie üblich, über die Berichte dieser Fremdlinge bezüglich ihrer Erlebnisse und der Verhältnisse im Süden unterrichten. Der Grund für diese Beratung heute Nacht ist ein bestimmter Teil dieses Berichtes. Tobias, erzähle mir, was du heute erfahren hast!'

Tobias räusperte sich zuerst, dann berichtete er in kurzer Zusammenfassung, was er von Jonas gehört hatte. Er schloss mit den Worten: "Das alles hat dieser Mann hier heute Abend in meinem Gasthof erzählt. Er heißt Jonas und stammt aus dem Königreich des Herodes Antipas. Vor wenigen Stunden ist er mit einer Karawane aus Ägypten hier angekommen. Sie will schon morgen früh weiterziehen. Deshalb hielt ich es für meine Pflicht, dich noch heute Abend zu unterrichten."

Abgar nickte zustimmend. Dann klatschte er in die Hände. Es erschien ein Diener und nahm die Bestellung von Getränken entgegen. Als die nach kurzer Zeit serviert waren, richtete der Monarch das Wort an Tobias:

"Tobias, in welcher Sprache können wir mit dem Fremdling, den du vor meine Augen gebracht hast, sprechen. Spricht er griechisch oder nur ägyptisch?"

"Glücklicher König", antwortete Tobias, "du kannst in unserer Sprache mit ihm reden. Sein Dialekt ist nicht eben der unsrige, aber er spricht aramäisch, wie wir."

"Das ist gut, dann brauchen wir keinen Dolmetscher", freute sich der König und wandte sich an Jonas:

"So, Fremdling, sag uns, wie du heißt, woher du kommst und wiederhole ausführlich, was du heute Abend schon dem Tobias berichtet hast."

"Glücklicher König", begann Jonas, indem er die Anrede des Tobias nachahmte, "ich bin Jonas, Sohn des Jonas, aus der Stadt Naim im Lande Galiläa. Unser König heißt Herodes Antipas. Er ist ein Sohn von Herodes dem Großen."

"So bist du ein Jude?" fragte der Abgar.

"Ja ich bin ein Jude. Mein Gott ist der Gott meines Volkes. Sein Name ist Jahwe. Der hat uns einst aus dem Ägypterland befreit und durch die Wüste dorthin geführt, wo wir jetzt wohnen."

"Und du bist ein Kaufmann?" wollte der König nun wissen.

"Ja, ich bin ein Kaufmann. Aber ich habe mich zum ersten Mal auf eine Karawanenreise eingelassen. Ich hoffe, Jahwe wird meine Reise segnen."

"Wohin willst du denn?"

"Ich habe mich dieser Karawane angeschlossen, weil ich zum Ufer des Schwarzen Meeres will. Dort möchte ich versuchen, von den Barbaren guten Bernstein zu kaufen, um ihn bei uns, in Arabien oder Ägypten wieder zu verkaufen. Ich erhoffe mir davon einen Gewinn."

"Gut! Vielleicht wirst du mir bei der Rückreise einige gute Stücke anbieten. Aber wir wollen nun über das sprechen, was Tobias bewogen hat, noch zu so später Stunde vor mein Angesicht zu kommen. Wiederhole also, was du in der Karawanserei über den Propheten erzählt hast, der Krankheiten heilen kann ohne Kräuter und Arzneien."

"Dieser Prophet, glücklicher König, heißt Jesus, Sohn des Josef, aus der Stadt Nazareth. Die liegt auch in Galiläa. Dieser Jesus ist ein großer Prophet. Er verkündet das Reich Gottes."

"Wo will er das denn aufrichten? In deiner Heimat?"

"Das weiß ich auch nicht genau. Auf jeden Fall ist er ein großer Mann. Es ist wahr. Er kann wirklich Kranke heilen."

"Ohne Kräuter und Arzneien?"

"Ja, er heilt durch sein Wort."

"Woher weißt du das? Warst du Zeuge einer solchen Heilung?"

"Mehr als das! In unserer Stadt hat er vor unseren Augen einen jungen Mann wieder lebendig gemacht, den wir gerade beerdigen wollten."

"Das musst du mir genauer erzählen! Was hat sich zugetragen?"

"Glücklicher König, dieses Ereignis geschah kurz vor meiner Abreise. Ich hatte schon einiges von Jesus, seiner Predigt und auch von seinen Heilungen gehört. Es wurde ja viel über ihn erzählt. Ich wollte schon lange mal zu ihm gehen, um zu hören, was er sagte. Aber niemals habe ich mein Vorhaben wahr gemacht.
Dann starb plötzlich überraschend der Sohn einer Witwe in unserer Stadt. Er war ihr einziges Kind. Ein prächtiger Junge. Jeder war entsetzt über diesen Todesfall. Alle trauerten mit der Mutter. Keiner fehlte, als wir den Toten auf seiner Bahre zur Stadt hinaus bringen wollten. Auf den Totenacker.
Gerade, als sich der Trauerzug durch das enge Stadttor hindurch winden wollte, da gab es einen Halt. Die Vordersten von uns waren auf eine Gruppe von Fremden gestoßen. Die wollten gerade in unsere Stadt hinein.
Es waren Jesus und seine Jünger. Aber das wussten wir natürlich nicht. Wir wunderten uns nur, weil sie uns sofort Platz machten. Damit wir mit der Bahre an ihnen vorbei konnten. Die ahnten bestimmt auch nicht, was jetzt geschehen würde.
Die Träger der Bahre wollten nämlich nun an den Fremden vorbeigehen. Da trat einer von ihnen vor und stellte sich ihnen in den Weg. Das geschah ganz ruhig. Aber wir merkten sofort; der hatte Macht. Das Klagegeschrei der Frauen, die mit der Mutter des Toten der Bahre gefolgt waren, verstummte. Alles war still. Wir Männer waren alle inzwischen aus dem Stadttor heraus. Wir hatten einen Kreis um die Bahre, die Frauen und die Fremden gemacht.
Jesus, das war der, der den Trägern der Bahre in den Weg getreten war, stand da und schaute auf die Mutter. Die weinte immer noch leise. Wir merkten alle, dass ihn das Schicksal dieser Frau erschütterte. Offenbar hatte er begriffen, dass der Tote der einzige Sohn seiner Mutter war, und dass die auch schon ihren Mann hatte zu Grabe tragen müssen.
Du musst nämlich wissen, o König, unserem Stammvater Abraham war vor langer, langer Zeit von Jahwe versprochen worden, seine Nachkommen würden so zahlreich sein wie der Sand am Meer. Und einer seiner Nachkommen sollte der Messias sein. Der sollte das Volk in das Reich Gottes führen. Natürlich will jede Frau Kinder haben. Jede will hoffen dürfen, dass unter ihren eigenen Nachkommen einst der Messias ist. Der Witwe in unserer Stadt war durch den Tod ihres Sohnes auch diese Hoffnung genommen.
Das alles fühlte wohl Jesus mit der Frau. Er berührte die Bahre mit seiner Hand. Die Träger setzten sie ab. Er bückte sich, ergriff die Hand des Toten und sagte laut: "Jüngling, ich sage Dir: Stehe auf" Es hörte sich fast so an, wie wenn er ihn sanft, aber bestimmt aus dem Schlafe aufwecken wollte.
Mir stand das Herz still. Ich glaube, es ging den anderen auch so. Wer konnte so etwas sagen? Aber wie staunten wir erst, als der junge Mann wirklich aufstand. Nur ein bisschen verwirrt schien er, weil wir alle um ihn herumstanden.
Jesus nahm ihn am Arm und führte ihn zu seiner Mutter. Die schloss ihn natürlich in ihre Anne. Sie war glücklich."

"Und ihr, was habt ihr gemacht?"

"Wir? Wir erlebten, dass unser Herz weiterschlug. Wir haben uns gefreut. Ja, was taten wir? Wir zogen wieder durch das enge Tor in die Stadt zurück, und schon während wir noch gingen, stimmte einer das "Große" an. Wir anderen sangen sofort mit. Es war eine wunderbar freudige Stimmung. Wir fühlten alle, dass Gott in unserer Mitte war. Er hatte uns ein Geschenk gemacht. Uns allen. Waren wir mit der Witwe unglücklich gewesen, so waren wir jetzt mit ihr glücklich."

"Ja, aber lieber Mann, habt ihr denn diesen Jesus einfach wieder laufen lassen? Ihr hättet ihn doch bei euch behalten können. Niemand von euch wäre mehr gestorben."

"Ich glaube kaum, dass man diesen Jesus ganz allein für sich behalten kann. Weder ein Einzelner, noch eine Stadt, noch ein Volk. Jesus gehört allen Menschen."

Jonas war selber erstaunt über seine Worte. Es war ihm, als habe er gerade eine neue Entdeckung gemacht. Einen Augenblick hielt er inne. Dann fuhr er fort:

"Natürlich blieben Jesus und seine Begleiter an diesem Tag unsere Gäste. Das ist ja klar. Ein Fest wurde es. Aber er ist nicht einer, der sich wie ein Held feiern lässt. In seiner Gegenwart war darum nur Gotteslob möglich. Wir waren alle glücklich, weil Gott die Not einer armen Witwe gesehen hatte. Nie ist einer von uns auf die Idee gekommen, auch ihm könne etwas Derartiges widerfahren."

Der König räusperte sich. Er überlegte eine Zeitlang, dann fragte er: "Ich habe doch richtig verstanden, dass du dieses Ereignis in deiner Stadt selbst miterlebt hast?"

"Ja, glücklicher König. Ich war dabei."

"Hattest du vorher schon etwas von diesem Jesus gehört?"

"Das wohl, aber ich hatte es für Geschwätz gehalten."

"Und was hieltest du für Geschwätz?"

"Zweierlei. Aber die beiden gehören zusammen."

"Und was ist das gewesen?"

"Du musst dich, König, an das erinnern, was ich vorhin über die Verheißung erzählt habe. Eines Tages, so heißt es, wird in meinem Volke ein Messias erscheinen. Durch ihn wird Jahwe es von aller Fremdherrschaft befreien, wie er es einst durch Moses aus dem Sklavenhaus Ägyptens herausgeführt hat. Einige Zeit schon vor dem Ereignis über das ich eben berichtete, kam zu uns das Gerücht, ein neuer Prophet sei aufgetreten."
"Wieso ein neuer Prophet? War denn schon einer dagewesen?"

"Ja, so war es. Der hieß Johannes! Er nannte sich selbst nur Wegbereiter. Aber er war ein gewaltiger Prediger. Der forderte alle auf, ihren Sinn umzukehren, die Wege für den Herrn zu ebnen, abzulassen vom Bösen........ "

"Aber wir wollen uns nicht von meiner Frage abbringen lassen." unterbrach Abgar den Jonas, als er merkte, dass der sehr weit ausholen wollte. "Die hast du bisher nur zum Teil beantwortet."

"Verzeih', glücklicher König! Johannes wurde auf Befehl des Herodes enthauptet."

"Aha! Nach ihm kam dann der neue Prophet. Das ist Jesus? Was hat der denn nun verkündet, und was hieltest du für leeres Geschwätz?"

"Was er eigentlich predigte kann ich dir nicht genau sagen. Das Gerücht spricht von einem Reich Gottes. Das sollte er ankündigen. Oder er wollte es herbeiführen. Außerdem wurde viel erzählt von seiner großen Heilkraft. Ich habe zuerst an beides nicht geglaubt. Aber jetzt nach der Erweckung des jungen Mannes in meiner Vaterstadt, bin ich sicher, dass er auch jede Krankheit heilen kann."

"Und wie macht er das?"

"Ich kann nur das, was überall erzählt wird, weitergehen. Danach hat er keine bestimmte Methode. Einem Gelähmten sagte er zum Beispiel: Nimm dein Bett und geh', da konnte der gehen. Eine Frau mit schweren Blutungen berührte nur sein Gewand und war gesund. Einen Aussätzigen schickte er zum Priester. Als er ging, wurde er rein."

"Also heilt er ohne jede Arzneien oder Kräuter."

"So sagen die Gerüchte. Ich bin überzeugt, dass sie stimmen."

Jonas schwieg und wartete auf eine weitere Frage. Die kam erst nach ein paar Atemzügen:

"Jonas, sag mir jetzt, bitte, noch eines: Wie kann es kommen, dass du mir nichts davon erzählst, dass Herodes den Jesus zu seinem Minister gemacht hat, oder dass eure Priester ihn zu ihrem Fürsten gewählt haben? Ein Mann mit solchen Fähigkeiten!"

"Das habe ich mich auch schon gefragt. Es könnte daran liegen, dass Jesus ein neues Reich Gottes verkündigt. In dem soll der den höchsten Rang haben, der ein Diener aller ist. Nur die Armen sollen in dieses Reich kommen können. Die Hungernden sollen darin satt werden. Die jetzt satt sind, sollen hungern. Die Reichen sollen leer ausgehen. Die Mächtigen sollen keine Macht mehr haben. Wegen solcher Predigt werden auch unsere Vorsteher und die Priester ihn wohl ablehnen."

Der König stellte darauf zunächst keine weitere Frage mehr. Auch sonst sagte niemand etwas, so dass eine gespannte Stille eintrat, in der jeder darüber nachdachte, welche Folgen die Erzählung des Jonas für ihn haben könnte.

Jonas konnte sich das Interesse des Königs an seinem Bericht nur schwer erklären. Ihn beunruhigte nur die Frage, wie lange er noch beim König festgehalten werden würde. Er wollte mit der Karawane weiterreisen, und er wusste, dass Alexander nicht gerne wartete.

Tobias war sich nicht klar darüber, oh der Bericht des Jonas dem König so wichtig erschien, wie er gedacht hatte. Würde der König ihm Vorwürfe machen wegen der Störung, oder winkte vielleicht sogar eine Belohnung?

Der Pyrrhon überlegte, was er seinem Herrn raten könnte, wenn der mit diesem Jesus in Verbindung treten wollte. War dem Fremden zu trauen? Sollte er dem König zureden, zu Jesus zu reisen. Dann müsste er vorher jedenfalls noch den Bericht des Tobias prüfen, und den Leibarzt befragen, ob der eine Reise des Königs nicht überhaupt für zu gefährlich hielt. Welche diplomatischen Schritte mussten getan werden, damit eine Reise durch das römische Gebiet nicht von untergeordneten Kommandeuren angehalten würde?

Auch, wenn der König inkognito reiste, blieb mancherlei zu bedenken und vorzubereiten. Schließlich kam er auf den Gedanken. dem König zu raten, einen Brief an diesen Jesus zu schreiben.

Erst nach einer langen Denkpause richtete Abgar das Wort wieder an den fremden Kaufmann: "Bist du bereit, Jonas. mir zu beschwören, dass du die Wahrheit gesagt hast.?"

Jonas, der noch immer nicht ahnte, was den König bewegen mochte. sagte überrascht: "König, ich weiß nicht, warum mein Bericht über Jesus für dich so wichtig ist, dass ich ihn beschwören soll. Doch da ich die Wahrheit gesagt habe, will ich mich nicht weigern."

"Jonas. du hast mir durch deinen Bericht eine Hoffnung wiedergegeben. die ich schon verloren hatte. Du musst wissen, ich hin schwer krank. Keiner meiner Ärzte kann mir helfen. Ich habe keine Kosten und Mühe gescheut, wenn nur ein Funken Hoffnung auf Heilung bestand. Aber alle Kuren und Arzneien. alle Bäder und Kräuter halfen mir nicht. Nun höre ich von dir, dass es in deinem Vaterland einen Menschen gibt, der ohne Arzneien und Kräuter Heilung geben kann, Ich danke dir für diese neue Hoffnung."

Nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: "Deinen Schwur erlasse ich dir. Warum solltest du mich täuschen? Sage mir nur noch eines: Wo ist Jesus zu finden, wo wohnt er?"

Durch die Antwort setzte Jonas den König noch mehr in Erstaunen: "Jesus soll auf diese Frage geantwortet haben: 'Die Füchse haben ihre Höhlen. die Vögel haben ihre Nester, aber ich habe nichts, worauf ich beim Schlaf meinen Kopf legen könnte.' Wenn du Jesus aufsuchen willst, so wird es am besten sein, wenn du nach Jerusalem reist. Denn dort wird man wissen, wo du ihn finden kannst."

"Gut, Jonas. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Du aber habe nochmals meinen Dank." und zu dem Wirt gewandt setzte er hinzu:

"Tobias, betrachte Jonas bitte als meinen Gast. solange er in der Stadt ist. Es wird dein Schade nicht sein." Dann sagte er zu seinem Wesir:

"Pyrrhon, ich möchte diesem Juden ein Ehrengewand schenken."

Zwei Diener, die hinter dem Polster des Wesirs auf der Erde gehockt hatten, verschwanden auf den Wink ihres Herrn und kamen in kurzer Zeit mit einem prächtigen Gewand wieder, das sie dem König zu Füßen legten. Pyrrhon erhob sich, ging bis vor den Sitz des Königs und küsste den Boden. dann stand er auf, ließ sich von den Dienern das Gewand reichen, entfaltete es und zeigte es dem König. Die beiden Lampenträger sorgten für die Beleuchtung, damit ihr Herr alles richtig sehen konnte.

Der König nickte zufrieden. Daraufhin trat der Wesir mit dem Ehrenkleid zu Jonas und forderte ihn auf, sich zu erheben. Als der stand, trat er hinter ihn und legte ihm feierlich das Ehrengewand über die Schultern. Der so unversehens Geehrte machte eine tiefe Verbeugung gegen den König.

Abgar hob die Hand zum Gruß und sagte: "Geh hin in Frieden. Möge deine Reise dir Glück und reichen Segen bringen. Wenn du wieder in meine Stadt kommst, wirst du mein Gast sein."

Damit war die Audienz beendet. Jonas und Tobias gingen in die Karawanserei zurück. Alexander konnte am nächsten Tag mit seiner Karawane und Jonas seinen Weg zum Schwarzen Meer fortsetzen. Der König und Pyrrhon tauschten noch einige Eindrücke aus, beschlossen aber bald, den Bericht von Jonas am nächsten Tag eingehend zu beraten.

DER ENTSCHLUSS

König Abgar schlief nicht gut in dieser Nacht. Immerhin hatte er sich bisher als ein welterfahrener Mann gefühlt, der jeden neuen Bekannten genügend auf Distanz halten konnte. Nun musste er sich eingestehen, dass er diesem Jonas voll vertraute. Das verwunderte, ja erschreckte ihn, da er doch Jonas eigentlich gar nicht kannte. Dennoch entwarf er auf der Grundlage seines Vortrages in seinem Kopf Pläne und verwarf sie sogleich wieder. Jonas hatte ihm auch von Jesus so viel erzählt, dass er eine ziemlich feste Vorstellung zu haben glaubte, die er aber im nächsten Augenblick wieder in Frage stellte.

In allen seinen Plänen war der Mann im fernen Jerusalem natürlich die Schlüsselperson. Was konnte er ihm anbieten? Einem Menschen, der Krankheiten heilt und Tote wieder lebendig macht. Würde der etwa auch seinen Vater wieder aus seinem Grabe holen können? Und wenn ja, was würde dann geschehen? Die Vorstellung lag auf ihm, wie ein Alptraum. Aber sollte er auf eine Möglichkeit, seine Gesundheit wieder zu erlangen, verzichten? Bis an sein Lebensende würde er das bedauern. Erst gegen Morgen schlief er, ermattet von seiner Grübelei, ein. Obwohl er keine einzige seiner Fragen hatte zufriedenstellend beantworten können, beruhigte ihn schließlich doch schon die vage Hoffnung auf Heilung von seiner Krankheit.

Als ihn der neue Tag weckte, war er entschlossen, etwas zu unternehmen. Zunächst allerdings sah er Diotima, seine Königin, vor seinem Bett stehen, die ihm durch eine Dienerin eine volle, dampfende Trinkschale mit heißem Kawe anbieten ließ. "Guten Morgen, mein Lieber, wie geht es dir? Du hast sehr unruhig geschlafen. Was quält Dich? Hast du gestern Abend schlechte Nachrichten erhalten?"

"Nein, es war keine schlechte Nachricht, die ich gestern Abend noch erhielt. Dennoch grübelte ich fast die ganze Nacht, weil ich nicht weiß, was ich aus ihr machen soll. Schick die Dienerin hinaus!"

Als die Dienerin den Raum verlassen hatte, sprach Abgar weiter: "Setz dich hier auf mein Bett! So, gut! Ich möchte nicht zu laut sprechen müssen."

Dann erzählte er Diotima, was sich gestern zugetragen, und was Jonas ihm erzählt hatte. "Was meinst du dazu?" Ehe sie jedoch den Mund auftun konnte, unterbrach er sie schon, "Nein, sag' noch nichts. Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, was jetzt zu tun sei. Als ich eben aufwachte, war ich sicher, dass ich etwas tun wollte."

"Das ist ja wirklich eine eigenartige Sache. Ist denn der Jonas wirklich glaubwürdig?"

"Gestern Abend war ich fest davon überzeugt. Ich habe ihn seinen Schwur, den er mir leisten wollte, erlassen und ihn sogar mit einem Ehrengewand bekleidet."

"Aber jetzt hast du Zweifel?"

"Nein, das möchte ich nicht sagen. Der Mann machte einen guten, verlässlichen Eindruck. Aber ich weiß nicht recht, was ich jetzt tun kann oder sollte."

"Ich weiß, Abgar, dass du nichts mehr wünschst, als von deiner Krankheit befreit zu sein. Auch ich habe keinen sehnlicheren Wunsch. Über den besten, oder überhaupt einen gangbaren Weg müsstest du wohl besser mit Pyrrhon reden. Wenn du es für richtig hältst, so will ich an dieser Beratung gerne teilnehmen."

"Natürlich bist du dabei!" Der König klatschte in die Hände. Ein Diener kam herein und half seinem Herrn, die Kleidung anzulegen. Danach befahl Abgar ihm, den Wesir zu holen.

Mit einem "Hören ist gehorchen" übernahm der Diener den Auftrag und verschwand.

"Schade," begann Diotima wieder, "dass dieser Jonas nun schon wieder weitergereist sein wird. Ich hätte ihn gar zu gerne selbst gesehen."

"Meinst du, ich könnte einem Betrüger aufgesessen sein?"

"Nein, einen Betrüger hättest du und Pyrrhon wohl erkannt. Aber manchmal erzählen Reisende auch Geschichten, die sie zwar selber glauben, und die auch möglicherweise wahr sind, die aber dennoch nicht geeignet sind, große Häuser darauf zu bauen."

"Meine Liebe, du weißt mehr als ich selbst, wie sehr ich mich an jede Hoffnung für meine Gesundheit klammere. Soll ich diese Chance ungeprüft aus der Hand geben?"

"Sicher darfst du das nicht. Nur deine Beraterin möchte auch gerne ein bisschen mehr Sicherheit."

"Möchte ich ja auch. Was meinst du, warum meine Nacht so unruhig war?

Es klopfte und dann trat der Diener ein und meldete den Wesir und Tobias. Der König hieß sie eintreten. Die beiden waren überrascht, die Königin vorzufinden. Aber der König erklärte ihnen den Grund für ihre Anwesenheit: "Ich habe die Königin gebeten, an unserer Beratung teilzunehmen. Ich sehe, Wesir, du hast Tobias gleich mitgebracht. Du nimmst also mit Recht an, dass wir über den gestrigen Abend sprechen müssen. Das Thema aber geht auch meine Frau an. Darum ist sie hier."

Der Wesir und Tobias erwiesen ihrem König die Reverenz und als sie darauf Platz genommen hatten, begann der Minister: "Glücklicher König, Tobias war gerade bei mir, als dein Diener mich hierher holte. Er hat noch wichtige Kunde für den Entschluss, den du jetzt fassen willst."

"Du meinst also, ich müsse einen Entschluss fassen: Kann ich nicht das Ganze als Geschwätz abtun? Gut, gestern kam in mir eine neue Hoffnung hoch. Ich habe mich die ganze Nacht ohne Schlaf auf meinem Bett gewälzt. Immer noch bin ich mir nicht klar darüber, was ich eigentlich tun soll."

"Vielleicht hilft es dir, eine Entscheidung zu finden, wenn ich dir jetzt zuerst die Lage in Palästina durch Tobias vortragen lasse. Tobias stammt, wie du dich vielleicht noch erinnerst selbst aus dem Land, in dem dieser Jesus als ein Wundertäter auftritt."

"Ach, das war mir entfallen. Du bist also ein Jude, Tobias?"

"Ja, das stimmt, glücklicher König, ich war allerdings noch sehr klein, als mein Vater mit uns allen hierher auswandern musste."

"Warum musstet ihr auswandern?" wollte der König wissen, der sich stets für die Lebensgeschichte seiner Untertanen interessierte und sich durch sie sogar von der Sorge um seine Gesundheit ablenken ließ.

"Mein Vater erzählte es mir: Damals wohnten wir in der Nähe von Jerusalem. Vater konnte also einigermaßen beobachten, was am Hofe des großen König Herodes geschah. Der muss wohl in zunehmendem Alter sehr misstrauisch geworden sein. Jedenfalls ließ er alle töten, die ihm, wie er fürchtete, die Herrschaft streitig machen konnten. Nur wenige seiner schon erwachsenen Söhne, überstanden die Verfolgung. Das war vor mehr als dreißig Jahren. Mein Vater wollte eigentlich nur solange in der Fremde bleiben, bis Herodes gestorben sei. Aber die Gerüchte aus der Heimat wurden nicht besser, als der König tot war, denn nun stritten sich Erben um die Herrschaft. Als mein Vater das hörte, begann er hier eine Lebensgrundlage zu suchen und übernahm bei günstiger Gelegenheit die Karawanserei. So bin ich jetzt einer deiner Untertanen."

"Und du willst nicht eines Tages wieder zurück?"

"Wenn zwei Juden voneinander Abschied nehmen, dann sagen sie: Nächstes Jahr in Jerusalem! Aber es ist schon viele Male das "nächste Jahr" gekommen, und ich bin immer noch hier. In meiner Heimat ist die Lage nicht besser geworden. Zwar haben nun die Römer Judäa in ihr Imperium einverleibt, aber ihre Statthalter, besonders der jetzige, der Pilatus, sind entweder gierige Ausbeuter des Landes oder politisch dumme Tyrannen, die meinen, bei uns schalten und walten zu können, wie sie gerade Lust haben."

"Worauf wartest du denn? Glaubst du, es würden bessere Zeiten kommen?"

"Ich warte auf den Messias, den uns unsere Propheten angekündigt haben. Er wird das Volk aus allen Teilen der Welt zusammenführen. Ein König aus dem Stamme Davids wird ein Friedensreich errichten. Dann wird es keinen Krieg, keine Unterdrückung, keine Tränen mehr geben."

"Wer war denn dieser David?"

"Der war der erste König, der alle zwölf Stämme der Israeliten zusammenfasste und in ihrer Mitte Jerusalem zu ihrer heiligen Stadt machte. Auf dem Berg Sion baute sein Sohn den Tempel. Dort wohnt Jahwe unser Gott inmitten seines Volkes."

"Aber euer Gott hat euch nicht vor den grausamen Königen und auch nicht vor den Römern schützen können." gab der König zu bedenken.

"Ja, so ist es leider, glücklicher König, ich verstehe das auch nicht recht. Entweder straft uns Jahwe wegen unserer Sünden, oder er .... Nein, das werde ich niemals aussprechen!

"Gut, kehren wir zu unserem Thema zurück. Was kannst du mir zur Lage in deiner Heimat berichten? Wie könnte ich mit dem Jesus in Verbindung treten?"

Tobias erzählte dem König, was er als Neuestes aus Galiläa und Judäa gehört hatte. Er setzte ihm ein Mosaik aus eigener Kenntnis von einer Wallfahrt nach Jerusalem und Berichten von Reisenden wie Alexander zusammen. Er schloss mit den Worten:

"Glücklicher König! In meiner Heimat herrschen schlimme Zustände. Mein Volk duldet zwischen sich und Jahwe weder einen König noch einen Kaiser. Jeder Herrscher über das Volk ist also ein Gewaltherrscher und wird bekämpft. Daher der Kampf gegen die Römer und gegen Herodes. Ich sehe da kein Ende."

Tobias schwieg, und auch die anderen blieben eine Weile stumm. Schließlich begann der König und fragte: "Wieweit ist es eigentlich bis nach Jerusalem?"

"Willst du denn dorthin reisen?" rief die Königin. "Dann nimm mich mit. Aber ich halte solch ein Unternehmen für dich für viel zu gefährlich. Deine Krankheit und die äußeren Gefahren lassen eine solche Reise nicht zu!"

Sie hatte in ihrer Erregung sehr schnell gesprochen, als wenn sie nicht unterbrochen werden wollte. Jeder sah, dass sie äußerst besorgt war, der König könnte sich auf ein Abenteuer einlassen, dem er nicht gewachsen war.

Der bedächtige Wesir verneigte sich vor dem König, der ihm daraufhin das Wort erteilte.

"Glücklicher König, ich möcht gerne Tobias noch zwei Fragen stellen."

"Gut. Tue das! Tobias antworte!"

"Hören ist gehorchen" antworteten beide, wie aus einem Munde. Dann begann der Wesir:

"Tobias, du sagtest eben, dein Volk erkenne keinen König über sich an. Aber du erwartest einen Messias, einen neuen David. Einen König also! Außerdem ist hier in Edessa unser König auch dein König. Mir scheint da gibt es Widersprüche."

Tobias besann sich einige Augenblicke, dann erklärte er: "David wurde seinerzeit vom Volke erwählt und von Jahwe bestätigt. Er hat uns die Freiheit erkämpft. Allerdings blieb das Verhältnis zwischen unserem Gott und den Königen der späteren Generationen nicht so gut wie bei David. Am Ende wurden wir alle von den Babyloniern in die Sklaverei verschleppt. Das war das Ende unserer Freiheit. Zwar haben uns die Perser später die Heimkehr ermöglicht, aber ein Leben in Freiheit war das niemals mehr. Nur die Herren waren manchmal erträglicher als zum Beispiel heutzutage."

Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: "Und, Wesir, in dieser Stadt bin ich freiwillig. Ich habe hier Asyl gefunden und ein Auskommen für meine Familie. Ich werde mich immer bemühen, ein guter Bürger dieser Stadt zu sein."

"Mein glücklicher König", begann nun der Wesir, "Tobias ist ein zuverlässiger Mann. Er hat uns die Verhältnisse in dem Land geschildert, in dem dieser Jesus lebt. Du hast es selbst gehört. Ich möchte dich dringend bitten, den Plan einer Reise dorthin aufzugeben. Schon diese selbst würde für dich viel zu anstrengend sein, wie auch die Königin schon meinte. Aber sie ist auch noch gefährlich. Du brauchtest unbedingt Schutz, bewaffneten Schutz meine ich. Unsere Soldaten kannst du nicht mitnehmen. Für sie brauchten wir die Genehmigung der Römer. Wenn wir sie erhielten, brauchen wir einen Tross, der für die Versorgung aufkäme. Formalitäten und Vorbereitungen würden uns eine solange Zeit kosten, wie ein Bote braucht, um den Weg hin und zurück zu reisen."

"Du meinst, ich sollte einen Eilboten schicken, um Jesus hierher zu holen?"

"Ja, das meine ich. Wir können ja dennoch auch schon Vorbereitungen für deine Reise dorthin treffen, wenn du meinst, dass die angesichts der Schwierigkeiten, die ich dir nannte, dennoch durchgeführt werden könnte."

Der König lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte nach.

"Ich glaube jetzt auch, dass wir so vorgehen sollten. Aber versuche auf jeden Fall, von den Römern einen Pass für mich zu erlangen. Vermutlich wollen sie Geld dafür. Lasse es dir aus meiner Privatschatulle geben."

Diotima waren offenbar Steine von der Seele gefallen. Sie sagte. "Ich bin froh. Hoffentlich bringt der Bote eine gute Nachricht zurück. Vielleicht kannst du Jesus ein Angebot machen, das ihn locken könnte, hier zu bleiben. Er scheint ja dort auch nicht frei und sicher zu leben." Sie erhob sich, küsste dem König den Ring und verließ den Raum. Auch Tobias wurde entlassen und kehrte in seine Karawanserei zurück.

DER BRIEF

Als der König und sein Wesir allein waren, schlug Abgar mit einem Klöppel gegen einen Gong. Unverzüglich erschien der Haushofmeister warf sich vor dem König nieder und erwartete so dessen Auftrag.

"Der Sekretär soll mit seinem Schreibzeug kommen! Und lasse den Tisch abräumen und frischen Kawe, etwas Gebäck und auch eine Kanne Obstsaft bringen!"

Der Beamte erhob sich schnell, wiederholte den Auftrag, und, als der König nickte, sagte er: "Hören ist Gehorchen" und verschwand hinter einer Tür. Gleich darauf erschien ein Diener, der den Tisch abräumte und neuen Kawe, Gebäck, eine Kanne Fruchtsaft und drei Trinkgefäße brachte.

Noch ehe der Sekretär erschienen war, begann der Wesir dem König seinen Plan zu unterbreiten: "Glücklicher König! Ich gehe davon aus, dass du mit diesem Brief den Jesus in Galiläa bitten möchtest, hierher zu kommen. Wenn du das willst, wirst du ihm einen Anreiz geben müssen, dass er die lange Reise nach hier unternimmt. Was willst du ihm also bieten?"

"Ich will ihm ein sicheres Leben und Teilnahme an der Regierung dieser Stadt Edessa anbieten."

Pyrrhon erschrak heftig und wurde blass, denn er fürchtete, er könne seinen Posten als Wesir und Vertrauter des Königs verlieren. Mit unsicherer Stimme sagte er: "Glücklicher König, meinst du nicht, das sei eine sehr hohe Belohnung für sein Kommen?"

"Wesir! Du kannst dir wohl kaum vorstellen, welche Schmerzen mir meine Krankheit immerfort zufügt. Abgesehen davon hindert sie mich, meine Regierungspflichten richtig wahrzunehmen. Wenn ich von ihr befreit werden könnte, wäre das für ganz Edessa ein Vorteil."

"Ich dürfte also weiter zu deinen Diensten sein können?"

"Aber selbstverständlich. Du musst bleiben. Ihm würde ich eine andere Pfründe geben, die es jetzt noch gar nicht gibt: Ich würde ihn zum Verantwortlichen machen für die Gesundheit der Stadt."

"Jesus scheint mir ein eigenartiger Mensch zu sein. Für diese Auferweckung eines Toten, von der Jonas berichtete, hat er offenbar keine Belohnung verlangt."

"Da hast du Recht. Wir müssen unser Angebot nicht zu direkt machen."

In diesem Augenblick erschien ein Diener und meldete den Sekretär. Der wurde sofort hereingerufen und machte sich bereit für ein Diktat seines Herrn. Der aber lehnte sich, erschöpft von den bisherigen Verhandlungen auf seinem Polster zurück und beauftragte Pyrrhon mit der Abfassung des Schreibens.

Der Wesir begann, vorsichtig jedes Wort wägend: "Der Toparch Abgar Uchama"

"Halt", unterbrach ihn der König. "warum soll er 'Toparch' schreiben und nicht 'König'?"

"Dafür habe ich mehrere Gründe: Erstens stelle ich mir vor, unser Bote könnte in die Gewalt der Römer geraten, dann ist es sicherlich besser, wenn der Absender als ein Schützling der Parther erscheint und nicht als der König einer kleinen Stadt. Zweitens nennen die Römer selbst ihre Vasallen in Palästina "Tetrarchen". So ist auch der offizielle Titel des Herodes Antipas. Der Titel 'König' hat offenbar weder einen guten Klang bei den Römern noch bei den Juden. Drittens rechne ich Jesus zu den Leuten, die Titel für unbedeutend halten."

Der König brummte zustimmend, fragte dann aber lebhafter: "Wen, meinst du, sollten wir als Boten entsenden? Es müsste ja einer sein, der schnell ist, aber auch geschickt im Umgang mit den Leuten."

"Ja, ich habe schon an einen gedacht, der gut geeignet ist: Ich habe ihn schon oft eingesetzt. Er hat noch einen Vorteil. Er ist nämlich Jude und kennt sich deshalb von seiner Wallfahrt nach Jerusalem dort etwas aus."

"Und wie heißt er?" wollte der König wissen.

"Es ist Ananias. Du kennst ihn sicherlich. Er wird auch von unseren Kaufleuten gerne, oft für besondere Aufträge, als Kurier eingesetzt."

"Gut! Also Ananias. Ja, ich glaube, ich kann mich erinnern. Ein guter und schneller Läufer. Mach' nun weiter mit dem Brief!"

"Ja, also wo waren wir?" fragte Pyrrhon den Sekretär.

Der las: "Der Toparch Abgar Ucharna... mehr habe ich noch nicht."

"Ja, richtig. Also: Der Toparch Abgar Uchama", diktierte der Wesir weiter, "entbietet Jesus in der Stadt Jerusalem seinen Gruß! Ich habe von dir und deinen Heilungen gehört, dass sie nämlich ohne Arzneimittel und Kräuter von dir vollbracht werden. Deshalb schreibe ich und bitte dich, dich zu mir zu bemühen und das Leiden, das ich habe, zu heilen." Pyrrhon hielt inne mit dem Diktat und überlegte. Dann wandte er sich an den König:

"So, das ist nun das, was wir von ihm wollen. Nun müssten wir das schreiben, was wir ihm anbieten. Ich denke, wir sollten das noch nicht zu genau machen."

"Nein, nein. Aber großzügig sollte unser Angebot doch sein."

Beide überlegten nun schweigend, während der Sekretär gespannt wartete. Dann sagte der Wesir:

"Ich meine mich zu erinnern, dass Tobias oder Jonas auch berichtet hätte, dass Jesus Schwierigkeiten in seinem Lande hat, und dass er mit Verfolgung durch Herodes oder die Römer rechnen muss. Wir sollten uns darauf beziehen, und ihm bei uns sicheres Asyl anbieten. Geht er darauf ein, so bist du frei, ihm die Belohnung zu geben. die du für angemessen hältst."

"Gut, fang an!"

Pyrrhon fuhr im Diktat fort: "Habe ich doch auch gehört, dass die Leute gegen dich murren...."

"Halt!" unterbrach der König, "nicht 'die Leute'! Es scheint doch so, als wenn das Murren religiös begründet ist. Darum schreiben wir wohl besser 'die Juden'. Meinst du nicht?"

"Ja, das ist besser. Allerdings ist unser Bote auch ein Jude. Der sollte zustimmen können, sonst stört das vielleicht seinen Eifer."

"Gut, das werden wir feststellen. Weiter!"

"..dass die Juden gegen dich murren und dir Übles antun wollen. Komm daher, dann kannst du hier wohnen...."

"Nein, nein!" unterbrach Abgar "so nicht!" Er diktierte selbst gleich weiter: "Übles antun wollen. Soweit ist es gut. Aber dann: Ich habe eine Stadt, zwar recht klein, aber würdig, die für uns beide ausreicht."

Er überlegte noch einen Augenblick, dann sagte er: "So will ich es haben. Jesus soll wissen, wer ihm schreibt, aber ich möchte auch nicht mit Reichtum oder Macht angeben, denn mir scheint danach strebt er nicht."

"Da hast du wohl Recht. Kommt noch etwas?"

"Nein, lasse jetzt eine Reinschrift machen und ein Abschrift für das Archiv. Inzwischen lasse den Ananias kommen!"

Der Wesir hatte den Schnellläufer vorsorglich schon in das Vorzimmer rufen lassen. Nun ließ er ihn eintreten. Ananias warf sich vor dem König zu Boden. Abgar hieß ihn aufstehen.

"Ich habe einen wichtigen, aber auch delikaten Auftrag für dich: Du sollst im Land der Juden nach einem Propheten suchen, der dort auftritt. Er heißt Jesus, Sohn Josefs, und stammt aus Nazareth. Von ihm wird berichtet, er könne alle Krankheiten heilen. Ihn möchte ich hierher holen, damit er auch mich von meiner Krankheit befreit."

"Ich habe verstanden." bestätigte Ananias.

"Deine Aufgabe" fuhr der König fort "wird es sein, Jesus ausfindig zu machen. Das wird nicht einfach sein, weil er nämlich kein Haus hat, in dem er wohnt. Es scheint, als lebte er in Galiläa in der Nähe des Sees oder in Jerusalem in Judäa. Wenn du ihn gefunden hast, bitte ihn mit dir hierher zu fahren, damit er mich von meiner Krankheit heilen kann. Das wird nicht leicht sein, weil er keine Belohnungen für seine Heilungen nimmt. Biete ihm also keine an. Aber die Juden in Jerusalem scheinen etwas gegen ihn zu haben. Er hat wohl ernsthafte Schwierigkeiten und muss vielleicht sogar um sein Leben bangen. Sage ihm daher, er könne hier bei mir in Frieden bleiben, solange er wolle."

Der König machte eine Besinnungspause. Dann aber schloss er mit den Worten: "So nun weißt du, was ich will."

Der Sekretär brachte den Brief und die Abschrift. Der Wesir nahm ihn entgegen und prüfte den Text. Dann reichte er ihn dem König zur Unterschrift. Abgar nahm vom Sekretär das Schreibzeug, setzte sein Zeichen unter den Brief und sagte:

"Wesir, lasse Ananias den Brief vorlesen, damit er weiß, was darin steht."

Der aber sagte schnell: "Ich kann selbst lesen, denn ich bin ein Jude. Wenn er allerdings nicht aramäisch geschrieben ist, kann auch Jesus ihn nicht lesen."

"Hier ist der Brief, den du ihm geben sollst. Er ist aramäisch." sagte Pyrrhon.

Ananias las den Brief ohne ein Zeichen von Bewegung. Abgar sah das mit Befriedigung und wies den Wesir an, den Boten mit genügend Geld auszustatten.

"Es muss genug sein, dass er nicht nur die allgemeinen Kosten bezahlen, sondern auch einen Wagen und Pferde für die Rückfahrt kaufen kann."

Dann wandte er sich wieder an den Schnellläufer: "Wie lange wirst du brauchen, Ananias?"

"Ich denke, ich könnte in zwei Wochen in Jerusalem sein. Ich bin ja schneller als unsere Wallfahrer. Aber wie lange ich für die Suche nach Jesus brauche, ist schwer zu sagen. Und die Rückfahrt, die dauert bestimmt drei Wochen oder sogar länger."

Der König richtete sich mühsam in seinem Sitz auf, hob die Hand und sagte: "Ich setze große Hoffnungen in deine Mission. Wichtiger noch als der Brief sind deine Worte. Sei also klug. Geh' hin in Frieden!"

Ananias antwortete "Hören und gehorchen" und ging mit dem Wesir hinaus. In seinem Dienstzimmer gab der ihm einen Beutel mit Goldstücken und wünschte ihm auch alles Gute für seine Reise.

Ananias ging zum Sekretär, mit dessen Hilfe er sich den Text des Briefes wortwörtlich einprägte.

Der Wesir verfügte sich wieder zu seinem König und die beiden widmeten sich ihren Tagesgeschäften. Verträge wurden geschlossen, Recht wurde gesprochen, Anordnungen wurden erlassen und den Göttern wurde das tägliche Rauchopfer dargebracht.

DER BOTE

Nachdem Ananias den Brief auswendig gelernt hatte, lief er schnell zu seinem Haus. Dort schloss er die Tür sorgfältig und winkte seiner Frau Sarah. Die wusste gleich, dass ihr Mann wieder einen besonderen Auftrag hatte und folgte ihm in das kleine Hinterzimmer. Dort erst zeigte ihr Ananias den Beutel mit dem Gold und sagte:

"Mein Auftrag wird mich dieses Mal wieder etwas länger von hier fernhalten. Mach' dir keine Sorgen. Nimm diese beiden Goldstücke von meinem Botenlohn. Damit hast du dein Auskommen, bis ich wieder hier bin."

"Wohin musst du denn diesmal? Und was sollst du dort?"

"Ich muss einen Brief befördern. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen. Vertrauen wir auf Gott, dass alles gut geht und dass ich bald mit guter Nachricht zurückkomme. Dem König ist sehr daran gelegen. Komm hilf mir jetzt die Goldstücke aus dem Beutel in die Taschen meines Gürtels zu stecken!"

Sarah holte den Ledergürtel den Ihr Mann bei seinen Reisen immer auf dem Leib trug. Beide zusammen steckten die Münzen aus dem Beutel in die kleinen Taschen des Gürtels. Dann zog Ananias sein Gewand aus und legte den Ledergurt um seinen bloßen Leib. Darüber zog er einen kurzen Rock und ein ärmelloses Wams. Dazu den Reisegürtel mit der Reisetasche. Dahinein steckte ihm Sarah den kleinen Schlauch aus Ziegenleder für Wasser und ein paar Hände voll getrockneter Datteln und Feigen.

"Nun noch den Stab! Sarah hatte in schon in der Hand und er steckte den Brief zusammengerollt in dessen Höhlung. "So, jetzt bin ich fertig."

Auf der Schwelle gab ihm seine Frau den Reisesegen und wünschte ihm den Frieden. Dann setzte sich Ananias in Trab.

Zunächst ging der Weg durch ihm gut bekanntes Land. Hier war ihm jeder Weg und Steg vertraut. So gelangte er schnell an den Euphrat. Ein Fährmann setzte ihn bei Nicophorion über den Fluss. Nun musste er aufpassen, denn er befand sich jetzt auf dem Gebiet des Römischen Reiches, dessen Grenze gegen den Osten immer gut gesichert werden musste. Da war es schon ratsam, sich von den militärischen Abteilungen möglichst fern zu halten. Andrerseits musste er nun mehr auf den Weg achten. In Nicophorion hatte man ihm geraten, zunächst auf der Straße nach Palmyra zu laufen. Die sollte einigermaßen sicher sein. Dann ging es in Richtung Damaskus weiter. Dort konnte man ihm schon etwas genauere Wegbeschreibung geben.

Von seiner Wallfahrt nach Jerusalem wusste er noch, dass der schnellere Weg von Damaskus nach Jerusalem östlich des Jordan verlief. So waren sie damals gepilgert, weil sie auf diese Weise das den Juden feindliche Samaria umgehen konnten. Aber dabei blieb auch Galiläa jenseits des Jordan und des Sees liegen. Gerade dort aber sollte Jesus predigen, wenn die Nachrichten stimmten. Darum wandte er sich nach Cäsarea Philippi und von dort nach Süden und erreichte den See. Als er in Kapernaum nach Jesus fragte schien ihn tatsächlich jedermann zu kennen. Aber wo er sich gerade aufhielt, konnte ihm keiner genau sagen.

Ananias hatte das erwartet und fragte deshalb beharrlich weiter. "Am wahrscheinlichsten ist er am Seeufer zu finden." entschied er schließlich für sich. Er wandte sich deshalb nach Süden und erkundigte sich weiter in den Orten am See nach Jesus. Endlich entdeckte er eine Spur, die etwas sicherer erschien. Sie wies weiter nach Süden:

"Jesus ist schon auf dem Weg nach Jerusalem. Wahrscheinlich wird er unseren Pilgerweg nehmen und Samaria vermeiden. Er zieht bestimmt nicht schnell, denn alle Leute, wohin er kommt, wollen mit ihm sprechen. Und alle Kranken werden zu ihm gebracht und er heilt sie. Er ist ein Prophet. Vielleicht sogar der Messias, der uns befreien wird." So und ähnlich erzählten die Leute.

Ananias wurde es immer klarer, dass er diesmal keinen alltäglichen Auftrag hatte, sondern dass Jesus ein ganz ungewöhnlicher Mensch war. Vielleicht war er wirklich einer aus dem Geschlecht des Königs David, wie auch einige munkelten. Er setzte sich voll neuer Hoffnung wieder in Trab und tatsächlich erreichte er Jesus und sein Gefolge in der Nähe des Jordanausflusses am See. Ein Teil der Leute waren mit Booten dorthin gefahren, um sich ihm anzuschließen. Alle waren ziemlich aufgeregt. So schien es jedenfalls Ananias, als er versuchte, sich einen Weg zu Jesus zu bahnen.

Als das schließlich gelungen war, warf er sich vor ihm zu Boden, wie er das bei seinem König getan hätte. Jesus beugte sich zu ihm nieder, hieß ihn aufstehen und fragte nach seinem Begehr. Stumm gab er ihm den Brief des Königs Abgar.

Jesus las das Schriftstück sorgfältig. Es schien Ananias, als suche er in dem Brief das ferne Edessa und dessen Toparchen Abgar, der so krank war, dass er einen Boten zu ihm geschickt hatte, um ihn zu sich zu rufen. Ein reicher, mächtiger Mann und doch arm, geplagt von Schmerzen.

Die Leute hatten bald gemerkt, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Ein Brief war angekommen. Ein fremder Bote hatte ihn gebracht. Wer mochte ihn geschickt haben? Was stand wohl darin? Gefahr? Neugierig und ängstlich bildeten sie einen Kreis um den Fremden und ihren Meister.

Jesus hielt den Brief hoch und erzählte den Umstehenden seinen Inhalt. Seine Freunde fühlten sofort, wie Jesus sich über die Botschaft aus der Ferne freute. Hatte er nicht schon früher einmal darauf hingewiesen, was hätte geschehen können, wenn er sich mit seiner Predigt und seinen Werken an die Bewohner von Sidon oder Tyros gewandt hätte? War er nicht auch schon einmal über den See in die heidnische Dekapolis gefahren, um der Bedrohung durch Herodes zu entgehen? Und jetzt gar Edessa, jenseits des Euphrat, das sich die meisten wohl am Ende der Welt liegend vorstellten.

Jesus ließ das aufgeregte Gemurmel sich beruhigen und suchte inzwischen nach einem Platz zum Sitzen. Er fand den Stamm eines gefällten Baumes. Dort setzte er sich, bat Ananias neben sich und fragte nach seinem und seines Vaters Namen. Dann hob er seine Stimme und sagte laut:

"Dieser Mann ist Ananias. Er ist ein Jude wie wir. Nur lebt er nicht hier in unserem Land, sondern in der Zerstreuung. Nicht nur für euch hier in Galiläa verkündige ich das Reich Gottes, sondern auch für die Bewohner Judäas und Jerusalems, wohin wir gerade unterwegs sind. Und auch für die Kinder Israels in der Zerstreuung. Ja, für das Reich Gottes gibt es keine Grenzen. Singt Ihr nicht in den Psalmen von der großen Völkerwallfahrt in die Stadt Gottes? Dieser Brief ist ein erster Vorbote davon. Ananias wird also nicht vergeblich den weiten Weg hierher gelaufen sein."

Abgars Bote, der Jesu Worte schon für eine Zusage an seinen König hielt, begann zu überlegen, wie er mit Jesus aus der Menge, die ihn bestimmt nicht freiwillig ziehen lassen würde, herauskommen sollte. Es war ja auch ungeschickt, ihn vor seinen Leuten anzusprechen. Schon suchte er nach einer List. Doch Jesus unterbrach seine Überlegungen:

"Ananias, sage deinem Herrn von mir:" Er hielt noch einige Atemzüge lange inne, als wenn er sich seine Worte genau überlegen wollte. Dann fuhr er fort:

"Du bist glücklich zu preisen, da du an mich geglaubt hast! Zwar werde ich nicht selbst zu dir kommen, weil ich hier noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe, bei der ich mein Leben werde einsetzen müssen. Ich werde dir aber einen meiner Jünger senden, damit er dein Leiden heile und dir und den Deinen neues Leben schenke."

Die Leute schienen befriedigt, dass Jesus bei ihnen bleiben wollte. Ananias überlegte sich, wie er seinem König diese Botschaft weitergeben könnte, ohne ihm die Hoffnung zu nehmen. Das könnte, meinte er, auch nachteilig für ihn selbst werden.

Seine Gedanken wurden jedoch bald unterbrochen. Von den Schiffen her kam eine Gruppe Männer, die einen jungen Mann zwischen sich trugen. Sie legten den Gelähmten vor Jesus nieder. Ananias passte genau auf, was jetzt geschehen würde. Die Männer sagten nichts. Sie schauten Jesus an, als wenn sie sagen wollten: Du weißt ja schon, um was wir dich bitten. Der Kranke stöhnte leise nach den Anstrengungen seines Transportes. Eine Frau trocknete seine Stirn.

Jesus war offenbar erschüttert. Er schien Ananias wie hilflos angesichts des Elends vor ihm. Ganz tief beugte er sich zu dem Gelähmten, streichelte ihm den Krauskopf. Dessen Jammern wurde leiser und leiser. Vertrauensvoll wandte er sein Gesicht dem zu, der ihn so vorsichtig berührte. Dann sagte Jesus so leise, dass es nur der Kranke und Ananias, der dicht neben ihm stand, verstehen konnte:

"Komm! Steh auf' Du kannst gehen."

Und wirklich sprang der eben noch völlig hilflose auf und konnte gehen. Die Umstehenden waren zunächst sprachlos, dann schwatzten sie alle durcheinander. Nur wenige dachten daran, dass ein Wunder geschehen war, für das sie Gott hätten loben und danken müssen. Ananias gehörte zu ihnen. Er hatte auf einmal den Drang nach Hause, nach Edessa, um seinem kranken König von diesem Erlebnis mit Jesus zu berichten. Aber der hielt ihn fest.

"Bleib noch diese Nacht. Sieh' es wird bald Abend. Gleich werden wir hier zusammen essen und dann übernachten."

Zu seiner Verwunderung sah Ananias, wie die Leute sich an der Stelle lagerten, ihre Taschen öffneten und sich gegenseitig Brot und Zwiebeln anboten. Von den Schiffen kamen auch noch Männer mit getrockneten Fischen. Bald schmausten alle, zufrieden mit dem Wenigen, das sie hatten. Der geheilte junge Mann eilte zwischen den Menschen hin und her. Er hatte einen Schlauch Wein unter dem Arm und ließ jeden daraus trinken. Die Leute schwatzten miteinander. Ananias erfuhr von seinen Nachbarn, die oft schon länger mit ihm unterwegs waren, viel über Jesus. Er merkte sich das meiste gut, weil es ihm gefiel, und weil er auch damit rechnete, dass sein König ihn ausfragen würde. Den würde sicherlich besonders interessieren, dass die Leute Jesus für bedroht hielten.

Als das Abendlicht ganz verschwunden war, stimmte einer das Gotteslob an und alle sangen mit. Dann wurde es still auf dem Lagerplatz. Ananias fielen die Worte seines Königs ein, Jesus habe kein Haus, in dem er wohne. Es stimmt, dachte er. Am nächsten Morgen war Ananias schon sehr zeitig auf den Beinen. Er war als Schnellläufer kurze Nächte gewöhnt. Aber auch Jesus war schon auf und kam zu ihm herüber, als er gerade, schon reisefertig, ein Stück Brot und einen Schluck Wasser zu sich nahm.

"Bringe deinem Tetrarchen etwas von dem Frieden mit, den du hier erlebt hast. Meine Botschaft kennst du ja."

"Ja, ich kenne sie und werde sie wörtlich an meinen Herrn weitergeben. Aber über dich selbst hätte ich gerne auch noch etwas gewusst. Was kann ich ihm von dir berichten?"

"Haben meine Brüder dir nicht genug erzählt?" Jesus dachte nach und sprach dann weiter: "Lass dir in der Synagoge in Edessa das Buch Jesaia zeigen und suche das erste Lied vom Gottesknecht. Es steht in Kapitel 42, gleich am Anfang. Das trag deinem Herrn vor. Der Knecht bin ich, und ebenso die Gemeinde meiner Jünger."

"Die Leute haben mir erzählt, du verkündetest das Reich Gottes. In diesem Reich sei der der Oberste, der der Diener aller sei. Stimmt das?"

"Ja, so wird das sein, und so ist es schon jetzt."

"Darüber werde ich nachdenken müssen."

"Ich werde an dich denken und an alle Menschen in Edessa!"

Ananias dankte Jesus und verabschiedete sich. Dann setzte er sich in Trab und lief und lief ohne sich zu schonen. Nur in Kapernaum machte er eine Pause, um sich in der dortigen Synagoge den Text des Liedes vom Gottesknecht zu verschaffen. Danach würde der König Abgar bestimmt fragen. Er traf einen freundlichen Rabbi, der ihm den Text ins Aramäische übersetzte, als er hörte, wofür Ananias ihn brauchen wollte. Der lernte ihn wörtlich auswendig und sprach ihn beim Weiterlaufen immer wieder vor sich hin.

Als er in Edessa eintraf war er am Ende seiner Kräfte. Seine Beine trugen ihn gerade noch bis in den Audienzraum. Dort schlief er auf dem Teppich ein. Es war Diotima, die den König überzeugte, dass der Läufer sicher besser und klarer berichten könne, wenn er ausgeschlafen habe.

So geschah es. Der Haushofmeister ließ einen Diener bei Ananias. Der sollte für ihn sorgen, wenn er aufwachte. Er hatte zugleich Befehl, sofort zu melden, wenn Ananias in der Lage war, seinen Bericht zu erstatten.

DIE BOTSCHAFT

Ananias schlief in seiner Erschöpfung tief und traumlos. Erst als die Sonne schon hoch stand, erwachte er. Sogleich sprang er auf, reckte seine Glieder und massierte die Beine. Der Diener brachte ihm Wasser zum Waschen und etwas zu essen. Zugleich kündigte er das Erscheinen des Königs und des Wesires an. Da wollte Ananias nicht mehr essen. Nur einen Trunk Wasser nahm er an. Pyrrhon kam zuerst. Er wollte dem König nicht zuvorkommen, konnte sich aber die kleine Frage "Na, wie war's?" Doch nicht verkneifen.

Ananias zuckte die Achseln. "Das lässt sich mit einem Wort nicht sagen. Die Botschaft, die ich mitbringe, ist für den König."

"Selbstverständlich! Er wird wohl gleich hierher gebracht."

Tatsächlich hörte man schon die Schritte der Träger. Ein Diener öffnete die Tür, durch die der König hereingetragen wurde. Alle Anwesenden begrüßten ihn, indem sie mit ihrer Stirn den Boden berührten. Sie wurden aber sogleich aufgefordert, sich zu erheben. Ananias bemerkte neben dem Sitz des Königs ein Frau. "Vielleicht die Königin." dachte er.

Er fühlte sich als Hauptperson dieser Versammlung, die jetzt mit Spannung auf seinen Bericht wartete. Zwar wusste er noch nicht recht, wie sein Bericht vom König aufgenommen werden würde. Aber er glaubte doch, eine gute Botschaft mitgebracht zu haben. Schon unterwegs harte er darüber nachgedacht, wie er diese gute Botschaft vortragen wollte. Der Anfang schien ihm dabei das Schwierigste, weil er auf die Frage des Königs antworten musste, und seine Antwort konnte den König möglicherweise enttäuschen. Erst dann, wenn er mit seinen eigenen Worten weiter fortfahren konnte, würde es leichter sein, dem König wieder hoffen zu lassen. So blickte er stehend den König an und wartete gespannt auf dessen Frage.

Der war sich bewusst, dass er aus dem Munde des Läufers eher eine Absage des Wundermannes aus Jerusalem hören würde. Hätte Ananias ihn sonst nicht mitgebracht? Schon ärgerte er sich darüber, dass er gestern Abend dem Vorschlag der Königin gefolgt war. Die schlechte Nachricht hätte Ananias wohl trotz seiner Erschöpfung noch mitteilen können. Vielleicht hätte er selbst dann besser geschlafen als unter der Spannung der Ungewissheit.

"Wann kommt er?"

"Glücklicher König, ich habe eine Botschaft für dich und ich hoffe, dass es eine gute Botschaft ist."

Ein halberleichtertes Aufatmen ging durch den Raum. Doch der kranke Abgar knurrte nur: "Welche?"

"Nachdem Jesus deinen Brief gelesen hatte, sagte er zu mir: 'Ananias, sage deinem Herrn von mir: Du bist glücklich zu preisen, weil du an mich geglaubt hast! Zwar werde ich nicht selbst zu dir kommen, weil ich hier noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe, bei der ich mein Leben werde einsetzen müssen. Ich werde dir aber einen meiner Jünger senden, damit er dein Leiden heile und dir und den deinen neues Leben schenke.' So hat er gesprochen."

So, nun war es heraus. Aber noch wusste man im Saale nichts Rechtes damit anzufangen. Abgar wandte sich deshalb an den Wesir, um dessen Meinung zu hören. Der aber antwortete vorsichtig, man müsse auch in Erwägung ziehen, dass Jesus vielleicht doch ein Scharlatan oder ein Hochstapler sei. Das war für den König ein Gesichtspunkt, den er sogleich dem Ananias weitergab. Der war ja der einzige im Raum. der Jesus selbst gesehen hatte. Er fragte also den Läufer nach seiner Meinung in dieser Sache.

"Keinesfalls ist Jesus ein Scharlatan. Vor meinen Augen wurde ein junger Mann von vier Männern zu ihm getragen, weil er schon lange Zeit gelähmt war und nicht laufen konnte. Er wurde geheilt. Er konnte sofort allein gehen und sogar das Bett, auf dem die Männer ihn gebracht hatte, selber wegtragen."

"Und das geschah ohne Heilmittel und Kräuter?"

"Ja! Das kann ich beschwören!" versicherte Ananias

"Dann warst du also beim richtigen Mann?"

"Ja, das war ich, glücklicher König!"

"Und was ist das für eine Aufgabe, derentwegen er nicht hierher kommen kann oder will?"

"Als ich Jesus den Brief gegeben hatte, erzählte er den Leuten, die sich um ihn drängten, den Inhalt. Da wurden die unruhig, weil sie offenbar fürchteten, Jesus könnte sie verlassen, um zu dir zu eilen."

"Aha, dann hatte er Angst vor diesen Leuten!"

"Das glaube ich nicht, denn er hat sie sofort belehrt, dass er nicht nur zu den Menschen in Galiläa gesandt sei, sondern auch zu den Bewohnern Judäas und Jerusalems, wohin er gerade unterwegs war, und, das hat er genauso gesagt, auch zu den Kindern Israels in der Zerstreuung. Damit sind auch wir hier in Edessa gemeint."

"Dann hat er wohl ein genaues und umfassendes Programm? Aber wo finde ich mich darin?"

"Das wird wohl stimmen mit dem Programm. Und du wirst auch darin einen Platz haben, denn Jesus sagte weiter, für das Reich Gottes gäbe es keine Grenzen. Vielmehr würde eine Völkerwallfahrt stattfinden und dein Brief sei ein Vorbote davon. Ich sei also nicht vergeblich den weiten Weg bis dorthin gelaufen."

"Das hört sich ja schon etwas besser an. Was meinst du, Wesir'?"

"Ich kann mir nicht helfen. Ich bin immer noch skeptisch. Ich habe dafür auch meine Gründe!"

"Welche?"

"Glücklicher König, darf ich zunächst noch eine Frage an Ananias richten?"

"Bitte!"

"Ananias, wie alt ist dieser Jesus?"

"Ich habe ihn nicht gefragt. Er soll noch zu Zeiten des großen Herodes geboren sein. Nach seinem Äußeren könnte er um die dreißig Jahre sein. Fast solange ist ja Herodes auch schon tot."

"So, dann möchte ich folgendes sagen: Das Programm, wie du, glücklicher König, es nennst, scheint mir reichlich ehrgeizig: heute Galiläa, morgen ganz Palästina, übermorgen die zerstreuten Juden und dann alle Völker der Erde. Wie will ein Mann, und sei er auch ein Wundertäter, so etwas schaffen? Das ist doch eine Utopie. Ein Traum."

"Weißt du noch mehr?" unterbrach der König sehr beunruhigt.

"Ja, mich macht außerdem skeptisch, dass Jesus offenbar Schwierigkeiten mit den Juden hat. An die er doch gerade als erste seine Botschaft richtet. Es ist nicht einmal sicher, dass er das nächste Jahr noch erlebt. Ich denke, du hast doch auch gehört, was Jesus dem Ananias gesagt hat, er werde sein Leben einsetzen müssen. Dann kann er es also auch verlieren. Ich glaube, glücklicher König, du musst den Gedanken an eine Wunderheilung ohne Arznei und Kräuter aufgeben."

Ananias hatte den Eindruck, als sei der König bei jedem Satz des Wesirs mehr in sich zusammengesunken. Er hatte Mitleid mit seinem Herrn, der so unglücklich und verzweifelt schien. Ehe er aber dazu kam, ihm noch Einzelheiten von seinen Erlebnissen bei Jesus zu berichten, richtete sich der König plötzlich auf und rief:

"Nein, so schnell gebe ich nicht auf. Ananias hat einen Fehler gemacht, weil er Jesus meinen Brief nicht unter vier Augen gegeben hat. Der ist offenbar in den Händen seiner eigenen Gefolgschaft. Er hatte eben Angst, ihnen zu sagen, dass er hierher wollte. Darum hält er mich mit einer Versprechung auf bessere Tage hin."

Abgar war mit jedem Wort wütender geworden. Schließlich schrie er: "Der Hauptmann soll kommen!"

Entsetzt fragte Pyrrhon: "Glücklicher König, was willst du den Soldaten befehlen?"

"Kannst du dir das nicht vorstellen. Wesir? Ich leide an einer bösen und schmerzhaften Krankheit. Dort in Galiläa, oder sonst wo, lebt ein Mann, der mich zu heilen vermag. Ich will ihn hierher holen. Wenn es sein muss, auch gegen den Willen aller Juden."

Statt einer weiteren Vorstellung von Vernunftgründen, die den aufgebrachten König vielleicht noch mehr gereizt hätten, kniete der Wesir vor Abgar nieder und berührte mit der Stirn den Boden Er verharrte in dieser Stellung, bis der König, mit nun ruhigerer Stimme, ihn aufstehen hieß. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sich die Königin eingeschaltet, indem sie ihrem von Schmerzen und Enttäuschung gequälten Gemahl über den Kopf streichelte und ihn dadurch wenigstens von den bösesten Geistern befreite.

Schweigend wartete der Wesir bis der König ihn fragte: "Du, musst sehr gewichtige Gründe gegen meine Idee haben. Sprich!"

"Du glaubst also, du könntest Jesus entführen lassen."

"Nicht entführen, befreien solltest du es nennen."

"Wie auch immer. Mit einer militärischen Blitzaktion quer durch die römischen Gebiete wirst du vielleicht den Erfolg haben, dass Jesus in die Gewalt deiner Soldaten gerät, solange er sich noch in Galiläa aufhält. Aber aus Jerusalem holen ihn deine Männer nicht heraus."

"Vielleicht doch!"

"Auf jeden Fall aber riskierst du mit dieser Maßnahme einen Kriegsgrund der Römer gegen unsere Stadt. Die brauchen doch nur unseren Handel zu stören, indem sie die Karawanenwege, die durch ihr Gebiet führen, sperren. Der Schaden wäre wirtschaftlich sehr empfindlich. Hunger und Not für viele würde die Folge sein.
Die Römer könnten äußerstenfalls aber auch direkt militärisch gegen uns vorgehen. Wie willst du dann, im Falle eines Sturmes auf unsere Stadt, der Plünderung und Ermordung oder Versklavung deiner Untertanen entgehen? Der Einsatz scheint mir zu hoch für dieses Glücksspiel."

Die Wirkung der Rede des Wesirs war für alle Anwesenden deprimierend. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Wieder schaltete sich die Königin ein. Sie brach das Schweigen mit dem Rat:

"Mein Gemahl, lass uns doch Ananias fragen, was er bei seiner Reise und bei Jesus erlebt hat. Vielleicht weiß er sogar, was der vorhat. Vielleicht gibt sein Bericht einen Anhalt für unser Handeln."

Abgar warf einen schnellen Blick auf seine Königin und sandte ihr ein kleines Lächeln. Er wandte sich an Pyrrhon und bat ihn an seinen Platz zurückzukehren. Dann sagte er zu Ananias:

"Ehe wir Entschlüsse fassen, die uns schnell reuen könnten, ist es sicher richtiger, dass wir die Geschichte deiner Reise anhören. Erzähle uns also alles, was du erlebt hast. Vergiss aber nicht, uns mit diesem Jesus näher bekannt zu machen. Was hast du über ihn und von ihm erfahren?"

ANANIAS ERZÄHLT

Ananias merkte, dass für das Wohl und Wehe seiner Heimatstadt Edessa jetzt sehr viel von seiner Erzählung abhing. Er erhob sich und machte eine tiefe Ehrenbezeugung vor Abgar und der Königin. Dann verharrte er noch einige Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Schließlich begann er:

"Glücklicher König, als ich damals deinen Auftrag übernahm, hielt ich ihn für ganz normal, für einen Auftrag, wie jeden anderen. Das hat sich aber während meiner Reise geändert. Je näher ich Jesus kam, umso mehr staunte ich über das, was ich über ihn hörte. Ich musste ja alle Leute fragen, wo er zu finden sei. Dabei hörte ich dann immer mehr und immer erstaunlichere Sachen."

"Kannst du das etwas genauer sagen?"

"Ja. glücklicher König! Das erste, was ich überall hörte, waren Geschichten von Heilungen aller möglichen Krankheiten. Es ist für die Leute überhaupt keine Frage, dass Jesus jedes Leiden heilen kann. Manchmal erzählen die Leute sogar. Jesus sei an manchen Kranken nur vorbeigegangen. Sie sollen gesund geworden sein, wenn sein Schatten auf sie fiel. Oft hörte ich, Jesus habe gesagt: 'Dein Glaube hat dir geholfen.' So hat er ja auch in der Botschaft an dich gesprochen. Glücklicher König, ich glaube ganz bestimmt, er wird dich von deiner Krankheit befreien!"

Abgar lächelte und fragte: "Haben dir die Leute auch noch Einzelheiten der Heilungen erzählt?"

"Danach habe ich sie ausgefragt. Wenn du es wünscht, werde ich dir einzelne Taten dieses Jesus erzählen, so wie ich sie von den Leuten dort erfahren habe."

Abgar nickte.

"Einer sagte: 'Als Jesus in einer der Städte war, kam ein Mann, der am ganzen Körper Aussatz hatte. Sobald er Jesus sah, warf er sich vor ihm zu Boden und bat ihn: Herr, wenn du willst, kannst du mich rein machen. Da streckte Jesus seine Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es - werde rein! Sofort verschwand der Aussatz.' Ein anderer berichtete: 'An einem Sabbat ging Jesus in eine Synagoge. - das ist ein jüdisches Bethaus - und lehrte. Dort saß ein Mann, dessen rechte Hand verdorrt war. Er sagte zu dem Mann: Steh auf und stell dich in die Mitte! Der Mann stand auf und trat vor. Dann sagte er zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er tat es, und seine Hand war gesund.' Dieser Vorfall habe zu einem Streit mit dem Vorsteher geführt, wollte einer bestimmt wissen."

"Warum?"

"Weil Jesus an einem Sabbat geheilt hat. Das wurde ihm als eine Arbeit ausgelegt, die uns Juden am Sabbat verboten ist. Dann erzählten mir einige, wie Jesus in der Stadt Naim einen jungen Mann, der tot war und schon begraben werden sollte, wieder ins Leben zurückgeholt hat."

"Ja, das hat damals schon der Jonas erzählt. Aber deine Bestätigung ist sehr interessant. Erzähl weiter!"

"Ich erfuhr noch einen ähnlichen Fall, da wurde er zu der eben verstorbenen Tochter eines Synagogenvorstehers gerufen. Dieser bat ihn, er möge ihr seine Hand auflegen, damit sie wieder lebendig werde. Jesus tat das. Und das Kind lebt! 'Auf dem Weg dahin, wo das Mädchen war,' erzählte wieder ein anderer, 'hat eine Frau, die am Blutfluss litt, nur sein Gewand berührt und war geheilt.' Noch ein anderer erzählte: 'Eines Tages kam ein Vater zu ihm und brachte seinen Sohn mit. Der hatte einen Dämon in sich. Der warf den Jungen zu Boden und zerrte ihn hin und her, als sie zu Jesus kamen. Aber der drohte dem Dämon, heilte den Jungen und gab ihn gesund seinem Vater zurück.' Manchmal wurde von mehreren Kranken gleichzeitig gesprochen, sogar von vielen. Alle wurden gesund."

"Das ist ja wirklich erstaunlich. Ich glaube, Wesir, wir können es damit genug sein lassen."

"Ja, das denke ich auch. Nur hätte ich gerne gewusst, warum Jesus Schwierigkeiten mit seinen eigenen Leuten hat. Denn jeder vernünftig Denkende müsste doch glücklich sein, dass so ein Heiland in seiner Nähe lebt."

"Das konnten sich die Leute auch nicht richtig erklären. Am häufigsten hörte ich, seine Lehre müsste Schuld daran sein."

"Fast hätte ich gewettet, dass es so sei," triumphierte Pyrrhon." Er hat bestimmt eine politische Patentidee, für die er wirbt, und die kein Verantwortlicher billigen kann."

"Nun, Wesir, wir brauchen deine Vermutungen nicht zu diskutieren. Ich könnte mir denken, Ananias wird uns sichere Kunde gehen. Sprich weiter, Ananias! Vielleicht kannst du uns auch noch einen Überblick über die allgemeine Politik dort in Palästina geben."

"Wir Juden hier in Edessa verfolgen natürlich die Lage in Jerusalem, so gut es eben geht. Was ich wusste, hat sich dort auch wieder gezeigt. Das sieht so aus: Unter den Juden dort gibt es vier große Gruppen. Nur eine von ihnen ist mit den Zuständen so, wie sie sind, zufrieden. Das sind meist die Tempelpriester. Wir nennen sie Sadduzäer. Sie arbeiten mit Herodes und mit den Römern einigermaßen gut zusammen.
Dann gibt es die Pharisäer. Sie sind fromme Menschen, welche all unsere Gebote und Verbote sehr gewissenhaft befolgen. Sie sind weder Freunde der Römer, noch des Herodes, noch der Priester. Sie erwarten das Kommen des Messias, der das Volk befreien soll. Sie befolgen unsere Gesetze ganz genau, damit er bald kommt.
Das möchten auch die Zeloten. Die wollen aber das Reich Gottes auf eigene Faust und mit Gewalt errichten. Man sagt, sie planen die Befreiung des Volkes durch Krieg gegen alle seine Feinde.
Ähnlich denken die Sikarier. Die haben ihren Befreiungskampf mit Terrorismus, Raub und Mord, sogar schon begonnen. Die vielen einzelnen Gewalttaten, von denen wir hier hören, gehen meist auf ihr Konto. Die Römer und Herodes haben natürlich ihre eigenen Ansichten. Die haben die Macht. Ist ja klar."

"Da hast du uns wohl einen Überblick über die politischen Ansichten und Aktivitäten in der jüdischen Bevölkerung gegeben. Wo steht, deiner Ansicht nach. Jesus?"

"Jesus passt da nirgendwo zu. Er ist kein Priester, kein Römerfreund, kein Parteigänger des Herodes, er lehnt Gewaltanwendung ab. Am ehesten könnte man ihn zu den Pharisäern rechnen. Aber auch mit denen streitet er häufig. Sagen die Leute."

Hier meldete sich der Pyrrhon zu Wort und, als der König nickte, fragte er: "Ananias, du hast vorhin gesagt, Jesus sei in ein Bethaus gegangen und habe dort gelehrt. Ich würde ja wirklich gerne wissen, was Jesus lehrt."

"Das habe ich die Leute auch gefragt."

"Und was weißt du nun?"

"Wir Juden warten seit vielen Jahrhunderten darauf, dass der Herr, unser Gott, sein Reich des Friedens aufrichtet. Unsere Propheten haben Weissagungen gesprochen und aufgeschrieben. Wir Juden erwarten einen Messias, der unter uns das Gottesreich errichten soll. Es wird ein Friedensreich sein. In ihm gibt es keine Waffen mehr. Selbst die grimmigsten Feinde werden friedlich sein.
Nun kommt Jesus und sagt: 'Dieses Gottesreich ist nahe. Aber ihr müsst euren Sinn wandeln. Ihr müsst anders denken. Damit ihr es gewahr werdet. Nur so könnt ihr in dieses Reich hineinkommen.' So ähnlich muss er wohl reden."

"Gibt Jesus denn Merkzeichen. woran man dieses Gottesreich erkennen kann?" interessierte sich nun der König. "Gilt es in einem bestimmten Gebiet, für ein bestimmtes Volk oder für eine bestimmte Religion?"

"Wir Juden haben nie daran gezweifelt, dass das Reich Gottes uns gehört. Als Grenzen kommen nur die von unserem König David in Frage. Der hat uns vor 1000 Jahren schon ein Friedensreich erkämpft. Der Messiaskönig kommt auch aus seinem Stamme. Aber seit ich gehört, was die Leute von Jesus erzählen, und seit ich ihn selbst erlebt habe, bin ich ziemlich sicher, dass der das ganz anders sieht."

"Und was meinst du jetzt?"

"Das weiß ich noch nicht genau. Glücklicher König, ich kann dir nur wiedererzählen, was ich an Worten Jesu von den Leuten erfahren habe."

"Erzähle!" forderte ihn Abgar auf

"Zum Beispiel: 'Die Mächtigen stürzt er vom Thron. Er erhebt die Schwachen.' Oder: 'Selig die Armen, die Friedfertigen, die Hungernden, die, die keine Gewalt anwenden, die Barmherzigen, die, die verfolgt werden, weil sie sich für Gerechtigkeit einsetzen.' Oder: 'Liebe nicht nur deinen Nächsten, sondern sogar deinen Feind!' Oder: 'Wenn ihr euren Mitmenschen ihre Fehler vergebt, dann wird euer Vater im Himmel auch eure Fehler vergeben.' Oder: 'Alles, was ihr von den anderen erwartet, das tut auch ihnen.' Sehr scharf hat er sich gegen jede Rache ausgesprochen, auch gegen die Regel 'Auge um Auge. Zahn um Zahn'. Dazu soll er gesagt haben: 'Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, so halte ihm auch die linke hin.' Am meisten gibt mir die Forderung zu denken: 'Der Größte unter euch sei der Diener aller!' Das stellt ja alles auf den Kopf!"

Nun konnte sich Pyrrhon nicht mehr halten: "Glücklicher König! Das erscheint mir alles sehr weltfremd."

Abgar nickte nachdenklich. Diotima hatte dem Gespräch mit großer Spannung zugehört. Jetzt mischte sie sich ein und meinte: "Es muss da ein Geheimnis um diesen Menschen sein. Einerseits wird er uns geschildert als ein mächtiger Mann, der stärker ist als alle Krankheiten, stärker selbst als Dämonen. Auf der anderen Seite predigt er Hoffnungen für kleine Leute, aber doch ohne sie aufzuhetzen. Ja, er scheint auf Gewalt sogar dann zu verzichten, wenn jeder andere sie ohne Zögern billigen würde. Ein Mächtiger, der Gewalt in jedem Falle ablehnt? Ich meine, wir sollten Ananias danach fragen, was die Leute von Jesus halten, und was er selbst von sich sagt."

Der König nickte Ananias zu und forderte ihn so auf, die Fragen der Königin zu beantworten.

"Die Leute munkeln, Jesus sei der erwartete Messias. Selbst soll er sich 'Menschensohn' nennen. Von Jahwe spricht er als von seinem Vater im Himmel."

"So, das sagen die Leute. Du hast ihn ja selbst erlebt. Was sagst du?"

"Bei der Heilung des Lahmen sah ich seine Macht. Am Abend aber, als ich mit den Leuten zusammen war, mit ihnen aß und trank, da sah ich nichts mehr von ihm. Es ging alles so reibungslos, ohne Organisation, ohne Streit. Jeder fühlte sich für seinen Nachbarn verantwortlich. Ja, ich muss sagen, jeder diente dem anderen. Es gab keine Aufsicht, keine Ordner. Und es waren viele Menschen dort zusammen. Ich kann verstehen, dass manche gern immer in dieser Gemeinschaft bleiben."

Ananias schwieg einen Augenblick, als wenn er sich auf etwas, das er sich hatte merken wollen, besinnen musste. Dann begann er wieder: 'Bevor wir an diesem einzigen Abend, den ich im Kreise der Jünger Jesu erlebt habe, schlafen gingen, beteten wir gemeinsam ein Gebet, das ich noch nie gehört habe. Es lautete:

Vater, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere Sünden:
denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. Lass uns den Versuchungen nicht erliegen."

Ananias schwieg wieder. Auch von seinen Zuhörern sprach niemand. Endlich räusperte sich Pyrrhon und sagte:

"Das ist allerdings wirklich nicht der Wunschzettel eines politischen Revolutionärs. Ananias hast du denn Jesus selbst nach sich gefragt?"

"Glücklicher König! Ich habe noch ein kurzes Gespräch mit ihm gehabt. Am darauffolgenden Morgen. Er kam von sich aus zu mir und sagte: 'Bringe deinem Tetrachen etwas von dem Frieden mit, den du hier erlebt hast. Meine Botschaft kennst du ja. Das konnte ich bestätigen. Aber ich sagte dann, über ihn selbst hätte ich gerne auch noch etwas gewusst. 'Was kann ich über dich selbst berichten?' hab' ich gefragt. Er sagte: Haben denn meine Brüder dir nicht genug erzählt?' Und dann: 'Trag deinem Herrn das erste Lied vom Gottesknecht aus dem Buch des Propheten Jesaia vor! Der Knecht bin ich, und ebenso ist es die Gemeinde meiner Jünger.

"Woher bekommen wir jetzt das Prophetenbuch?" fragte Abgar.

"Ich habe mir gedacht, dass du das fragen würdest. Deshalb habe ich auf dem Rückweg in Kapernaum in der Synagoge nachgefragt. Ich habe den Text in aramäisch auswendig gelernt. Ich kann ihn dir sagen."

"Dann lass ihn uns hören!

Ananias nahm eine feierlich Haltung an und rezitierte, zur Verwunderung seiner Zuhörer, in der Art, wie er das aus der Synagoge gewohnt war:

"Seht das ist mein Knecht, den ich stütze:
das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.
Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt.
er bringt den Völkern das Recht.
Er schreit nicht und lärmt nicht
und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen.
Das geknickte Rohr zerbricht er nicht,
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus;
ja, er bringt wirklich das Recht.
Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen,
bis er auf der Erde das Recht begründet hat.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Zuhörer von ihrem Erstaunen über diese Worte und die Art der Darbietung erholt hatten. Dann nahm der König das Wort und sagte zum Wesir:

"Lass diese Verse durch den Sekretär in schöner Schrift aufschreiben. Dann schicke sie zu dem Synagogenvorsteher und lass sie mit dem dortigen Text vergleichen. Danach gib ihn mir. Die Botschaft, die Jesus uns durch Ananias geschickt hat, lass ebenfalls schriftlich für das Archiv festhalten. Wir werden in den nächsten Tagen vielleicht noch oft über diesen Jesus nachdenken. Ich bin eigentlich ganz sicher, dass er sein Wort an mir wahr machen wird. Bis dahin werden wir Geduld haben müssen.
Dir, Ananias, meinen Dank. Deine Worte haben mich aufgerichtet. Wesir, vertritt mich, bitte, bei den Staatsgeschäften und berichte mir heute Abend."

Damit war die Sitzung aufgehoben. Pyrrhon und Ananias gingen, die Befehle des Königs auszuführen.

WARTEN

Abgar wurde auf Wunsch Diotimas in das Frauengemach getragen. Dort hatte sie von ihren Mägden ein bequemes Lager für den kranken König bereiten lassen. Jetzt ließ sie auch Konfekt und Getränke servieren.

Für den König war der Wechsel vom Tragstuhl auf ein Lager immer sehr schmerzhaft. Er ächzte leise und verzog das Gesicht. Als er schließlich richtig und bequem lag, schloss er die Augen und versuchte sich klar zu werden, welche Folgerungen er für sich aus dem ziehen sollte, was er an diesem Vormittags erfahren hatte.

Die Königin bemühte sich, in seinem Gesicht zu lesen. Solange jedoch die Mägde noch geschäftig waren, sprachen sie beide kein Wort. Erst als die letzte die Tür hinter sich geschlossen hatte, bot Diotima ein Schälchen Kawe und süßes Konfekt an, das er so gerne aß.

Er nahm es dankbar an, sagte aber immer noch nichts. Sie unterbrach sein Schweigen nicht, sondern wartete geduldig, bis er sich über die Bedeutung der Nachrichten des Tages mit ihr aussprechen konnte.

Schließlich begann Abgar: "Du hast recht. Und der Wesir hat das ja auch gesagt. Ein Handstreich bringt uns nicht weiter. Er kann eigentlich nur mit einem Desaster endigen. Selbst wenn er gelänge, wäre noch nicht sicher, dass Jesus mit einer "Befreiung" einverstanden wäre. Nach Ananias Berichten scheint mir das mehr als unwahrscheinlich. Was uns bleibt, ist warten. Oder hast du eine andere Idee?"

"Ich weiß nicht recht. Warten ist vielleicht zu wenig. Wir schätzen beide, glaube ich, Jesus für einen Mann ein, der keine leeren Versprechungen macht. Er kann dich also heilen. Und er hat versprochen, es auch zu tun. Zwar nicht persönlich, aber durch einen anderen auf sein Geheiß. Ich habe aber auch den Eindruck, dass Jesus für sich einen wichtigen Auftrag hat oder zu haben glaubt. Und den kann ich nicht durchschauen."

"Wie sollten wir das, wenn wir einerseits mächtige Taten von ihm hören, und andrerseits erfahren, dass er Gewaltlosigkeit und Armut predigt und sogar Feindesliebe. Verzicht auf eine Vergeltung für erlittenes Unrecht. Was für ein Bild einer Zukunft mag in seinem Kopfe stecken?"

"Aber wir wissen doch nun ganz sicher, dass es diesen Jesus gibt, dass er keine Erfindung ist. Und ich habe die feste Hoffnung, dass er sein Wort hält. Mir scheint, der Glaube an ihm ist das Wichtigste. Der wird dich gesund machen. Das hat er ja auch in seiner Botschaft an dich angedeutet."

"Gut warten wir also!" sagte Abgar müde.

"Warten allein genügt nicht. Wir müssen auf das Ereignis deiner Heilung zu leben. Das verstehe ich unter Glauben. Der muss unser Denken und Handeln bestimmen.

Diotima stand vor Abgar. Sie hatte ihre kleinen Hände zu Fäusten geballt, um ihm klar zu machen, dass er jetzt seine ganze Energie einsetzen müsse.

Aber Abgar war auch nicht der Mann, der passiv und geduldig auf ein Ereignis warten wollte. "Mich beschäftigt dieser geheimnisvolle Mann. Die wenigen Bruchstücke seiner Reden, die wir erfahren haben, geben mir noch keinen rechten Sinn. Er könnte ein mächtiger Mann sein, wie die Heroen der Vorzeit. Offenbar verzichtet er jedoch freiwillig auf jede Machtausübung, außer zum Heilen. Und dabei scheint es ihm nicht auf hoch und niedrig anzukommen. Er hat keine Diener, die ihn bedienen. Im Gegenteil, wenn ich Ananias richtig verstanden habe, sorgt in seinem Umkreis jeder für jeden. Offenbar entsteht auf diese Weise eine Oase des Friedens um ihn herum."

"Könnten wir nicht," begann die Königin wieder, "in Edessa so etwas wie eine Oase des Friedens schaffen?"

"Vielleicht, wenn wir diese verrückte Forderung wahr machen: Der Höchste sei der Diener aller!"

Die beiden sprachen noch eine Weile über diesen Gedanken. Die Welt dieses Jesus und die Traditionen, in denen er lebte, schienen von den eigenen Vorstellungen sehr weit entfernt. Sie waren aber entschlossen, auf Jesus zuzugehen. Sie fühlten, dass bei ihm nicht nur Heilung von einer Krankheit, sondern ein Heil zu finden sei, von dem sie sich vorderhand noch keine klare Vorstellung machen konnten. Schließlich kamen sie zu dem Schluss ihre Gedanken demnächst mit geeigneten Beratern zu erörtern.

DER WESIR MACHT EINE ERFAHRUNG

Während dieser Gespräche im Gemach der Königin gingen der Wesir und Ananias, den Aufträgen des Königs entsprechend, zunächst gemeinsam zum Sekretär. Ananias diktierte die Botschaft Jesu, die er mündlich mitgebracht hatte, und das Lied vom Gottesknecht.

Dann konnte der Schnellläufer endlich nach Hause und zu seiner Frau gehen. Der Wesir erinnerte ihn vorher nur noch an seine Schweigepflicht für alles, was er im Palast gesehen und gehört hatte. Danach nahm Pyrrhon die Handschriften und ließ sich damit zur Synagoge der Juden tragen. Dort traf er Micha, den Vorsteher.

Der fühlte sich sehr geehrt, weil der höchste Beamte des Königs zu ihm kam. Zugleich fürchtete er, dieser Besuch könnte irgendetwas Unerfreuliches oder gar Schlimmes bedeuten. Wer weiß, was kommt, wenn hohe Herren sich einem aus dem Volke nähern.

Umso mehr überraschte es ihn, als ihm Pyrrhon die schriftliche Aufzeichnung aus dem Jesajabuch vorlegte und verlangte, er solle die fehlerfreie Wiedergabe und Übersetzung bestätigen.

Micha nahm den Text entgegen und stellte fest, dass es eine Übersetzung aus dem Hebräischen in die Umgangssprache war. Er runzelte die Stirn und bat den Wesir: "Hoher Herr, es handelt sich hier um eine Übersetzung in unsere Sprache. Ich muss mir den hebräischen Urtext holen. Dann wird es aber wohl einige Zeit dauern, bis ich alles, was du willst bestätigen kann."

Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "Hoher Herr, kannst du mir verraten, woher du diesen Text hast?"

"Nein, das kann ich nicht. Tu deine Arbeit und gib mir dann den Text unverzüglich zurück! Und noch eines: Ich werde dich die Peitsche fühlen lassen, wenn du sie einem weiteren Menschen zeigst oder irgendjemand davon redest, warum ich bei dir war. Mein Diener wird hier bleiben und nicht von deiner Seite weichen, bis du fertig bist. Du kannst ihm dann den Text mit deinen Bemerkungen zurückgeben oder in seiner Begleitung zu mir kommen. Ich bin im Haus des Gerichtes."

Dorthin begab er sich nun unverzüglich, denn es war schon sehr spät für den Gerichtstermin geworden. Als er auf seinem Richterstuhle saß, erschien vor ihm ein ihm gut bekannter und reicher Bürger Edessas, ein Perser mit Namen Kambyses. Neben ihm stand, zwischen zwei Gerichtsdienern, die ihn festhielten, ein Mann in guter, wenn auch etwas ramponierter Kleidung. Außerdem drängten sich noch viele andere Männer, offenbar einfache Arbeiter, in die Halle.

Nachdem Ruhe eingetreten war, öffnete der Wesir seinen Mund und sprach: "Kambyses sage mir, was sind das für Leute, die sich alle hier versammelt haben."

Der reiche Handelsherr trat einen Schritt vor und begann: "Die Männer hier um mich sind alle meine Arbeiter. Sie wollen wissen, welches Urteil du sprechen wirst."

Der Wesir nickte und eröffnete dann die Verhandlung: "Der Ankläger bringe seine Klage vor!"

"Dieser Mann ist mein Verwalter," begann Kambyses und wies mit der Hand auf den Mann, der von den Dienern festgehalten wurde. "Ich habe leider feststellen müssen, dass er mich um ganze zehntausend Talente geschädigt hat."

"Wie hat er das gemacht?"

"Er hat sie unterschlagen."

"Ha, dafür wird er die Bastonade kosten. Was..."

Er wurde vom Beifall der Männer unterbrochen, die mit diesem schnellen Urteil offenbar sehr einverstanden waren. Sie klatschten in die Hände und riefen "Bastonade, Bastonade!"

Es dauerte eine Weile, bis die Ruhe wiederhergestellt war. Pyrrhon war misstrauisch geworden, der allzu laute Beifall war ihm verdächtig. Darum setzte er den unterbrochenen Satz fort: "Was sagt der Angeklagte zu dieser Beschuldigung?"

Die beiden Diener ließen den Verwalter los. Dieser machte ein paar Schritte auf den Richterstuhl zu. Dort warf er sich nieder. Der Wesir hieß ihn aufstehen und wiederholte noch einmal seine Aufforderung: "Was sagst du zu der Anklage?"

"Sie ist unberechtigt! Mein Herr hat mir meine Schuld ganz und gar erlassen, als ich ihn darum gebeten habe."

"Stimmt das?" wollte nun der Wesir wissen.

"Ja, das stimmt," sagte Kambyses. "Aber lass dir berichten, was geschehen ist, und warum es zur Anklage kam."

Pyrrhon nickte und der reiche Kaufmann fuhr fort:

"Als die Unterschlagung ans Licht gekommen war, wollte ich meinen Verwalter in den Schuldturm werfen lassen. Er aber flehte mich an, ich solle das nicht tun, er würde mir alles erstatten. Er wies auf seine Frau und Kinder, die ohne ihn im Elend leben müssten. Ich ließ mich breitschlagen und erließ ihm die ganze Schuld."

"Erließ', sagst du?"

"Ja, ich erließ ihm die ganze Schuld."

"Und warum bist du nun hier?"

"Kaum hatte mir dieser Bursche die Hände geküsst und war von mir weggegangen, da hörte ich seine wütende Stimme draußen und dann auch gleich den Lärm einer Prügelei. Leute liefen zusammen und trennten die beiden. Als ich dazukam, erfuhr ich den Grund für den Aufruhr: Mein Verwalter, dem ich gerade eben seine ganze, große Schuld erlassen hatte, wollte seinerseits mit ganz brutaler Härte gegen einen meiner Leute vorgehen, der ihm nur eine ganz kleine Summe schuldete. Ich bitte dich nun, Wesir, meinen Verwalter zur Rückzahlung der ganzen Summe, die er unterschlagen hat, zu verurteilen. Ich will mein Geld wiederhaben."

Diese Darstellung wurde von lauten Zurufen begleitet. Jetzt entlud sich die Stimmung in lebhaften Beifall der Arbeiter.

Der Wesir staunte sehr, denn es schien ihm ganz seltsam, dass der reiche Geschäftsmann, den er auch gut kannte, eine so große Summe einem Verwalter erlässt, der ihn betrogen hat. Ebenso verstand er seinen Zorn über die Habgier und Bosheit des Verwalters. Darum wandte er sich streng an diesen und fragte ihn: "Was hast du dazu zu sagen?"

"Es stimmt alles so, wie es mein Herr gesagt hat."

Noch einmal staunte der Wesir. Gleichzeitig suchte er nach einem Rechtsspruch in dieser verfahrenen Situation. Dabei störte ihn die Anwesenheit der Arbeiter, denn er fühlte, dass es nicht leicht sei, ihnen die verzwickte Rechtslage zu erklären. Dazu fehlte ihm auch noch eine Feststellung:

"Wer kann mir sagen, ob die Forderung des Verwalters an seinen Kollegen berechtigt war oder nicht."

Kambyses erklärte: "Die Forderung war berechtigt. Aber es ist doch ein wirklich skandalöses Verhalten, was dieser Unverschämte an den Tag gelegt hat, dem ich doch eben eine ungewöhnliche Gnade erwiesen hatte."

Gern hätte Pyrrhon sich zurückgezogen, um über den Fall nachzudenken, und wie er den Rechtsspruch, der sicherlich weder den Arbeitern noch dem Kambyses gefallen würde, erklären könnte. Aber es half nichts, er musste sprechen.

In diesem Augenblick erschienen Micha und der Diener in der Halle. Pyrrhon ergriff sogleich erfreut die Gelegenheit, unterbrach die Verhandlung und winkte die beiden zu sich. Die kamen und übergaben das Schriftstück. Micha erklärte mit leiser Stimme: "Herr, die Übersetzung ist in Ordnung. Sie muss von einem Fachmann gefertigt sein. Ich bin begierig zu erfahren, wo du sie her hast."

Ohne ihm zu antworten las Pyrrhon noch einmal die Verse, die Ananias dem König vorgetragen hatte. Von Vers zu Vers wurde ihm zu seinem Schrecken klar, wie sehr er sie als eine Forderung an sich selbst gerade in diesem Augenblick verstehen musste.

"Er bringt den Völkern das Recht, ja er bringt wirklich das Recht, er wird nicht müde, bricht nicht zusammen." wiederholte er leise für sich selbst.

Schließlich wandte er sich an Micha: "Ich danke dir. Nimm dieses Goldstück für deine Mühe." Zu seinem Diener fülgte er hinzu: "Du bleibst hier zu meiner Verfügung!"

Dann sah er Kambyses, der noch immer vor ihm stand und eine Verurteilung des Verwalters forderte. Er sah die Arbeiter, die schon deutlich unruhig wurden, weil sie fürchteten, das Urteil könnte ihnen nicht gefallen. Sah den ungetreuen und schurkischen Verwalter, der ängstlich auf seine Bestrafung wartete.

Pyrrhon strich sich seinen Bart, holte tief Atem und begann: "Kambyses, wenn ich mein Urteil nach meinem Gefühl sprechen dürfte, so wäre jetzt die Bastonade mit 200 Schlägen auf die Fußsohlen fällig. Aber du hast die Rückzahlung der Summe gefordert, die du ihm erlassen hast. Das geht leider nicht, weil wir uns an das Recht halten müssen. Ich kann auch deinen Verwalter nicht zwingen, seinerseits auf die Summe, die ihm der Kollege schuldet, zu verzichten, denn seine Forderung besteht ja zu Recht."

Bei diesen Worten hatten die Arbeiter von Anfang an viel Unruhe gezeigt. Jetzt machten sie ihrer Unzufriedenheit durch laute Rufe Luft.

Der Wesir hob die Hand. Sogleich bildeten die Gerichtsdiener eine Kette zwischen ihm und den murrenden Arbeitern.

"Ich kann euch sehr gut verstehen, wenn ihr mit dem Spruch nicht einverstanden seid. Aber ich spreche hier nicht, wie ich fühle, sondern wie es Recht ist. Denn: Eine einmal erlassene Schuld kann nicht hinterher wieder eingefordert werden. Geschenkt ist geschenkt! Und von Gerichts wegen kann eine bestehende Schuld auch nicht gestrichen werden. Es tut mir in diesem Falle besonders leid, weil der Beschuldigte offenbar eine besonders widerliche Habgier bewiesen hat. Selbstverständlich kann der misshandelte Arbeiter gegen ihn klagen. Das sollte er auch tun."

Darauf gab der Wesir das Zeichen, mit dem die Sitzung geschlossen wurde. Aber dann wandte sich noch einmal an den Kläger: "Kambyses, komm einmal hierher zu mir!"

Der Angeredete kam näher bis er dicht vor dem Richter stand.

"Du hast doch deinem Verwalter die ganze enorme Schuld erlassen, weil du ihn geschätzt hast und bis heute mit ihm ganz und gar zufrieden warst. Stimmt das?"

"Richtig." bekannte der betrogene Kaufmann.

"Und du hast deine Meinung geändert, weil er deinen Arbeiter so gepresst hat?"

"Ja."

"Mir fällt auf, dass deine Arbeiter so vehement Partei gegen ihn ergreifen. Könnte das daran liegen, dass er sie schlecht behandelt und zu viel Arbeit von ihnen fordert?"

Kambyses antwortete: "Die Arbeiter sind mein Eigentum. Ich kann von ihnen harte Arbeit fordern. Aber ich lasse es nicht zu, dass mein Verwalter sie prügelt, weil er seine eigenen Interessen verfolgt."

"Dann rate ich dir, Kambyses, sorge du dafür, dass deine Verwalter deine Arbeiter nicht unterdrücken müssen. Schaue deinen Aufsehern auf die Finger und bringe ihnen bei, dass deine Arbeiter Menschen sind und daher gut und gerecht behandelt werden müssen. Besonders, wenn die Arbeit schwer und mühevoll ist."

Kambyses sah den Wesir verwundert an. Er sagte aber nichts. Darum fuhr Pyrrhon fort:

"Ein gerechter Mensch zerbricht das geknickte Rohr nicht und löscht nicht einen glimmenden Docht. Ich denke, du verstehst mich."

VERWIRRUNG

Pyrrhon begab sich nach dieser für ihn nicht alltäglichen Gerichtsverhandlung zum König. Er war sich nicht sicher, wie Abgar seinen Bericht darüber aufnehmen würde. Zu seiner Überraschung war das Königspaar noch immer zusammen und empfing ihn in einem kleinen, bequem mit Polstern eingerichteten Essraum. Die Diener hatten den Kranken gerade so gebettet, dass er essen konnte. Auf Geheiß Diotimas wurde ein Gedeck für den Wesir aufgelegt und eine Dienerin brachte eine Schale mit Wasser, damit er sich die Hände waschen konnte. Pyrrhon ließ sich von seinem Diener die beiden Dokumente geben und entließ ihn dann. Bisher waren außer den in solchen Fällen üblichen höflichen Redensarten zum Willkommen, Einladung und Dank, noch nicht gesprochen worden. Erst als eine Dienerin auch die Getränke serviert und die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, fragte der König nach den Schriftstücken, die er in Auftrag gegeben hatte.

Pyrrhon war es natürlich angenehm, dass er das Gespräch nicht gleich auf die Gerichtsverhandlung bringen musste. Zwar wusste er, dass daran kein Weg vorbeiführte, weil der mächtige Handelsherr Kambyses sich, wie mit großer Sicherheit anzunehmen war, beim König über ihn beschweren würde. Darum wollte er seine Darstellung des Verhandlungsverlaufes doch lieber selbst vorbringen.

Nun reichte er dem König also zunächst erst einmal die beiden Schriftstücke. Die Königin nahm sie ihm ab und rollte sie auf. damit Abgar das Schriftbild sehen und beurteilen konnte. Der war damit zufrieden und verfügte, dass sie zunächst noch zur Hand bleiben sollten. Später sollten sie dann in das Archiv gelegt werden.

"Hast du die Übersetzung des Jesajatextes auf ihre Richtigkeit prüfen lassen?" wollte der König wissen.

Pyrrhon bestätigte das und erzählte von dem Lob, das Micha ihm ausgedrückt habe. "Micha wollte unbedingt wissen, woher ich den Text hätte, der nur von einem Fachmann so gut in unsere Umgangssprache übersetzt sein könnte. Ich habe ihm aber kein Wort gesagt und ihm sogar angedroht, ich würde ihn peitschen fassen, wenn er jemand davon erzählte. Ich will ja nicht, dass gleich die ganze Stadt erfährt, welche Fäden du knüpfst.

"Da hast du Micha aber einen schönen Schrecken eingejagt. Es ist mir aber recht wenn vorläufig über unsere Verbindung zu Jesus noch nichts an die Öffentlichkeit dringt. Du wirst mir das ohnehin raten, weil du eine Blamage fürchtest. Gut, das musst du auch als Realpolitiker. Ich habe aber auch einen Grund. Ich will nämlich nicht gerne in die Auseinandersetzungen der Juden wegen Jesus hineingezogen werden. Die werde ich ohnehin nicht begreifen."

Jetzt gleich aber wollte der König die Texte noch einmal hören und zwar erst die Botschaft Jesu, die dieser dem Ananias mündlich mitgegeben hatte. Der Wesir kam dem Wunsche nach und las das, was Ananias zur Niederschrift gegeben hatte.

Abgar wiederholte halblaut: "Du bist glücklich zu preisen, weil du an mich geglaubt hast.' und '...damit er dein Leiden heile und dir und den Deinen neues Leben schenke' Du bist glücklich zu preisen!' Er sagt nicht: 'Du wirst glücklich werden.' 'Du bist (jetzt) glücklich, weil du an mich geglaubt hast.' Bei ihm scheint wohl Glauben ein eigener Wert zu sein. Etwas, was eine neue Situation schafft, oder 'Neues Leben', wie er das offenbar nennt."

Pyrrhon folgerte: "Wenn du jetzt glücklich bist, glücklicher König, dann bist du es, weil wir der Nachricht geglaubt haben, die Jonas gebracht hat. Das hat uns auf den Weg zu Jesus gebracht. Wenn er nun sagt, du seiest deswegen glücklich, dann kann man doch auch annehmen, deine Krankheit sei ein Glücksfall für dich, denn ohne sie hättest du keinen Grund gehabt, an Heilung zu denken. Seltsam. wohin man gerät. wenn man solchen Worten genauer nachgeht."

"Meine Krankheit ein Glücksfall! Das kannst auch nur du sagen, weil du keine Ahnung davon hast, wie mir zumute ist. Du kannst ja deine Beine gebrauchen. Was weißt du schon! Wenn du überhaupt von Glück reden kannst, dann deshalb, weil ich eine neue Hoffnung habe. Die allerdings möchte ich mir auch nicht nehmen lassen."

"Abgar", schaltete sich Diotima ein, "Jesus scheint mir ein Mann zu sein, dessen Versprechungen schon ein gewisses Maß an Wirklichkeit und Erfüllung bedeuten. In uns haben sie eine Hoffnung auf Heilung geweckt, die schon so etwas wie Gewissheit ist."

"Manchmal könnte ich jeden umbringen lassen, der auf seinen Beinen hier herein kommt. In dieser Stimmung hat mich das 'ich-werde-nicht-zu-dir-kommen' wirklich sehr getroffen. Ihr wisst ja selbst, welche Ideen in meinem Kopf rumorten. Auch jetzt noch möchte ich am liebsten nach Jerusalem fahren und den Mann, der mir die Schmerzen nehmen, und der mich heilen kann, mit List und Gewalt hierher holen. Ich rebelliere innerlich gegen eure Vernunftgründe, denen ich mich andererseits nicht entziehen kann und will."

Abgar schwieg ein paar Atemzüge lang, um etwas ruhiger fortzufahren: "Dann höre ich 'Leiden-heilen' und 'neues-Leben-schenken' und habe die Vorstellung von etwas ganz Unerhörten, von Glück und Heil für uns alle hier in Edessa. Ja, dann wird das Versprechen schon zu einer Wirklichkeit, und ich kann dieses "Glücklich" für einen kleinen Augenblick begreifen."

Diotima hatte sich dicht neben Abgar gesetzt und sagte indem sie einen Arm um seine Schulter gelegt hielt: "Was du da eben von dir gesagt hast, fühle ich ganz ähnlich. Ich meine, wir müssten die Zeit, in der wir alle auf die Ankunft des Jüngers warten, sinnvoll nutzen. Ich glaube, wir täten gut daran, den Ananias erneut hierher zu holen, um seinen Bericht über Jesus noch einmal zu hören. Vielleicht kommen uns dabei Gedanken, die uns helfen, glücklich zu sein, und ein neues Leben zu erlangen."

Pyrrhon schwieg. Er betrachtete den Vorschlag der Königin noch sehr skeptisch. Aber er sah auch keine Alternative. So schien es ihm besser, sich zurückzuhalten und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten.

Abgar aber griff den Vorschlag Diotimas auf und beauftragte den Wesir, den Ananias bald erneut vorzuladen. Er habe sich ja auch noch nicht einmal für seine Leistung bedankt. Das müsse er nachholen. Dann fiel ihm ein, dass noch nicht alles vorgelesen war, was er für das Archiv vorgesehen hatte. Er bat also den Wesir, ihnen noch das Lied aus dem Buch Jesaja vorzulesen. "Ich möchte gerne diesen Jesus, so gut es geht, kennen lernen."

Pyrrhon versuchte die Vortragsweise des Ananias nachzuahmen. Das gelang ihm aber natürlich nicht und brachte ihm nur ein ironisches Lächeln Abgars ein, der ihn bat, so zu lesen, wie er es gewöhnlich tue.

Als Pyrrhon geendet hatte, ließ der König die Botschaft Jesu ins Archiv bringen. Das Gottesknechtslied wollte er zu seiner Verfügung behalten, weil er es noch sorgfältiger lesen müsse, um daraus ein Bild von Jesus zu gewinnen.

Nun gab es keinen Grund oder Vorwand mehr, den Bericht von der Gerichtsverhandlung am Morgen zu verschieben. Pyrrhon bat also ums Wort dafür und erzählte seinem König alles, was er dabei erlebt hatte.

Der Wesir schloss mit den Worten: "Glücklicher König. Du weißt, dass ich bisher nicht gezögert habe, wenn es darum ging, einen offensichtlich üblen Burschen hart zu bestrafen. Aber diesmal fielen mir zweimal Zitate aus dem Lied des Jesaja ein. Sie ließen mich anders handeln, als ich es sonst getan hätte."

"Welche sind das?

"Das erste ist: ...... Er bringt den Völkern das Recht Ja, er bringt wirklich das Recht......Er wird nicht müde, bricht nicht zusammen. Das war das erste."

"So ist es doch richtig. Du hast nach dem Gesetz Recht gesprochen. Den üblen Burschen müsste man wegen seines tätlichen Angriffs auf den Untergebenen zur Rechenschaft ziehen, wenn ihn der Angegriffene anzeigt. Ich kann mir aber vorstellen, dass der Kambyses dich als Richter sehr schelten wird. Das werden wir ertragen müssen."

"Ich habe Kambyses nach der Verhandlung zu mir gebeten und als er kam, habe ich ihn darauf hingewiesen. dass er besser daran täte, seine Aufseher zu kontrollieren, damit sie den Arbeitern nicht zu viel zumuteten. Dabei habe ich das zweite Zitat aus dem Lied, allerdings in freier Form, verwendet: 'Ein gerechter Mensch zerbricht das geknickte Rohr nicht und löscht nicht einen glimmenden Docht.' Ich hoffe er hat mich verstanden."

"Ja, das wollen wir hoffen." antwortete der König. "Ich befürchte auch, dass Leute wie Kambyses ihre Arbeiter ohne jede Rücksicht ausbeuten. Ihre Helfer sind dabei Leute wie der Beklagte. Es kommt mir vor, dass der dem Kambyses in dieser Hinsicht ein sehr williges Werkzeug war. Anders kann ich mir dessen Großzügigkeit nicht recht erklären. Na, warten wir es ab, ob der Kambyses sich noch rührt."

Abgar erinnerte seinen Wesir nochmals an den Auftrag bezüglich der Botschaft Jesu und entließ ihn dann.

Das Königspaar las nun noch einmal gemeinsam das Lied vom Gottesknecht. Jesus hatte gesagt: "Der Knecht bin ich". Darum hofften sie, aus den Versen eine Art Bild von ihm zu erhalten, das ihnen helfen könnte, sein Wesen besser zu erkennen.

"Ob der Jesajas wirklich von Jesus gesprochen hat?" fragte sich die Königin. "Wer war eigentlich dieser Dichter? Wann mag er gelebt haben? Wer ist ein Prophet?"

"Ob der Dichter eine bestimmte Person im Auge gehabt hat, ist vielleicht nicht so wichtig. Er scheint mir in einer ziemlich schlimmen Zeit gelebt zu haben, in der er sich ausmalt, wie der Mensch sein müsste, der die Welt wieder in bessere Zeiten führen könnte. Jesus erkennt sich offenbar in diesem Gottesknecht wieder. Er empfindet sich also als eine Alternativfigur zu den Potentaten und Eroberern dieser Welt. Aber er weiß sich auch geschützt durch einen mächtigen Gott. Wenn wir uns Jesus zuwenden wollen, dann müssen wir bereit sein, in allen unseren Vorstellungen anders zu denken."

"Dazu wäre ich wohl bereit", antwortete Diotima. "Nur kann ich mir noch nicht recht vorstellen, in welche Richtung dieses Umdenken gehen soll. Ananias muss uns seinen Bericht noch einmal wiederholen. Es könnte doch sein, dass wir aus ihm noch Hinweise erhalten, die uns das Lied besser verstehen lassen. Lass es uns jetzt noch einmal lesen, damit wir es uns einprägen. Dann haben wir für Ananias Bericht einen besseren Hintergrund. Übrigens denke ich, wir müssen auch Micha zuziehen. Er ist wahrscheinlich der Einzige in der Stadt, der uns Fragen zu dem Gott Jahwe und zum Begriff Prophet beantworten kann."

Abgar klatschte in die Hände und es erschien ein Diener, der durch eine tiefe Verbeugung seine Dienstbereitschaft bekundete. "Ananias, der Schnellläufer, und Micha, der Vorsteher der Synagoge der Juden, sollen sich morgen früh bei mir melden!" befahl der König.

Der Diener gab zu bedenken, dass am folgenden Tag Sabbat sei, an dem die Juden sich ausschließlich in der Synagoge und in der Familie aufhalten.

Abgar wollte gerade wieder seinen Unmut äußern und seiner Ungeduld freien Lauf lassen, da mischte sich Diotima ein und riet. 'Abgar, wir sollten den Sabbat der Juden respektieren. Ich könnte mir vorstellen, dass wir morgen ohnehin noch einiges zu denken haben. Möglich auch, dass sich Kambyses bei Dir meldet. Übrigens meine ich, es wäre besser, wenn Ananias und Micha nicht gleichzeitig hier wären.

Abgar lächelte: 'Du bist doch eine kluge Frau!" und den Diener beschied er: "Also: Micha soll übermorgen am Vormittag kommen, Ananias am Nachmittag. Die beiden sollen nichts voneinander wissen. Falls sich Kambyses meldet, so ruf den Wesir dazu, beide sollen nur zusammen bei mir eingelassen werden. Wenn Tobias, der Gastwirt, Nachrichten für mich hat, so ist er sofort vorzulassen."

Wenn Diener oder Besucher im Raum waren, blieb die Königin stets in gemessenen Abstand vorn König. Sie meldete sich dann auch nur selten zu Wort. So wollte es die Sitte in Edessa und natürlich erst recht die Hofetikette. Nur, wenn es um wesentliche persönliche Fragen ging, wie alles, was mit der Krankheit Abgars zusammenhing, dann äußerte sie sich mit ihrer Meinung gelegentlich auch sogar heftig.

Jetzt setzte sie sich neben Abgar so, dass sie beide in der Rolle das Gedicht des Jesaja jeder für sich lesen und bedenken konnten. Obwohl ihnen vieles sehr, sehr fremd erschien, weil ihr Weltbild voll von Göttern und Göttinnen, Geistern und Geheimnissen war, ließen sie sich doch fesseln von dem Bild des Menschen, das dort gezeichnet wurde. War wirklich ein Mensch gemeint? Sie erinnerten sich, dass Jesus, nach Ananias, auch die "Gemeinde meiner Jünger" als Knecht Gottes bezeichnet hatte.

Natürlich lebten sie auch in der Welt der östlichen Ideen die von Persien und noch weiter von Indien her das Denken der Menschen beeinflusste. Geheime Kräfte, Zauber, Amulette, Isis, Dionysos, Astarte, Artemis, Demeter, Mithras. Dagegen verblassten die alten Götter mit ihren offiziellen Opfern und Kultsymbolen schon ins kaum noch Geglaubte, ins nicht mehr Verstandene.

Was an philosophischen Gedanken von den großen Universitäten nach Edessa drang war auch zu gängiger Münze abgenutzt und oft genug Falschgeld: Amüsiere dich so gut du kannst, das Leben ist kurz, oder: Nimm, was dir das Glück bietet, oder: lass dich von nichts und niemand beeindrucken. folge deinem Gewissen, zeige weder Schmerz noch Freude. Alles fließt, es gibt keinen festen Punkt, keine sichere Erkenntnis. Alles ist relativ, auch die Moral.

"Ich weiß nicht," begann Diotima, "wenn ich das so lese. Welche praktische Bedeutung haben gleich die ersten beiden Verse?

Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze,
das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.
Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt,
er bringt den Völkern das Recht.

Wer ist ich'? Wer kann Recht bringen ohne Macht?" Bei jedem Satz, den Diotima sprach, ging der Atem Abgars schneller. Zuletzt schnaubte er und schlug mit der Hand nach ihr. "Wenn du nicht sofort still bist, geschieht etwas. Ich will an Jesus glauben. Wenn er sagt, das bin ich, so ist es so. Er wird mich heilen. Er hat es gesagt. Hab du doch Erbarmen mit mir und lass mir meinen Glauben, ja glaube auch du ebenso fest. Du musst, du musst...." So schrie er noch eine Weile bis er schließlich kraftlos auf die Kissen sank.

Diener kamen hereingestürzt, weil sie glaubten, ihrem Herrn geschähe Gewalt. Diotima schickte sie stumm wieder weg, nahm ein Tuch und tupfte damit die Stirn Abgars trocken. Sie streichelte seine Hände und, als er wieder ruhiger atmete, sagte sie leise: "Abgar, ich liebe Dich. Ich glaube mit dir, dass dieser Jesus dich heilen wird. Aber ich weiß auch, dass diese Heilung uns allen neues Leben bringen wird. An das muss ich denken. Heute schon ist Pyrrhon mit diesem neuen Leben zusammengestoßen. Auch wir werden das. Ich habe davor Angst. Aber ich weiß, dass wir ihm nicht ausweichen können, und auch nicht wollen. Und da frage ich mich, wer ist der 'ich' der uns Richtung gibt, und wer der Gott, der uns stützen kann?"

Abgar blieb mit gesenktem Kopf zunächst stumm. Dann blickte er Diotima an und sagte: "Ich danke dir für diese Worte. Verzeih bitte meine Heftigkeit. Ich bin noch nicht so weit. Ich kann noch nicht weiter sehen als bis zur Heilung meiner Krankheit. Aber jetzt ahne ich, was du vielleicht gemeint hast, als du sagtest, wir dürften nicht passiv, sondern müssten aktiv warten. Wir wollen die Zeit nutzen und uns auf das Neue Leben vorbereiten."

Sie beugte sich über ihn, küsste seine Stirn und sagte: "Ich lasse uns jetzt noch einen Becher Wein bringen. Dann machen wir noch unser Würfelspiel zusammen. Wir sollten diesen Tag ausklingen lassen und nicht so voller aufgewühlter Gedanken ins Bett gehen. Wenn Kambyses morgen kommt, wirst du schon um das neue Leben kämpfen müssen. Dann ist es besser, wenn du vorher gut geschlafen hast.'

Der König lächelte und nickte Zustimmung. Die Königin rief den Diener und ließ den Wein und die Würfel bringen. Zwei Diener stellten das Tischchen so an das Lager des Königs, dass er den Wein und auch die Würfel gut erreichen konnte. Es war ein kniffliges Spiel, das die beiden schon oft gegeneinander ausgetragen hatten. Es dauerte auch nicht lange, da waren sie beide von Ihren Problemen fortgelockt und konnten nach den Dienern rufen, die ihnen ihre Lager zum Schlafen herrichteten.

In dieser Nacht hatte Abgar einen Traum, der ihn noch am Morgen, als er ihn seiner Frau erzählte, heiter und optimistisch stimmte.

"Mir war, als wenn ich mit einem anderen Manne, den ich gar nicht kannte, um die Wette laufen müsste. Keiner von uns beiden war dem anderen überlegen. Wir liefen beide so schnell wir konnten nebeneinander her. Keiner konnte dem anderen den kleinsten Vorsprung abgewinnen. Seltsamerweise hatten wir uns kein Ziel gesetzt. Nur war mir klar, dass es um mein Leben ging. So liefen wir in einer öden Wüste. Die Hitze machte mir heftig zu schaffen. Schon merkte ich, wie meine Kräfte nachließen, wie mein Schritt und mein Laufrhythmus unsicherer wurden. Schließlich glaubte ich nicht mehr zu können und setzte mir ein Ziel. Dort an jenem Stein, dort wollte ich mich für besiegt erklären. Ich raffte alle meine Energie zusammen, um diese Marke zu erreichen. Und denk dir: Unmittelbar vor dem Stein, keine drei Schritte wären es noch gewesen, da riss mein Gegner seine Arme hoch und brach das Rennen ab. Ist das nicht toll?"

"Glaubst du, der Traum habe dir deine Heilung angekündigt?"

"Nein, so verstehe ich ihn nicht. Sieh, wir sind doch dabei unser Denken ganz und gar umzustellen. Noch kennen wir das Ziel gar nicht. Aber wir sind bereit, uns für das neue Leben in Edessa einzusetzen. "Das kostet Anstrengung und Mühe. Der Traum verspricht uns den Erfolg, wenn wir nicht aufgeben."

"Abgar, ich glaube, deine Heilung hat schon begonnen. Edessa wird einen König haben, der der Stadt neues Leben eröffnet."

Sie erörterten noch eine Weile ihre neue Hoffnung bis schließlich der Tag nach ihnen griff.

BESCHWERLICHER WEG

Der König Abgar sah es gerne, wenn ein Beschwerdeführer erst einen Tag verstreichen ließ, ehe er seine Beschwerde vorbrachte. Das geschah immer mündlich. Kambyses erschien also, nachdem die Sonne ihren höchsten Stand hinter sich gelassen hatte, und wurde wie üblich in den kleinen Audienzraum geführt. Der Diener bedeutete ihm, er müsse noch warten. Der König komme erst, wenn auch der Wesir eingetroffen sei.

Kambyses hatte sich schon auf eine längere Wartezeit eingestellt und war daher überrascht, dass sich schon nach kurzer Zeit das Kommen des Herrschers ankündigte. Zwei Diener bereiteten den Sitz für Abgar vor. Dann kam die Sänfte mit dem König. Der Wesir begleitete sie. Kambyses stellte fest, dass die Krankheit Abgars in letzter Zeit Fortschritte gemacht hatte. Das tat ihm leid, denn er hatte den König immer geschätzt. Es wurde ihm ungemütlich bei dem Gedanken an den Grund seiner Audienz. Aber nun war er einmal hier und nun wollte er dem König seine Vorwürfe gegen den Wesir auch vortragen. Zu sehr hatte er sich wegen dessen Verhandlung und Spruch gestern geärgert.

Der König ließ sich das Verhandlungsprotokoll geben. Dann forderte er Kambyses auf, seine Beschwerde vorzubringen und zu begründen.

Der kniete nieder und berührte mit seiner Stirn den Boden. Dann erhob er sich wieder und begann, sich über den Wesir wegen Schädigung seines Ansehens in seinem Betrieb und in der ganzen Stadt zu beklagen.

Abgar ließ ihn seinen Ärger aussprechen, ohne ihn zu unterbrechen. Erst als er anfing, sich zu wiederholen, forderte er ihn auf, den Verlauf der gestrigen Sitzung, so wie er sie erlebt habe, zu erzählen.

Kambyses hatte erwartet, dass der König den Wesir auffordern würde, ihm zu antworten, und sich zu rechtfertigen. Er benötigte etwas Zeit, um seine Gedanken zu sammeln. Dann erzählte er den für ihn so enttäuschenden Verlauf der Verhandlung seiner Klage, und der König verfolgte seine Darstellung anhand des Protokolls.

Als er geendigt hatte, redete ihn der König an: "Kambyses, deine Darstellung entspricht durchaus der, die mir der Wesir gestern gegeben hat, und auch dem Protokoll, das ich hier vor mir habe. Ich bedanke mich daher bei dir und beim Wesir für eure Rechtschaffenheit.
Was nun den Rechtsfall angeht, so sind es eigentlich zwei. Einmal eine erlassene Schuld, die du dennoch zurückforderst. Zum anderen der tätliche Angriff deines Verwalters gegen einen deiner Leute. Lass uns das beides sorgfältig auseinander halten, auch wenn es Zusammenhänge gibt.
Du hast also deinem Verwalter eine beträchtliche Schuld, die sogar aus einer Unterschlagung stammt, erlassen. Aber als der nun seinerseits einen deiner Leute zwingen wollte, ihm eine vergleichsweise minimale Summe, die dieser dem Verwalter schuldete, sofort zu zahlen, wurdest du wütend. Du verlangtest nun von ihm, die unterschlagene Summe voll zurück. Ist das so richtig dargestellt?"

"Ja, glücklicher König." antwortete der Kaufmann.

"Dann, Kambyses, kann ich auch nicht anders sprechen als der Wesir. Leider, denn ich bin betroffen, dass wir so einen üblen Burschen in Edessa haben, der nicht einmal bereit ist, ein klein wenig Barmherzigkeit zu zeigen, wenn er selbst soeben eine große empfangen hat. Aber den anderen Fall, den körperlichen Angriff gegen einen deiner Arbeiter, der bei ihm in der Kreide steht, werden wir verfolgen, wenn der Fall angezeigt wird."

"Ja, aber, glücklicher König, wie stehe ich jetzt da? Mein Ansehen in meinem Betrieb ist völlig dahin, und in der Stadt werde ich ausgelacht."

"Na, Kambyses, der Bestrafung für diesen tätlichen Angriff entgeht dein Verwalter ja nicht. Der Kerl kommt also hinter Schloss und Riegel. Aber mich interessiert jetzt, warum hast du eigentlich dem Verwalter die ganze Schuld erlassen? Immerhin hatte er dich ja betrogen. War er so wertvoll für dich, dass du ihn trotz seiner mangelnden Vertrauenswürdigkeit weiter im Dienst behalten wolltest?"

"Das mag dir seltsam vorkommen, glücklicher König. Aber ich habe meinen Betrieb. Ich muss höllisch aufpassen, dass meine Arbeiter das tun, was sie sollen, und nicht faulenzen. Dazu brauche ich einen scharfen Aufseher, der von den Leuten gefürchtet wird. So einer ist das. Natürlich freuen sich jetzt die Arbeiter, wenn es dem an den Kragen geht. Ich aber, woher kriege ich so schnell einen Ersatz?"

"Einen Ersatz, der durch den Druck auf deine Arbeiter mehr für dich herausholt, als er dich durch seine Unterschlagungen schädigt, nicht wahr?"

"So kann man das natürlich auch sehen, glücklicher König. Doch bedenke, ich zahle durch meinen Betrieb nicht eben wenig Steuern. Du bist beteiligt an dem System."

"Ich bin darüber auch ziemlich beunruhigt. Der Wesir hat mir berichtet, er habe dir nach der Verhandlung seine Meinung gesagt. Ich denke ähnlich. Wir dürfen unsere Existenz nicht auf geknickten Rohren und ausgelöschtem Leben aufbauen. Darüber müssen wir ernsthaft nachdenken."

Damit beendete der König die Audienz. Doch rief er den Kaufmann noch einmal zu sich:

"Kambyses, du und die anderen Kaufleute dient durch euren Wagemut, verbunden mit eurem klugen Sachverstand, unserer Stadt Edessa und eurem Reichtum. Ihr werdet sicher mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass ihr mir unentbehrlich seid. Ebenso wisst ihr auch, dass unsere Politik auch euch nützlich ist. Darum möchte ich euch bald zu einer Beratung zu mir bitten, um eure Meinung zu hören."

Kambyses war alles in allem froh, dass ihm der König keine schwereren Vorwürfe gemacht hatte. Außerdem hatte er ihm, wenn auch nur vage, klar gemacht, dass er ihn für neue Pläne, die er offensichtlich vorhatte, zu Rate ziehen wollte. Er versicherte also dem König seine Bereitschaft, machte ihm seine Reverenz und ging seiner Wege. Abgar und Pyrrhon blieben allein. Der König ließ sich in sein Arbeitszimmer tragen und forderte den Wesir auf, mit ihm zu kommen.

"Wenn noch ein Besucher kommt, so lasse ich mich wieder hierher bringen. Aber für uns beide ist es dort etwas bequemer." Diener brachten kühle, erfrischende Getränke. Als alles wieder ruhig war, lehnte sich der König ächzend zurück und begann das Gespräch: "Wesir, was hat dich eigentlich veranlasst, dem Kambyses das von dem geknickten Rohr und dem glimmenden Docht zu sagen?"

"Ganz genau kann ich das auch nicht sagen. Mich hat dieses Lied des Jesaja in Verbindung mit der Behauptung dieses Jesus 'Der Knecht bin ich' ziemlich betroffen gemacht. Die Zitierung, nach der Verhandlung gestern, war ganz spontan. Mich hatte geärgert zu erfahren, wie der Kambyses offenbar mit seinen Leuten umspringt. Meine Bemerkung war von mir als Anstoß zum Nachdenken gedacht."

"Früher hast du bei solchen Gelegenheiten wie gestern kurzen Prozess gemacht. Du hättest den Schurken von Verwalter auf der Stelle empfindlich gestraft."

"Diese Frage habe ich schon gestern von dir erwartet und gefürchtet, denn ich hätte sie nicht beantworten können. Heute möchte ich es wenigstens versuchen. Nachts kommen mir manchmal die besten Gedanken. Ich versuchte mich zu erinnern, ob es in der Dichtung unserer Vorzeit eine Gestalt gäbe, von dem ein heutiger sagen könnte: 'das bin ich'."

"Da hast du wohl keinen gefunden?"

"Nein! Der literarische Gottesknecht wird lebendig. Dennoch ist er kein Heros, der von siegreichen Kämpfen spricht, kein Himmelsstürmer. Er ist viel mehr einer, der das Recht bringt. Dabei wird er von einem Gott Jahwe geschützt. So etwas ist ganz einzigartig und kann kaum eine Erfindung sein. Mich hat das gepackt und ich würde gerne dieses Jesus Freund sein."

"So, dann hast du gestern schon als Richter so gehandelt, als wenn Jesus als dein Freund hinter dir gestanden hätte."

"Das war auch so, denn Micha reichte mir das Lied, nachdem er es geprüft hatte, in die Verhandlung. Ich konnte nicht umhin, es zu lesen. Ich hatte immer geglaubt, Recht zu sprechen. Aber hinter meinem Spruch stand unsere Macht. Da wurden wohl oft die Forderungen der Wirtschaft oder unserer Sicherheit oder gewisser weltanschaulicher Gruppen oder unserer eigenen Politik zu Recht und Gesetz."

"Du meinst, Jesus könne dir helfen, das zu ändern?"

"Ich fürchte, ich bin einer Krankheit auf der Spur, an der wir alle leiden. So wie du an der deinen. Im Unterschied zu dir spüren wir keine körperlichen Schmerzen. Aber das Verhalten der Arbeiter dieses Kambyses zeigt mir, dass sie an dem Zwang unter ihren Aufsehern leiden. Dass diese Krankheit auch die Aufseher nicht verschont, zeigt mir das üble Verhalten des Verwalters."

"Pyrrhon, der Kambyses hat mir vorgerechnet, dass ich in dem gleichen 'System', wie er sich ausdrückte, lebe. Heißt das etwa, dass auch ich an dem von dir vermuteten Leiden erkrankt hin?"

Der Wesir antwortete nicht. Die beiden Männer schwiegen eine Weile. Dann sagte Pyrrhon.: "Vielleicht sind deine Schmerzen doch ein Glücksfall für uns alle."

Abgar lächelte: "Du kannst froh sein, dass ich heute nicht so schlecht dran bin wie gestern. Lass mich dir einen Traum, den ich in der letzten Nacht hatte, erzählen."

"Einen Traum? Ich weiß nicht, ob ich mich auf Traumdeutung verstehe."

"Brauchst du nicht. Hör zu!"

Der König erzählte seinen Traum und gab auch gleich seinen Kommentar dazu, in dem auch die Hoffnung Diotimas mit einbezogen war.

Pyrrhon schwieg zunächst nachdenklich. Abgar ließ ihn ohne zu drängen. Erst nach einer langen Zeit fragte er:

"Na, was meinst du dazu?"

"Ich weiß ja, dass du bisher deinen Träumen keine besondere Bedeutung zugemessen hast. Ich glaube auch, dass sie eher ein Spiegel sind, in dem sich unsere Wünsche und Befürchtungen in Bildern darstellen. Mag sein, dass manchmal ein Gedanke sich im Traum sehr vereinfacht und darum eindrucksvoll widerspiegelt. Du hast ein Bild deiner eigenen Hoffnung gesehen. Wenn du an ihr festhältst, wirst du siegen. Hat dir das die Königin nicht auch gesagt?"

"Fast. Ich bekomme nach und nach das Gefühl, als wenn das, was du "Krankheit der Gerechtigkeit" nennen würdest, in meinem Denken den Vorrang bekommt vor meinem persönlichen Leiden."

Ihre Gedanken kreisten noch lange Zeit um Gerechtigkeit, wie sie im Lied vom Gottesknecht gemeint sein könnte, um Abgars Krankheit und Jesu Heilungszusage und um das "neue Leben", wie Jesus sich ausgedrückt hatte. Sie hatten ja auch nicht viel in der Hand. Aber das Wenige wollten sie ausforschen.

Schließlich fragte der König: "Geht nicht dieser Sabbat der Juden zu Ende, wenn die Sonne untergegangen ist?"

"Soviel ich weiß, ist das so."

"Dann könnten wir doch einen Diener zu Micha schicken, damit wir ihn noch heute Abend hier haben."

Pyrrhon nickte und Abgar klatschte in die Hände. Unverzüglich erschien ein Diener, dem der Wesir den Auftrag erteilte, den Micha herzuholen, sobald der Sabbat der Juden vorüber sei."

Für die Zwischenzeit bis zu Michas Eintreffen, ließ Abgar etwas zu essen und zu trinken auftragen. Er rechnete mit einem langen Abend.

"Ob es Sinn hat, den Ananias noch einmal nach Jerusalem zu schicken, um zu erfahren, wie es mit Jesus weitergegangen ist? Ich habe den Eindruck, er bewegte sich zur Zeit der Begegnung mit Ananias schon auf eine Entscheidung zu. Ob die aber schon gefallen ist? Und wie?"

"Sinn könnte das schon haben. Allerdings wenn wir Jesus unter Beobachtung halten wollen, müssten wir wohl einen regelmäßigen Kurierdienst einrichten. Ich meine wir sollten zunächst erst einmal alles auswerten, was wir von Jesus schon wissen. Die Botschaft, das Lied vom Gottesknecht und die Erzählungen des Ananias. Jetzt gleich fangen wir an mit Micha, den wir nach dem Jesaja und der Bedeutung des Liedes fragen werden."

"Gut. Nur, wenn Micha kommt, bitte kein Wort über Jesus. Auch die Herkunft der Übersetzung wollen wir ihm nicht verraten. Wir haben sie eben."

Die beiden hatten noch etwas Zeit, um ihre Fragen an Micha zu diskutieren. Dann aber meldete der Diener den Synagogenvorsteher an. Abgar verzichtete auf seine ursprüngliche Absicht, Micha im Audienzsaal zu empfangen, sondern befahl, den Besucher zu ihnen ins Arbeitszimmer zu führen. Der Diener tat, wie ihm befohlen war. Nach dem üblichen Begrüßungszeremoniell wurde Micha vom König aufgefordert, es sich bequem zu machen. Diener brachten Getränke. Aber der Gast nahm nichts zu sich. Er war viel zu gespannt, zu erfahren, was der König von ihm wollte.

Der ließ die Spannung noch etwas steigen. ehe er ihn anredete: "Micha, du hast dem Wesir gestern bestätigt, dass die Übersetzung des sogenannten Gottesknechtliedes, das er dir vorlegte, korrekt ist."

"Sie ist es, glücklicher König. Niemand in Edessa hätte das besser gekonnt."

"Das freut mich sehr, zumal mich der Inhalt und die Sprache des Liedes sehr bewegt hat. Darum möchte ich gerne mehr über den Dichter wissen. Aber auch, wen das Lied mit dem Gottesknecht meint."

"Der Dichter heißt Jesaja. Er lebte vor etwa 700 bis 800 Jahren in Judäa, das ist die Landschaft um Jerusalem. Er war ein Prophet, der unseren damaligen Landsleuten zu Glauben und Vertrauen auf unseren Gott, der uns auch in der größten Not nicht verlässt, aufrufen wollte. Sein Buch ist das erste unserer Prophetenbücher. Das Lied ist eines von vieren, die in seinem Buch enthalten sind."

"Aha, also eine uralte Dichtung. Du sagtest, der Verfasser sei ein Prophet gewesen. Wer ist ein Prophet? Ist das ein Titel, oder ein Amt? Wer ernennt einen Menschen zum Propheten?"

"Ja, eine uralte Dichtung, aber wir Juden glauben daran, dass der Verfasser ein von Gott auserwählter Mensch ist. Ein Prophet also und dazu berufen, unserem Volk eine Botschaft zu bringen. Seine Ankündigungen beziehen sich auf die Zukunft unseres Volkes. Sie sind die Wahrheit."

"Welcher Gott ist das nun gewesen, der den Jesaja berufen hat?"

"Es gibt nur einen einzigen Gott. Er hat uns seinen Namen Jahwe', selbst genannt. Das Wort bedeutet in unserer hebräischen Sprache: 'Ich bin der ich hin'. Ich umschreibe das für uns etwa so: 'Ich bin der einzig wirkliche' Unsere eigene Wirklichkeit ist vollständig von ihm geschenkt. Er hat alles, was existiert, geschaffen. Die Erde. den Himmel, das Meer, die Pflanzen, die Tiere und uns, die Menschen."

"Und unsere Götter, was ist mit ihnen?"

"Gäbe es sie wirklich, wären auch sie Geschöpfe Jahwes."

"Das sind starke Worte, Micha. Lass das nicht die Oberpriester des Zeus, der Demeter, der Isis, des Mithras und wie sie alle heißen, hören.

"Ich werde mich hüten. Jahwe ist zwar der Schöpfer und Herr der Welt und aller Menschen, aber wir Juden sind sein Volk, das er liebt, und das er befreien wird."

"Und das soll dann der Messias tun, nicht wahr'?"

"Woher weißt du das? Ja, so hoffen wir."

Abgar ließ die Frage unbeantwortet und führte das Gespräch wieder auf den Jesaja und sein Lied zurück: "Wir sprechen ja von dem Lied des Propheten. Der ist also von Jahwe berufen, eurem Volk die Zukunft zu zeigen. Wen meint er denn mit dem Gottesknecht?"

"Die Verse, die du kennst, glücklicher König, könnten den Dichter selbst meinen. Aber die allgemeine Deutung unserer Schriftgelehrten ist doch, es könne nur der erwartete Messias sein, der Gerechtigkeit bringt und das Volk befreit von aller Not und Unterdrückung."

"Gibt es noch eine Deutung?"

"Ja, mancher sieht in dem 'Gottesknecht' auch unser Volk Israel, das für alle Welt ein Zeichen der Gerechtigkeit sein soll."

"Na, Micha, ihr habt zwar schon lange hier bei uns eine Gemeinde von Juden. Aber "Zeichen von Gerechtigkeit" stelle ich mir anders vor."

"Die Vorhersagen des Jesaja sind ja auch noch nicht alle eingetroffen. Wir warten noch auf den Messias. Ich bin sicher, wenn wir den kennen, dann löst sich alles."

"Warten also! Auch ihr Juden."

Micha sah seinen König überrascht an. Doch der fragte schnell: "Wird denn der Messias ein Befreier für alle Menschen sein oder nur für das Volk der Juden?"

"Er wird Befreier aller Menschen! Aber zuerst der Juden."

"Dann könnte das ein Vorgang sein, der sehr lange Zeit braucht. Kann ein Mensch das in seinen Lebensjahren?"

"Wir kennen die Kräfte nicht, die der Messias haben wird. Nach Jesaja muss er auch heftigen Widerstand aushalten. Sterben wird er vielleicht für die Gerechtigkeit. Wenn du erlaubst, glücklicher König, werde ich dir eine Abschrift aller Gottesknechtlieder zukommen lassen. Vielleicht beantworten die deine Fragen besser, als ich es kann."

"Vorzüglich, Micha, tu das! Der Wesir und ich sind auf Probleme mit der Gerechtigkeit in unserer Stadt gestoßen. Es kann sein, dass Jesaja uns hilft, sie zu lösen."

Der König schwieg ein paar Augenblicke lang, dann setzte er hinzu: "Es ist spät geworden. Ich denke, wir sollten den Tag beenden. Ich danke dir, Micha, für deine Hilfe."

Micha fühlte, dass er jetzt keine neugierigen Fragen stellen durfte. Darum gehorchte er ohne zu zögern dem Wink seines Königs und folgte dem Diener, der ihn aus der Residenz geleitete. Als sie allein waren, sagte Pyrrhon:

"Offenbar hat sich Jesus uns mit dem Lied selbst vorstellen wollen. Er hält sich bestimmt für den Messias und er wollte, dass wir es wussten. Ein einzelner Zeuge, wie Ananias, genügte ihm nicht. Darum gab er ihm den Jesaja zu Seite. Jesus ist bestimmt kein Spinner, das kannst du glauben."

Abgar stimmte ihm zu, meinte aber außerdem: "Wenn diese alte Prophezeiung Wirklichkeit wird, dann wird sie im vollen Umfang eintreffen. Dann wird Jesus sterben müssen. Warum, bleibt mir allerdings schleierhaft."

Er machte eine kleine Pause. Dann setzt er hinzu: "Auch ich weiß nicht, ob wir jetzt nicht anfangen, uralte Verse in einer Weise zu deuten, dass sie wie ein unausweichliches Schicksal erscheinen. Eingreifen, um Jesus zu helfen, können wir ohnehin nicht. Also werden wir warten und versuchen, unsere eigene Situation zu verstehen und mit ihr fertig zu werden."

"Das heißt aber doch auch, in Richtung auf ein Ziel, das wir bestenfalls ahnen, weiter zu laufen, um in deinem Traumbild zu bleiben."

"Ich bin müde," schnitt Abgar alle weitere Diskussion ab. "Lass uns schlafen gehen!"

So trennten sie sich.

NEUE FRAGEN

Am nächsten Morgen erzählte Abgar der Königin Diotima von dem Gespräch mit Micha. Wie immer hörte sie ihm aufmerksam zu, äußerte sich aber zunächst nicht dazu. Abgar wartete ohne Ungeduld bis sie erst nach einer Weile nachdenklich sagte: "Mir ist eingefallen, dass Jesus dem Ananias gesagt hat: 'Der Gottesknecht bin ich und ebenso die Gemeinde meiner Jünger.' Wenn Micha nun meint, dieser geheimnisvolle Gottesknecht könne vielleicht das ganze Volk Israel sein, so kann Jesus ebenso gut sagen, seine Jünger würden seine Aufgabe als Gottesknecht fortsetzen. So gesehen wäre sein Tod nicht das Ende des Gottesknechtes. Dann ist seine Zusage, einen Jünger zu senden, nicht die Erledigung einer zweitrangigen Aufgabe durch einen untergeordneten Mitarbeiter sondern seine eigene volle Zuwendung. Das bestätigt und erklärt übrigens auch Ananias' Feststellung über den inneren Frieden der Gruppe um Jesus."

Sie hielt einen Augenblick inne, legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes und fuhr fort: "Ich glaube, ich verstehe jetzt sein 'Glücklich bist du!' Warten wir also. Und bereiten uns auf seine Ankunft vor!"

"Diotima!" sagte Abgar sinnend. "als wir den Brief an Jesus schrieben und Ananias damit losschickten, dachte ich: Dort gibt es einen Arzt, der mich heilen kann. Den will ich hier sehen. Er soll mir seine Kunst beweisen. Sein Schade soll es nicht sein. Leistung gegen anständige Vergütung.' Und was ist jetzt? Wir fühlen, dass sich alles für uns ändern wird. Er will kein Honorar. Nein, er verlangt uns selbst. Nicht nur mich, auch Dich, unsere Familie, ja, letztlich ganz Edessa. Und wir? Wir beginnen, dem zu entsprechen. Ja, wir wollen es sogar, weil wir ahnen, dass es ein Glück für uns sein wird. Nach und nach, scheint mir, rutscht der Anlass von all dem, meine Krankheit, in den Hintergrund."

"Vor ein paar Tagen hat die Bemerkung Pyrrhons: 'Deine Krankheit ist vielleicht ein Glücksfall für uns' noch deinen Zorn hervorgerufen. Heute könntest du das selbst sagen." Diotima sprach mit einem prüfenden Blick auf sein Gesicht, um die Wirkung ihrer Worte zu erkennen. Abgar jedoch sagte ganz ruhig und sachlich:

"Gleich kommt Ananias. Er soll uns seinen Bericht noch einmal wiederholen. Pyrrhon und auch seine Schreiber sollen dabei sein. Wir möchten ihn nochmals ausfragen, um Jesus noch etwas näher zu kommen. Willst du dabei sein'?"

"Gern will ich das. Ich freue mich!"

Sie brauchten nicht lange zu warten. Der Wesir, Ananias und die Schreiber wurden gemeldet und sofort herein gerufen. Als sie alle ihre Reverenzen je nach Rang und Würde gemacht hatten, brachten Diener heißen Kawe und kühle Fruchtgetränke. Jeder fand seinen Platz. Rechts und links von Abgar saßen die Königin und der Wesir. Hinter diesem die zwei Schreiber. Ananias wurde dem König gegenüber platziert. Pyrrhon hatte ihm gesagt, dass vorläufig kein neuer Auftrag beabsichtigt sei. Darum war er gespannt zu erfahren, was der König denn heute von ihm wollte. Er blieb nicht lange im Unklaren denn Abgar forderte ihn sogleich auf, nochmals alles das zu wiederholen, was er über seine Reise zu Jesus und über diesen selbst erzählt hatte. "Ergänze, wenn nötig, noch das, was dir inzwischen dazu wieder eingefallen ist!"

Ananias besann sich zunächst etwas, um sich seinen Bericht in Erinnerung zu rufen. Dann erzählte er ihn fast wortgetreu noch einmal. Hin und wieder unterbrachen ihn die Schreiber, wenn sie nicht mitgekommen waren, oder etwas nicht verstanden hatten. Als Ananias zum Schluss gekommen und alles richtig auf den Schreibtäfelchen notiert war, dankte Abgar dem Schnellläufer und ließ ihm durch den Wesir eine schöne Belohnung aushändigen. Damit war er aber noch nicht entlassen, sondern wurde vielmehr mit den Schreibern ins Vorzimmer geschickt. Dort sollte er sich noch zu Fragen bereithalten und inzwischen das Protokoll der Schreiber überprüfen, bevor die Reinschrift vorgelegt wurde.

Als sie zu dritt allein waren, meldete sich zuerst Pyrrhon zu Wort: "Es gibt doch noch einige Ungereimtheiten: 'Die Mächtigen stürzt er vom Thron' und 'die Reichen lässt er leer ausgehen'. Du, glücklicher König, bist mächtig und reich, aber dir verkündigt er ausdrücklich: 'Selig bist du, weil du geglaubt hast' Das verstehe ich nicht."

"Ja, tatsächlich, das ist paradox." Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort: "Jesus ist aber nicht irrsinnig. Es muss eine Lösung geben, die es uns erlaubt zu glauben, obwohl wir reich und mächtig sind."

"Ich könnte mir vorstellen", meinte Diotima. "dieses Wort vom Dienen könnte uns auf den Weg bringen."

"Wie meinst du das?"

"Nun, wenn der Reiche seinen Reichtum, der Mächtige seine Macht im Dienst für alle einsetzt. Dann würde ein Reicher nicht mehr sein als jemand, der bestimmte Fähigkeiten hat. Sei das von Geburt oder erlernt, wie etwa ein Techniker, oder ein Handwerker oder eine Tänzerin. Nutzt jeder seine Fähigkeiten im Dienst für alle, so stelle ich mir vor, könnte eine Stadt wie Edessa ein harmonisches, ja glückliches Gemeinwesen werden, in dem jeder zufrieden und sicher leben könnte."

"Ja, meinst du denn, Edessa wäre kein solches Gemeinwesen?"

"Darf ich Dich, glücklicher König", warf nun Pyrrhon ein. "an Kambyses und seinen Prozess erinnern. Ich habe ernste Zweifel ob unsere Rechtsprechung, mit der wir ja nun einmal unsere Macht ausüben, bisher wirklich allen gedient hat, und nicht nur den Wenigen einer kleinen Oberschicht."

"Ob das so einfach ist?" zweifelte Abgar, "Die Abgaben der Kaufleute sind unser Reichtum. Wir sind also Nutznießer all ihrer Praktiken. Wir sind im System. Kambyses hat Recht."

Der Wesir sprach nicht weiter. Er wollte seinen König nicht angreifen. Das verbot ihm auch sein Sinn für Gerechtigkeit. Abgar und Diotima blieben ebenfalls stumm, weil sie sich betroffen fühlten. Alle drei suchten nach einem Ausweg aus dem Konflikt, in den sie das Durchdenken der Worte Jesu gebracht hatte.

Schließlich versuchte Diotima einen Vorschlag: "Ich möchte noch einmal an dieses Wort 'der Erste bei euch soll der Diener aller sein' erinnern. Mich fasziniert es. Ich glaube, wir brauchten gar nicht zu wissen, dass es von Jesus stammt, und welchen Anspruch der Autor vielleicht für sich selbst erhebt. Es ist eine Grundregel, die überall auf der Welt und bei allen Menschen gültig ist."

"Worauf willst du hinaus? Was bringt uns das praktisch?" wollte Abgar wissen, und der Wesir folgerte: "Der König ist der Erste in dieser Stadt. Also müsste er der Diener aller seiner Bürger sein. Wie könnte das praktisch geschehen?"

"Ich meine etwa so:" begann Diotima. "Der König ist zum Beispiel für die Sicherheit in der Stadt und auf den Straßen und Wegen der Umgebung verantwortlich. Das wird niemand bestreiten. Er dient damit jedenfalls der Wirtschaft und dadurch allen. Das Instrument dafür sind die Soldaten. Vor deiner Krankheit hast du die Truppen, glaube ich, gut unter persönlicher Kontrolle gehabt. Jetzt ist der Hauptmann selbst der Erste der Soldaten. Er muss wissen, welche Auffassung sein König von seiner militärischen Aufgabe hat. Sie dürfen nicht nur den Reichen dienen, sondern müssen auch für die Armen unmittelbar nützlich sein können."

Abgar kratzte sich den Kopf "Da magst du Recht haben. Wir müssten dann aber auch die Polizei und den Amtmann für die Befestigungen auf unsere Sicht ihrer Pflichten festlegen. Auch sie müssten Diener aller werden, indem sie ihre jeweiligen Dienste richtig versehen."

Jetzt meldete sich Pyrrhon und sagte: "Du kennst meine Erfahrung mit dem Fall Kambyses. Der Gottesknecht soll das Recht bringen. Er wird nicht müde werden. Mir fällt in dem Zusammenhang noch der Spruch eines Philosophen ein: 'Nicht die Macht darf Recht, sondern das Recht muss Macht haben. Ich werde mich bemühen, in meinen Verfahren das Recht zu suchen und nicht allein den Paragraphen zu dienen, sondern den Menschen. Auch Kambyses Arbeiter müssen Rechte haben! Kambyses soll nie wieder sagen können, du, glücklicher König, seiest auch in seinem System."

Eben wollte Diotima dazu etwas vorbringen, als es klopfte und ein Diener meldete, Ananias wolle seinen Bericht noch etwas ergänzen. Die Königin stimmte sofort zu. Sie war erleichtert, denn sie wollte die bedrückende Feststellung Abgars nicht stehen lassen, aber sie hatte auch noch kein gutes Argument für ihre Hoffnung.

Ananias wurde also hereingelassen, nahm seinen bisherigen Platz wieder ein und wurde von Abgar aufgefordert, das vorzubringen, was ihm noch eingefallen war. "Als ich eines Abends in einer Kneipe saß und mich ausruhte, erzählte einer eine Geschichte, wenn du willst, glücklicher König, werde ich sie dir wiederholen."

"Natürlich, wenn sie etwas mit diesem Jesus zu tun hat." ermunterte ihn Abgar.

"Du musst wissen, die Leute, die in den dortigen Gegenden am meisten gehasst werden, sind die Zöllner. Natürlich zahlt niemand gerne Abgaben. Aber die dort sind auch oft wie die Räuber. Sie nehmen den Menschen das Letzte. Besonders denen, die sich nicht wehren können. Zu einem besonders reichen von diesen Zöllnern wurde Jesus eines Tages eingeladen. Mehrere andere waren auch noch da. Natürlich waren die frommen Juden böse, weil er zu denen gegangen ist. Aber er hat darauf nur gesagt, er müsse zu den Kranken und zu den Sündern gehen. Die brauchten ihn. Und dann erzählte der Mann in der Kneipe noch: Der eine Zöllner hat zu Jesus gesagt. Ich will nun die Hälfte meines Besitzes den Armen geben. Und wenn ich einem zu viel Zoll abgenommen habe, so will ich es ihm wiedergeben."

Abgar glaubte ein Leuchten in den Augen seiner Königin zu sehen. Er war schon gespannt zu hören, was sie dazu sagen würde. "Gut Ananias, das könnte uns vielleicht gerade jetzt weiterhelfen. Hast du noch etwas zu berichten?" Ananias zögerte etwas. Ihm war nicht klar. ob seine weitere Mitteilung dem König auch gefallen würde: "Er soll mehrfach gesagt haben. 'Das ist mein Gebot, dass Ihr einander liebt, wie ich Euch geliebt habe. Eine größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.' Das haben mir andere in der Kneipe erzählt. Manche haben darüber gelacht. Es ist mir eben heute wieder eingefallen. Ich weiß nicht, ob dir, glücklicher König, damit gedient ist."

"Darüber muss ich auch noch nachdenken."

Ananias wurde nun entlassen. Als die Tür wieder geschlossen war, sagte Diotima: "Ich glaube wohl, dass Ananias uns geholfen hat."

"Und warum, meine Liebe?"

"Vorhin habe ich gemerkt, wie konstruiert meine Idee mit dem 'Diener aller' ist. Es macht so den Eindruck, als wenn ein kluger Denker den Stein der Weisen gefunden hat. Ich meine nicht, dass die Forderung nicht gut ist. Aber sie ist recht kantig, um nicht zu sagen ideologisch. Wenn wir aber die Bürger unserer Stadt richtig gern haben, dann wird es kaum schwer sein, ihr Diener zu sein. Dann werden wir auch das richtige Maß für den Dienst nicht verfehlen."

Abgar hatte gespannt zugehört: "Ja, mir war auch etwas unheimlich. Aber du weißt ja, dass ich gerne nach so etwas wie der Weltformel suchte. Ich glaubte, die schon gefunden, war mir nur im Zweifel, wie sie allgemein durchgesetzt werden könnte. Jetzt weiß ich, dass die Regel 'Der Erste sei der Diener aller' wirklich wunderbar für jeden großen und kleinen Mächtigen ist. Sie kann jedoch nur dann Wirklichkeit werden und Erfolg haben, wenn der jeweilige 'Erste' die anderen gern hat, wenn er will, dass es ihnen gut geht, dass sie glücklich sind."

"Was verstehst du unter dem jeweiligen Ersten?" fragte die Königin.

"Ah. ich dachte, das hättest du mir klargemacht, dass nicht nur der König ein Erster ist, sondern jeder, von dem andere Menschen abhängig sind. Sei es vorübergehend, sei es immer. Dir fiel doch gleich der Hauptmann ein."

"Das meinst du. Dann bin ich zufrieden."

"Was sagst du dazu?" wandte sich Abgar an Pyrrhon.

"In der Rechtsprechung ist das 'Dienen' nicht so leicht verständlich zu machen. Ein Angeklagter wird es kaum als einen Dienst an allen empfinden, wenn ich ihn verurteile. Doch das Wort 'liebe' gibt mir so etwas wie Hoffnung, dass das Rechtswesen auch menschlicher werden könnte. Die Gesetze sind unpersönlich und können bestimmten menschlichen Situationen nur dann gerecht werden, wenn der Richter die Not der Menschen, die vor ihm stehen. mit seinem Herzen sehen kann. Ich möchte wohl gerne, so wie der Gottesknecht das Recht bringen, ohne müde zu werden, ohne den glimmenden Docht zu löschen, ohne das geknickte Rohr zu brechen."

"Damit wirst du es nicht immer leicht haben. Aber ich mache mit. Das könnte geradezu eine Verschwörung für ein gerechtes Recht werden. Wir sollten unsere Absichten auch nicht publik machen. Es wäre mir lieber, wir handelten einfach richtig und vermieden vollmundige Ankündigungen."

"Wir haben schon damit begonnen. Du hast mich ja Kambyses gegenüber in Schutz genommen."

"Das, was der Ananias über Jesus bei den Zöllnern erzählt hat, trifft auf mich genau zu. Ich lebe ja von den Abgaben der Leute. Ich lebe von dem Geld, das sie erarbeiten und ich ihnen abnehme."

"Von dem Geld bezahlst du die Soldaten!"

"Das beruhigt mich nicht. Letztlich kämpfen die Soldaten für meine eigene Sicherheit. Die Könige dieser Zeit lassen im Notfall zu, dass ihre Bürger geplündert werden, wenn sie nur mit heiler Haut davon kommen. Der Tischgenosse Jesu. dieser Zöllner, hatte es gut. Er gibt die Hälfte seines legal zusammengescharrten Vermögens den Armen. In Betrugsfällen liefert er Schadenersatz."

"Du hast doch niemanden betrogen!"

"Betrogen habe ich niemanden. Das will ich annehmen. Aber meine Schatzkammer ist recht ansehnlich. Auch wenn du Kleinodien und Kunstwerke, die meist Geschenke sind, nicht mitzählen willst."

"Was willst du nun tun?"

"Wenn ich als Erster dieser Stadt Edessa der Diener aller ihrer Bewohner sein will, dann werde ich mit diesem Reichtum für sie etwas tun müssen. Damals, als ich versuchte. Jesus als meinen Arzt hierher zu holen, schwebte mir vor, ihn zu einem "obersten Arzt" zu machen. Jetzt werde ich meine finanziellen Möglichkeiten für eine Verbesserung der Lage unserer Bürger auf dem Gebiet ihrer Gesundheit einsetzen. Das, scheint mir, könnte Dienst an allen sein."

Pyrrhon sprang auf und rief: "Dann wird Kambyses nicht mehr sagen können, du seiest in seinem System. Dann besteuerst du nur, um die Gelder gesammelt an die Stellen in der Stadt zu leiten, wo sie im Interesse aller am besten eingesetzt werden können." Auch Diotima stimmte zu, gab aber zu bedenken, man müsse nun dafür sorgen, dass die nicht unbeträchtlichen Mittel, die aus der Schatzkammer zu erwarten seien, wirklich für alle "am besten" eingesetzt würden. "Was wissen wir schon von dem Leben unserer Untertanen?" fragte sie und schlug gleich vor: "Wir müssten uns beraten lassen von Leuten, die wirklich Bescheid wissen."

Die beiden Männer äußerten sich sehr bedenklich. Es war ihnen sichtlich unbehaglich, dass sie sich von Leuten aus dem Volke beraten lassen sollten.

"Was wissen die schon?" zweifelte der eine. "Und wenn es uns nicht passt, was sie uns raten?" fürchtete der andere.

Sie schwiegen eine Zeitlang, dann meinte Abgar: "Ich könnte eine Volksversammlung einberufen und mir von ihr Vorschläge erbitten."

"Um des Himmels willen, mach keine schlafenden Hunde wach! Du wirst nach der Volksversammlung erleben, dass deine Schatzkammer leer ist. Aber die wirklich Bedürftigen doch nichts haben. In der Volksversammlung werden sich die bedienen, die gerade da sind. Die Armen, die Kranken. Die Gebrechlichen, die Ausländer können aber nicht da sein. Sie werden leer ausgehen." "Gut gut gut! Pyrrhon, ich habe verstanden. Aber vielleicht könnten wir eine Kommission berufen, die uns Vorschläge machen soll."

"Das schon eher. Freilich müssten wir deren Zusammensetzung gut überlegen."

"Pyrrhon, ich glaube, da solltest du dir schon mal Gedanken machen. Wir brauchen ja nichts zu überstürzen. Wir haben Zeit genug, uns die Vorgehensweise zu überlegen. Bis dahin wollen wir aber auch nichts an die Öffentlichkeit bringen."

"Ja. glücklicher König. Ich werde dir Vorschläge machen. Aber gib mir, bitte, ein paar Tage Zeit."

"Abgar. ich möchte, während der Wesir über die Kommission nachdenkt. versuchen, auf einem anderen Wege ein Bild von der Lage der Armen in Edessa zu gewinnen."

"Und wie willst du das tun?"

"0h, ich werde mich mit meinen Dienerinnen über ihre häuslichen Verhältnisse unterhalten. Das ist keine Besonderheit und wird daher kein Aufsehen erregen. Ich kann sicher meine Fragen so stellen, dass ich ein einigermaßen brauchbares Bild erhalte."

"Pyrrhon. was hältst du davon?"

"Ich habe keine Einwendungen."

"Gut, mach' du das. Diotima! In drei oder vier Tagen rechne ich mit einem Vorschlag für die Kommission. Nur eines möchte ich klar stellen: Ich habe mich entschlossen, die Hälfte meines Schatzes für die Armen in meiner Stadt zur Verfügung zu stellen. Davon darf mich nichts abbringen. Dies ist ein geschichtlicher Augenblick, den wir nicht verpassen dürfen."

Dann setzte er hinzu: "Dabei sollten wir es heute lassen."

DIE KOMMISSION

Es dauerte sehr viel länger als Abgar sich vorgestellt hatte. Aber das kümmerte ihn nur wenig, denn er hatte seinen Kopf voll Probleme. Zusammen mit dem Verwalter der Schatzkammer versuchte er festzustellen, wieviel Geld ihm eigentlich für die Verwirklichung seiner Pläne zur Verfügung stand. Dabei kam er schon bald auf die Frage, wieviel er für andere Aufgaben, wie die Besoldung seiner Beamten, zurückhalten musste. Abends und in der Nacht überfiel ihn die Furcht, er könne nicht nur sich selbst und seinen Haushalt, sondern noch viele andere und letztlich sogar die Stadt selbst ins Unglück stürzen, wenn er seine Reserven unbedenklich an die Armen verschenkte. Andererseits nahm er es sehr genau mit seiner Absicht, die für ihn das Gewicht eines Gelübdes bekommen hatte, als wenn er es, so wie dieser sogenannte Zöllner, Jesus versprochen hätte.

Schließlich kam er zu einem Schluss, den er dem Wesir vorlegte: "Pyrrhon, ich habe hin und her überlegt, wie ich meine Absicht praktisch durchführen könnte. Nun habe ich gedacht, ich könnte die Hälfte meines gemünzten Silbers und Goldes zur Verfügung stellen, die andere Hälfte bliebe für meine Staatsaufgaben und meinen Haushalt. Ich hoffe, dass ich nicht in Not gerate. Wenn aber dennoch Probleme auftauchen, dann könnte ich immer noch zurückgreifen auf die Kunstschätze in meiner Kammer. Die Kaufleute werden mir sicher einen Kredit geben, wenn ich davon einiges verpfände. Was meinst du?"

"Das könnte gehen. Aber vielleicht machen dir die Männer der geplanten Kommission auch dazu noch einen Vorschlag."

"Ja richtig, du wolltest mir doch schon vor ein paar Tagen die Zusammensetzung dieses Gremiums vorlegen. Wie steht das denn nun?"

"Ich hatte deswegen auch meine Kopfschmerzen. Meines Wissens hat es so etwas noch nie gegeben."

"Wieso andere Fürsten lassen sich doch in bestimmten Dingen auch beraten."

"Das wohl, aber ich glaube, du wirst dieser Kommission etwas von deinen Befugnissen abtreten müssen."

"Warum denn das?"

"Du hattest doch selbst zuerst den Gedanken, eine Volksversammlung einzuberufen. Ich habe dich gewarnt, weil ich einsah, dass du einen Teil deiner Macht in Hände geben könntest, die noch nicht in der Lage sind, die Verantwortung zu tragen. Jetzt wird es eine Kommission sein, die deine Befugnisse erhalten wird. Die wirst du eher zur Verantwortung ziehen können, und du kannst mit ihr verhandeln."

"Ich wollte mich von ihr beraten lassen und dann frei entscheiden."

"Das kannst du auch. Aber die Kommission wird die Stimme der Edessaer sein, deren Diener du sein willst."

"Pyrrhon, dieser Jesus ist im Stande und stellt unsere Welt auf den Kopf. Ich bin neugierig, wie das ausläuft. Und ich bin überzeugt, dass alles besser sein wird als jetzt. Wie nun setzt sich die Kommission zusammen?"

"Ich habe mir gedacht, es sollten nur wenige sein, weil du dann leichter mit ihnen umgehen kannst. Auch die notwendige Diskretion ist leichter zu wahren."

"Ja, gut!"

"Als ersten nenne ich den Kambyses als Vertreter der Wirtschaft. Er wird bestimmt erstmal versuchen, dich umzustimmen. Aber wenn er mittut, hast du einen Mann der Praxis, der auch mit Geld umgehen kann. Dann möchte ich den Tobias vorschlagen. Er weiß unter den Leuten Bescheid, und wo sie der Schuh drückt. Ferner habe ich den Hippokrates ausgeguckt, den Oberpriester im Tempel des Äskulap. Er kennt sich aus in den Krankheiten der Leute. Freilich eher bei den reicheren. Doch soll er hin und wieder schon einmal auf ein Honorar verzichten, wenn es einen gar zu hart getroffen hat. Schließlich wollte ich noch einen Arbeiter oder Tagelöhner dazu holen. Ich habe an Gracchus gedacht, der auch schon bei Kambyses gearbeitet hat. Hoffentlich ist es nicht nachteilig für ihn, wenn er sich hier vielleicht kritisch äußert."

"Ach, da denke ich ihn schützen zu können. Auch mit den anderen bin ich einverstanden."

"Ich meine, auch die Königin hätte noch Sachverstand über ihre Dienerinnen beisteuern wollen."

"Richtig, danach werde ich sie noch fragen. Könnten wir die Mitglieder in drei Tagen zusammenrufen?"

"Ich glaube schon. Allerdings wissen sie noch nichts voll ihrem Glück."

"Na, sieh mal zu! Aber sage Ihnen nichts von unserem Thema. Ebenso nichts über die, die auch noch eingeladen sind. Ich will ihnen meinen Plan selbst erläutern."

"Ich habe verstanden. Du kannst dazu die Überraschung und das Rätselraten gut gebrauchen."

Nach dieser Unterredung mit dem Wesir ließ sich Abgar sofort zur Königin tragen. Es war nicht seine Art sie wegen irgendetwas zu mahnen. Darum erzählte er ihr von dem Vorschlag des Wesirs. Sie hörte gespannt zu und meinte dann:

"Pyrrhon scheint dich wirklich verstanden zu haben. Aber wir werden keinen leichten Stand haben."

"Wieso 'wir'? Willst du mitberaten?"

"Natürlich. Als Vertreterin derer, von denen Pyrrhons Auswahl nichts weiß. Ich meine die Frauen, die alten Leute, die Kinder, die Krüppel und die Aussätzigen."

Abgar erschrak zuerst über die Konsequenzen, die sein Versuch, Diener aller zu sein, hatte. Aber trotz aller Bedenken wegen der Kritik, die ihm das in der "Gesellschaft" Edessas einbringen würde, stimmte er zu, dass Diotima zur Kommission gehörte.

Diotima kannte die Bedenken des Königs. Aber sie war fest davon überzeugt. dass der Weg, den er sich anschickte zu gehen, in ein neues Leben führen würde. Für ihren Mann, für ihre Familie und für die Stadt Edessa. So dankte sie Abgar auf wortlose Weise, die er aber gut verstand.

Schon am folgenden Tage konnte der Wesir melden, dass die erste Sitzung der Kommission planmäßig stattfinden könne. Diotima hatte dafür eine Sitzordnung vorgeschlagen. Damit sollte das partnerschaftliche Verhältnis zwischen König und Kommission deutlich gemacht werden. Fünf Sitze wurden in einem Halbkreis um den Sitz des Königs auf gleicher Ebene vorbereitet.

"Warum fünf Sitze?" fragte Pyrrhon, und gab sich gleich selbst die Antwort mit der Vermutung: "Die Königin wird mit in der Kommission sein?"

"Richtig. Oder hast du etwas dagegen?"

"Nein. Ich habe übrigens den Tobias und den Gracchus zu mir bestellt, damit sie nicht mit den beiden anderen zusammen hier eintreffen. Ich selbst werde mit den Schreibern etwas außerhalb des Kreises bleiben. Das ist meine Art, Diener aller zu sein."

Hippokrates und Kambyses kamen zur festgesetzten Zeit. Als sie den Audienzsaal betraten erblickten sie zu ihrem Erstaunen den König schon auf seinem Platz in einer Sitzordnung, die ihnen völlig ungewohnt war. Abgar begrüßte sie und bot ihnen sogleich durch eine Handbewegung ihre Plätze an, so dass sie gar keine Gelegenheit hatten, den sonst üblichen Kniefall zu tun. Hinterher gestanden sich beide, ihr König habe einen gelösten und fast gesunden Eindruck gemacht.

Jetzt aber gab es sogleich noch weiteren Grund zur Verwunderung. Denn kaum war die Begrüßung durch den König beendet, da öffnete sich die Tür für den Wesir, der Tobias und Gracchus hereinführte. Abgar wollte von sich aus dem Gefühl für Kollegialität fördern und stellte die beiden den schon Anwesenden vor:

"Das ist Tobias, der Karawanenwirt, der dürfte allgemein bekannt sein in der Stadt. Das ist Gracchus, ein Tagelöhner. Ich könnte mir vorstellen, dass er schon bei dir Kambyses gearbeitet hat." Die beiden angesprochenen nickten Zustimmung.

"Meine Herren, ich möchte schon jetzt sagen, dass jeder in dieser Kommission, die ich mir zu meiner Beratung zusammengestellt habe, das Recht hat, sich freimütig zu den Themen, die wir erörtern wollen, zu äußern. Ich ordne dazu aber auch strikte Diskretion an. Nichts von dem, was wir hier beraten, darf ohne meine Zustimmung, weitererzählt werden."

Keiner der Vier wagte es den König zu bitten, nun endlich die Spannung zu lösen und sie wissen zu lassen, was er von ihnen wollte. Auch der noch leere fünfte Sitz gab ihnen Rätsel auf, zumal der mitten zwischen ihnen frei gehalten worden war.

Doch nun ging die Tür auf und ein Diener geleitete die Königin auf eben diesen freien Platz. Die vier anderen erhoben sich und machten Diotima ihre Reverenz. Als die Plätze wieder eingenommen waren, wurden Getränke hereingetragen.

Nachdem die Diener den Saal wieder verlassen hatten, und der Wesir mit den Schreibern bereit war, nahm der König das Wort zu seiner Erklärung:

"Jeder Bürger dieser Stadt weiß, dass der König ein kranker Mann ist und bisher nicht von seiner Krankheit geheilt werden konnte. Nun habe ich in den letzten Wochen wieder Hoffnung bekommen und bin jetzt überzeugt, dass ich in nächster Zukunft wieder laufen kann. Ich will aber nicht abwarten, bis das eingetroffen ist, sondern ich will meine Krankheit zu einem glücklichen Ereignis für die ganze Stadt machen. Es ist mir nämlich klar geworden, dass ein König nur dann ein guter König sein kann, wenn er Diener aller in seiner Stadt ist. Aller, das soll heißen: derer, die unsere Stadt durch ihren klugen Sachverstand und ihren Wagemut zu ihrem Wohlstand verhelfen, aber auch derer, die als Handwerker durch Geschicklichkeit unverzichtbar dazu beitragen. Das wird jeder einsehen. Der König muss dazu auch noch besonders deren Diener sein, die krank sind und schwach. Mir scheint dieser Teil unserer Mitbürger hat bisher in meinen Gedanken kaum oder gar keine Rolle gespielt. Leider, denn wir alle sollten denen dankbar sein, die früher durch ihre Arbeit unserer Reichtum vermehrt haben, oder die Kinder geboren und aufgezogen haben, die heute dafür arbeiten. Viele von ihnen sind krank und allein. Sie können sich nicht selbst helfen. Darum habe ich beschlossen, die Hälfte meines Geldvermögens, das in meiner Schatzkammer ruht, gerade diesen Armen zur Verfügung zu stellen. Euch bitte ich, mir mit Eurer Erfahrung zu helfen, damit ich dieses Geld klug und zweckdienlich einsetze. Dabei erwarte ich von dir, Kambyses, Rat bezüglich der wirtschaftlichen Auswirkungen. Dich, Hippokrates, bitte ich um Rat bezüglich der Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit und der Versorgung der Kranken. Von euch, Tobias und Gracchus, erwarte ich Hinweise auf die Armut in unseren Mauern und auf deren Ursachen. Die Königin ist schon dabei besondere Notlagen bestimmter Bevölkerungsteile festzustellen und Abhilfen zu überlegen. Ich denke wir machen es so, dass jeder erst einmal ein bisschen überlegt, was er zu meinen Erwartungen an ihn sagen könnte. Ich lasse euch dazu allein. Nach einer Pause soll sich dann jeder äußern können. Die Schreiber werden alles aufschreiben, damit nichts verloren geht.'

Abgar hatte sich in seinem Sitz nach und nach immer weiter aufgerichtet. Jetzt ließ er sich wieder in die Polster fallen und holte tief Atem. Der Wesir sorgte dafür, dass er in sein Arbeitszimmer getragen wurde.

Zurück blieben Staunen, leises Kopfschütteln, stille Berechnung. Niemand wollte sich als erster äußern. Diotima merkte sogleich, dass sie selbst Ursache dieser Schweigsamkeit war. Sie war aber entschlossen, die Beratung nicht nur zu beginnen, sondern auch zu Ergebnissen zu führen. Sie lächelte also Hippokrates an, der sich dem König gegenüber immer etwas bedrückt fühlte, weil er ihn nicht heilen konnte. "Du als Arzt und Priester des Gottes der Heilkunde hast doch sicher schon lange eine Idee für die Verbesserung der Gesundheit."

Hippokrates sah die Erfüllung eines alten Wunsches zum Greifen nahe. Bisher hatten die Mittel des Tempels nicht ausgereicht, ein Sanatorium für seine Patienten zu bauen. Darum ging er sogleich auf die Ermunterung durch die Königin ein und warb eifrig für seinen Plan. Er vergaß natürlich nicht, dem vermuteten Wunsch des Königs zu entsprechen und versprach, auch für nicht so begüterte Patienten Heilmittel bereit zu halten.

Das brachte Tobias auf den Plan. Unterstützt von Gracchus forderte er als Erstes die Beseitigung des stinkenden und krank machenden Unrates in den Gassen der Unterstadt. Auch seien einige Häuser baufällig. Das Geld der Bewohner reiche oft nicht zum Leben, schon gar nicht zur Erneuerung von Wohnungen. "Die Leute brauchen sichere Einkünfte, sie brauchen ihr tägliches Brot!" fügte Gracchus hinzu. Kambyses versuchte aus der Sicht des Königs zu denken und wies darauf hin, dass das Einfließen so großer Geldmengen in so viele Hände zweifellos zum Ansteigen der Preise führen müsste. Preisanstieg sei oft ein Anlass zu Revolten. Wer könnte die wollen?

Es ging eine Weile hin und her. Niemand wollte von seinem Vorschlag abgehen, niemand eine Kritik annehmen.

Diotima erkannte, dass die Beratung im Ansatz schon in eine Sackgasse zu geraten drohte, weil die Vorschläge und Meinungen zu einem guten Teil nicht aus der Fürsorge für die Mitbürger, sondern aus Eitelkeit, aus Gewinnstreben oder aus Misstrauen geboren waren.

"Der König", begann sie, "hat eben versucht, euch seinen Gedanken zu skizzieren. Seine Grundidee ist: der Erste sei der Diener aller. Jeder von uns ist irgendwie ein Erster: der Chef in seinem Betrieb, der Hauptmann für seine Soldaten, der Vater oder die Mutter für die Familie. Der König für seine Stadt. Eigentlich sollte uns das die Vernunft sagen: Ein Betrieb läuft besser, wenn der Chef für seine Leute da ist und nicht ausschließlich in seine Tasche arbeitet. Ein Hauptmann kann sich auf seine Soldaten in der Gefahr verlassen, wenn er schon vorher für sie eingetreten ist und dafür gesorgt hat, dass sie seine Absichten verstehen und billigen. Dem König genügt die Vernunft allein nicht. Er hat von Dankbarkeit gesprochen. Das ist wichtig. Aber mir scheint, wir sollten unsere Mitbürger gern haben, immer für sie da sein, wenn sie in Not sind. Ich bitte deshalb alle hier, von den Armen her zu denken. Das möchte ich recht drastisch klarmachen: Vor dem Untertor liegen gleich rechts ein paar Hütten. Ihr wisst es. Dort leben, nein vegetieren die Leprakranken. Vor ihrer Erkrankung waren sie meist geachtete Bürger unserer Stadt. Jetzt sind sie "Aussätzige", die Ärmsten der Armen. Sie sind so gut wie tot. Bei ihnen müssen wir beginnen. Wir können sie nicht heilen, ich weiß Hippokrates, und wir müssen uns vor Ansteckung hüten, ich weiß. Aber das darf uns nicht hindern, sie wie Menschen zu behandeln."

Nach dieser Rede Diotimas änderte sich die Stimmung erheblich. Zum Teil, weil man sich dem Willen des Königs anpassen wollte, teils, weil man den Gedanken zustimmte.

Als Abgar wieder erschien, hatte sich die Lage schon sehr geklärt und es gab eine Liste von Projekten und auch schon eine Reihenfolge, in der sie verwirklicht werden sollten.

Der König ließ sich vom Wesir das Arbeitsergebnis geben und las halblaut: 'Auf Befehl des Königs ist heute eine Kommission zusammengetreten, um Maßnahmen zu beraten, durch die den Armen in unserer Stadt Edessa nachhaltig geholfen werden soll. In der Reihenfolge der Dringlichkeit werden folgende Projekte vorgeschlagen:

  1. Anschließend an das Grundstück, auf dem die acht Leprakranken der Stadt jetzt leben, soll ein weiteres Grundstück erworben werden. Darauf sollen Häuser gebaut und ein Brunnengegraben werden. Es soll Vorsorge für eine Beseitigung des Unrats getroffen werden. Nach dem Umzug sind die bisherigen Unterkünfte zu verbrennen. Für die Dauer ist Sorge zu tragen, dass die Kranken sich selbst helfen können, indem ihnen Material für handwerkliche Betätigung und ein Stück Gartenland zur Verfügung gestellt werden.
  2. Verbesserung der Unratbeseitigung in der Unterstadt.
  3. Bau eines Hauses, in dem Mitbürger wohnen und gepflegt werden sollen, die sich selbst nicht mehr helfen können und keine Angehörige haben.
  4. Es soll eine Schule für die Kinder der Armen gebaut werden.
  5. Weitere Ideen sind noch erörtert worden, ohne dass es zu konkreten Vorschlägen gekommen ist. Das bezieht sich vor allem auf Gedanken, ob und wie ein sicherer Erwerb des Lebensunterhaltes der Armen erreicht werden kann, ohne die Wirtschaft der Stadt zu schädigen."

Der König war überrascht und sehr erfreut über das Ergebnis dieser ersten Sitzung. Er drückte das auch der Kommission gegenüber aus und setzte hinzu: "Ich stimme allen Vorschlägen grundsätzlich zu, werde das Ganze nun noch auf technische und finanzielle Durchführbarkeit prüfen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sehe ich bei den ersten beiden Maßnahmen noch nicht als schwerwiegend an. Bei den weiteren werde ich noch prüfen müssen. Das erfordert meine Sorgfalt als Diener aller." Damit war die Sitzung beendet und Abgar lud alle Teilnehmer zu einem kleinen Bankett ein, das von den Dienern unverzüglich ausgerichtet wurde.

DER TOD

Abgar machte sich sogleich an die Arbeit. Er holte seine Baumeister zusammen und beriet mit ihnen, wie er am zweckmäßigsten vorgehen könnte. Eine Besprechung folgte der anderen. Keinen Zweifel ließ er aufkommen au seiner Entschlossenheit. Es ging ihm immer nur um den besten Weg.

Das Lepraprojekt erwies sich als einfach. Allerdings musste es so organisiert werden, dass die Kranken wenig behelligt wurden. Aber auch jede Berührung der Arbeiter mit ihnen wurde vermieden. Abgar stellte aus seinem Familienbesitz eine ausreichende Landfläche zur Verfügung, so dass die Häuser auch einen Garten erhalten konnten. Abgar wollte, dass der den Kranken gemeinsam gehören sollte, damit die, die noch dazu in der Lage waren, dort für alle Gemüse und Obst ziehen konnten. Wenn er selbst auch nicht die gleiche Krankheit hatte, so fühlte sich Abgar doch durch sein Leiden mit denen verbunden, die dort vor der Mauer ihr Leben fristeten. "Sie sollen wissen, dass wir uns ihnen verpflichtet fühlen. Sind sie doch unsere Mitbürger." Das war sein Leitgedanke.

Ebenso rastlos arbeitete er an dem Projekt zur Sanierung der Unterstadt. Es erwies sich als schwieriger und es war ohne Mitwirkung der dortigen Anwohner nicht durchzuführen. Planen konnte man zwar in den Amtsstuben. Aber die Vermessungen waren nur an Ort und Stelle möglich. Darum wartete Abgar damit noch ab. Irgendetwas hielt ihn zurück, mit seinem Vorhaben an die Öffentlichkeit zu gehen.

Schließlich siegte aber eine andere Regung. Unbedingt sollte schon etwas fertig sein, wenn der Abgesandte Jesu in Edessa einträfe. 'Ich fühle mich von mir selbst ertappt, und ich hoffe ein langjähriges Versäumnis nun vor dem Ereignis, das ich so sehr herbeisehne, noch wieder gutmachen zu können.'

Der Wesir wurde beauftragt, eine Versammlung der Bewohner in der Unterstadt zusammen zu rufen und ihr klar zu machen, was der König dort auf den Rat der Kommission tun wollte. Deren Mitglieder wurden vorher informiert.

Die Arbeit, die Abgar als Diener aller auf sich nahm, bereitete dem kranken Mann beträchtliche Mühe. Aber täglich mehr ging die Botschaft Jesu 'Glücklich bist du' in Erfüllung. Er fühlte sich wie neugeboren. Diotima sah es mit Erstaunen und unterstützte ihn, indem sie an seinen Überlegungen teilnahm, ihn dabei beriet und bei seinem Vorhaben bestärkte. Ihr war als wenn ihr gemeinsames Leben eine ganz neue Lebendigkeit erhalten hätte. Nach Wochen des Überlegens, des Planens, des Bauens und Werdens, in denen ein neues Sehen und Denken, ein neues Leben auch bei denen erkennbar wurde, die sich mit Abgar im Dienst an ihren Mitbürgern einsetzten, kam die Nachricht vom Tode Jesu.

Tobias rannte zuerst damit zum Wesir Pyrrhon, weil er sich nicht traute, diese böse Meldung dem König selbst zu überbringen. Er zerrte einen noch ziemlich jungen Mann, der Marcus hieß, hinter sich her. Dieser wollte in Jerusalem alles selbst erlebt haben.

"So, selbst erlebt willst du das haben?" polterte Pyrrhon, der sich natürlich zuerst Sorge um seinen Herrn machte. "Erzähl mir das alles haarklein. Und wehe dir, wenn ich dich bei einer Lüge ertappe. Dann geht es dir schlecht!"

"Herr, ich weiß nicht, warum ihr so aufgeregt seid. Aber ich werde nicht lügen. Warum sollte ich das?"

Also Jesus war mit seinen Jüngern im Hause meines Vaters gewesen und hatte mit ihnen im Saal im Obergeschoß zu Abend gegessen. Einer, der Judas, war zuerst allein gegangen. Später brachen dann auch die anderen auf und gingen in einen Ölgarten vor der Stadt. Ich bin hinter ihnen her geschlichen. Erst dachte ich, sie wollten dort übernachten. Aber dann kamen auf einmal Leute mit Fackeln. Ich sah, dass es welche von der Tempelwache waren. Na, jedenfalls haben sie Jesus festgenommen und weggebracht. Sie wollten mich auch greifen, aber ich warf mein Gewand ab und flüchtete splitternackt. Meine Mutter gab mir neue Kleider. Sie wollte, dass ich sofort aus der Stadt abhauen sollte. Das tat ich nicht gleich, weil ich immer noch hoffte, Jesus würde in letzter Stunde noch das Gottesreich errichten und alle seine Feinde niederschlagen. Ich trieb mich in der Nähe des Prätoriums herum und sah, wie er sich stattdessen wie ein Verbrecher von den Römern kreuzigen ließ. Er ist tot. Ich hatte so große Hoffnung auf ihn gesetzt."

Pyrrhon überlegte, ob er irgendeinen Widerspruch in dieser Darstellung erkennen könnte. Schließlich fragte er: "Waren nicht noch andere Jünger dabei, was haben die denn gemacht?"

"Die sind wohl alle getürmt. Jedenfalls habe ich keinen mehr gesehen."

"Und du bist bis hierher gelaufen? Hattest du solche Angst? Vor wem'?"

"In Jerusalem wurde es mir zu heiß. Und mit Herodes wollte ich auch nichts zu tun haben. Hier in Edessa hoffte ich einen entfernten Verwandten zu treffen. Ich musste mich ja nun allein durchschlagen. Ich hoffe Tobias hilft mir weiter. Bis mein Vater mich zurückruft."

"Gut. Tobias du behältst ihn in deiner Herberge. Er darf die Stadt nicht verlassen. Die Kosten wird der König übernehmen. Jetzt könnt ihr gehen. Haltet euch aber zu Fragen, die der König noch an Marcus hat, bereit."

Auf dem Rückweg fragte Marcus: "Sag, mir Tobias, was kümmert Euch eigentlich dieser Jesus, der nun gekreuzigt wurde?"

"So ganz genau weiß ich das auch nicht. Vor ein paar Wochen war ein Kaufmann aus Galiläa hier und berichtete von Jesus, als einen, der ohne Arzneimittel und Kräuter Krankheiten heilen kann. Der König ist sehr krank. Kein Arzt kann ihm helfen."

"Aha, dann wollte euer König von Jesus geheilt werden. Und nun ist der tot."

"Ja. die Enttäuschung ist ja auch verständlich."

"Nur, Tobias, diese Fürsten denken in erster Linie doch an sich selbst und ihre kleinen Wehwehchen. Aber begreift er auch, dass wir einen Mann verloren haben, der unser Volk hätte befreien können. Wir sind auch enttäuscht und klagen zu Jahwe wegen unserer Knechtschaft unter den Römern und ihren Handlangern."

"Vielleicht wirst du unseren König ja kennenlernen. Er war eigentlich immer ein guter Fürst. Seit der ersten Nachricht über Jesus bis heute hat er sich zudem noch sehr gewandelt. Er hat gerade neue Wohnungen für Aussätzige gebaut. Eine Entwässerung unserer Unterstadt ist in der Planung. Alles von seinem Geld. Ich bin in der Planungskommission. Wir sind uns dort alle einig, dass der König arbeitet, als sei morgen sein letzter Tag."

"Seltsam ist das."

Lassen wir die beiden sich die Köpfe zerbrechen über das Verhalten oder die Wesensänderung Abgars und kehren wir zu Pyrrhon zurück.

Der saß noch immer da, als habe ihn ein schwerer Hieb getroffen. Immer wieder murmelte er in seinen Bart die Verse aus dem 'Gottesknechtlied': "das geknickte Rohr bricht er nicht, den glimmenden Docht löscht er nicht aus."

Und nach einer Weile: "Nun ist er selbst zerbrochen und ausgelöscht."

Seufzend erhob er sich, rief nach seiner Begleitung und begab sich zum König. Er traf ihn, wie schon gewohnt, umgeben von Mitarbeitern, vertieft in Überlegungen zu seinen Plänen. Pyrrhon warf sich nieder, berührte mit der Stirn den Boden und verharrte in dieser Stellung, bis Abgar aufmerksam wurde und sich über das auffällige Gebaren wunderte. Die Etikette am Hofe war durch die kollegiale Zusammenarbeit der letzten Wochen zwar nicht aufgehoben, aber doch sehr vereinfacht.

"Steh' auf. Was hast du?" redete ihn sein König an.

Beim Aufstehen suchte Pyrrhon die Unterstützung des Dieners. Abgar sah sein Gesicht und erschrak: "Was ist geschehen?"

"Das Rohr ist gebrochen, der Docht ist gelöscht."

"Jesus ist tot?"

Pyrrhon nickte nur und Abgar sah, dass er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Zusammen mit dem Diener sorgte er für ein Polster und hieß seinen Wesir sich darauf zu setzen. Dann griff er nach seiner Hand.

"Erzähle, was du weißt!"

Die Mitarbeiter im Raum wunderten sich, dass der Tod eines Mannes, dessen Namen sie noch nie gehört hatten, eine so große Erschütterung hervorrief. Gespannt verfolgten sie die Erklärungen des Wesirs, der nun, stockend und nach Worten suchend, das berichtete, was Marcus ihm erzählt hatte.

Gekreuzigt haben sie ihn also! Diese Bestien! Einen Mann, der nicht Habgier predigte, sondern Dienst an allen. Der Rache ablehnte und Verzeihung forderte."

Er schwieg ein paar Atemzüge und wurde sich der gebannt zuhörenden Mitarbeiter bewusst.

"Pyrrhon, ich habe gerade gestern alle vier Lieder von diesem Jesaja gelesen. Ich habe geahnt, dass er getötet werden würde. Aber so! Das habe ich nicht gedacht."

Wieder schwieg er, als ob er einen Gedanken genauer prüfen wollte.

"Jesus hat sich, wie er durch das Lied kundtat, vollkommen in der Hut seines Gottes gefühlt. Der hat den Diener aller an den untersten Punkt in unserer menschlichen Rangordnung geführt. Jesus trägt gewissermaßen uns alle, als Diener aller, als Fundament der Welt."

Nochmals unterbrach er sich, um dann fort zu fahren:

"Nein, Pyrrhon, ich habe nicht vergessen, dass du seinen Tod gemeldet hast. Aber hier lebt er doch. Wir werden weiter an unseren Plänen arbeiten. Wir werden sorgen, dass in Edessa niemand in Not gerät. Jeder soll lernen, dass einer ihn auffängt, wenn er abrutscht. Jesus wird hier lebendig bleiben. Auch du wirst ihn lebendig halten mit deiner Rechtsprechung. Das darfst du nie vergessen."

Danach wandte er sich an seine Mitarbeiter und erklärte ihnen in einigen Sätzen, wer dieser Jesus war, und was er ihm in Edessa geworden war. So motivierte er sie einmal mehr für ihre Arbeit.

"Edessa soll nicht durch Prunkbauten glänzen, sondern durch den Geist gegenseitiger Achtung und Verantwortung." schloss er seine kurze Darstellung.

Dann gab er noch einige Anweisungen an seine Leute und ließ sich zu Diotima tragen. Pyrrhon forderte er auf mit ihm zu kommen.

Die Königin war außer sich durch die Nachricht, die Abgar ihr brachte. Er musste ihr lange über den Kopf streichen, ehe er ihr erzählen konnte, was er von Pyrrhon erfahren hatte, und welche Gedanken ihm selbst dabei gekommen waren.

Als sie sich wieder in ihrer Welt zurecht fand, da fiel ihr auf, dass Abgar bei seinen vielen Worten nicht ein einziges Mal auch nur eines über seine Krankheit verloren hatte. Dabei wäre doch ein Zweifel an seiner Hoffnung wirklich naheliegend gewesen.

Sie sagte ihm das, er aber antwortete: "Diotima, du selbst hast mich immer darauf hingewiesen, dass der Knecht Gottes nicht nur der Dichter Jesaja, sondern ebenso das ganze Volk, nicht nur Jesus, sondern auch die Gemeinschaft seiner Jünger sein könne. Er hat ein Versprechen gegeben, er wird es halten. Aber du siehst ja auch, dass der Weg, den wir seinetwegen eingeschlagen haben, mir keine Zeit mehr lässt, mich mit meiner Krankheit zu beschäftigen. Ich bin dabei, ein anderer Mensch zu werden."

"Abgar, ich muss es dir gestehen: Ich war vor einigen Tagen in der Kleidung meiner Mägde vor dein Untertor und habe die neuen Hütten für die Aussätzigen gesehen. Bisher hatte ich nur von oben, von der Mauer auf das Asyl hinunter geschaut. Diesmal war ich unmittelbar bei den Kranken. Nur der Zaun war dazwischen. Ich konnte ihnen in die Augen sehen und die waren glücklich."

Abgar lächelte: "Als vor ein paar Tagen die Häuser an die Kranken übergeben wurden, stand ich ebenso wie du auf gleicher Höhe mit ihnen. Da habe ich ihnen gesagt, dass ich sie nie wieder so vergessen würde. Und ich würde sie in Zukunft regelmäßig nach ihren Wünschen fragen."

"Abgar du bist ein toller König." begeisterte sich Diotima, umarmte ihren Ehemann und küsste ihn.

Auf seinem Heimweg kam Pyrrhon der Gedanke: "Wir haben die Meldung vom Tode Jesu alle drei als Katastrophe empfunden. Nun aber stellen wir fest, dass er hier in Edessa noch lebt. Sollte das Lied dieses Jesaja von Dingen erzählen, die wir jetzt an uns selbst erfahren? Als Wahrheit erfahren?" Laut sprach er es aus: "Das geknickte Rohr wird nicht gebrochen, der glimmende Docht wird nicht gelöscht!"

DIE REDE

Abgar ging es wie einem Krieger, der eine schwere Verletzung erlitten hat, der dennoch zunächst weiterkämpft. Erst als er am Abend in seinem Bette lag, spürte er den Schlag, den er durch die Nachricht vorn Tode Jesu empfangen hatte. Unruhig wälzte er sich, soweit ihm das seine schmerzenden Glieder erlaubten, auf seinem Lager. Zwischen Glauben und Zweifel hin- und hergezerrt fand er keinen Schlaf. Immer wieder fragte er sich: "Ist dieses Jesajalied nur eine Utopie, auf die auch Jesus hereingefallen ist? Habe ich ihn selbst zur Utopie für mich gemacht? Sind alle Mühen umsonst?"

Er ärgerte sich darüber, weil er merkte, dass er Diotima die ruhigen Atemzüge nicht gönnte. Sie hatte ihre tiefe Niedergeschlagenheit gestern durch seine eigenen Argumente überwunden. Jetzt suchte er ihre Hand. Sie wachte auf.

"Ist dir nicht gut?" fragte sie besorgt.

"Ach, ich kann nicht schlafen, weil ich zerrissen bin zwischen Glauben und Zweifel. Sind wir wirklich auf dem rechten Weg? Oder verschenke ich meine Güter nur aus einer Gefühlsduselei?"

Diotima erschrak heftig. Sie richtete sich von ihrem Lager auf und flüsterte, als wenn niemand ihre Worte hören dürfte:

"Abgar, du hast mir gestern, als ich selbst so niedergeschlagen war, so gut geholfen. Du hast gesagt, Jesus habe uns durch das alte Lied klargemacht, welches Schicksal er auf sich zukommen sah, aber er hat dir auch versprochen, dass seine Jünger dir helfen würden. Wir müssen warten. Neues Leben hat er uns zugesagt. Und du hast für dein Königsein doch etwas erfahren, was du ohne ihn nicht einmal geahnt hättest: Ein König soll Diener aller in seinem Staat sein. Es wäre schöner in der Welt, wenn alle Potentaten so dächten. Du bist dabei Edessa schöner für alle zu machen. Ist durch den Tod Jesu etwas anders geworden? Stimmt die Regel nicht mehr, weil Jesus sie an seiner Person hat wahr werden lassen?"

Sie nahm seine Hand und küsste sie. Er entzog sie ihr sanft und sagte: "Lass nur, es ist ja schon gut. Nein durch seinen Tod wurde die von ihm verkündete Wahrheit nicht aufgehoben. Vielleicht wurde sie sogar bestätigt. Wir werden unseren Weg weiter gehen. Du bist wirklich eine tolle Königin! Wenn wir zusammenhalten, wird alles gut."

Die beiden tauschten, weiterhin flüsternd, noch eine Zeitlang Eindrücke und Meinungen aus. Dann aber überwältigte sie der Schlaf bis zum hellen Morgen.

Als er aufwachte, ließ Abgar sofort den Wesir holen und beauftragte ihn, eine Versammlung der Kommission und der Mitarbeiter einschließlich Micha, Ananias und Marcus einzuberufen. Mit Recht vermutete er, dass seine Erklärung gestern vor den zufällig anwesenden Mitarbeitern, schnell zum Gerücht in der Stadt geworden war. Jetzt wollte er die Gelegenheit ergreifen, um die Ziele, die er mit seinen Maßnahmen verfolgte, darzustellen und zu verteidigen, wenn das notwendig sein sollte. Er wollte aber auch die Herkunft seiner Beweggründe nennen und sie, ohne sie von der Person Jesu zu trennen, als vernünftige Grundsätze für ein Zusammenleben der Bürger in den Mauern seiner Stadt Edessa proklamieren.

Pyrrhon hatte seinen Herrn schon nach wenigen Worten verstanden und ging entsprechend großzügig mit den Einladungen um. Schon am folgenden Tage drängte sich eine ansehnliche Menge im großen Audienzsaal, als der König hereingetragen wurde. Der hatte sich jegliche Reverenz verbeten. Dennoch standen alle auf, als Abgar erschien.

Als sie wieder saßen und gespannt darauf warteten, zu hören, warum ihr König sie zusammengerufen hatte, erhob Abgar seine Stimme und begann:

"Sicherlich habt ihr euch schon gewundert, dass euer König jetzt auf einmal seine Schatzkammer öffnet und das dort lagernde Geld ausgibt, um für die Aussätzigen bessere Unterkünfte zu errichten und in der Unterstadt für eine Ableitung des Unrates zu sorgen. Ihr werdet euch noch mehr wundern, wenn ich euch jetzt ankündige, dass auch eine Schule gebaut werden soll, und ein Haus, in dem alte Leute und Kranke gepflegt werden können. Ich möchte auch noch etwas tun für die Mitbürger, die es als Tagelöhner und Arbeiter schwer haben, ihre Familien zu ernähren. Ich möchte ihnen Gärten vor der Stadt verschaffen. damit sie sich einen Teil ihrer Nahrung selbst ziehen können.
Nun werdet Ihr bestimmt fragen: warum macht er das alles? Höret gut zu: ihr alle hier seid gesund. Aber niemand von euch kann ausschließen, dass unser geschätzter Priester und Arzt Hippokrates ihn morgen schon aus dem Kreis seiner Familie und seiner Freunde reißt, weil er von der Lepra befallen ist. Dann wird er in den Hütten vor der Stadt wohnen müssen, weil jeder innerhalb der Mauern eine Ansteckung fürchtet. So waren auch die jetzt dort lebenden einst Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt. Ist es Recht, dass sie neben ihrer furchtbaren Krankheit auch noch Not leiden?
Oder seht die Bürger in der Unterstadt. Sie sichern durch ihrer Hände Arbeit unser aller Leben, sogar unseren Reichtum. Dürfen wir es dulden, oder müssen sie es dulden, dass sie im Dreck leben, dass sie dadurch krank werden und nicht mehr arbeiten können, dass dort Kinder zugrunde gehen, die in Zukunft uns allen durch ihre Arbeit das Leben erhalten können, dass dort Mütter krank werden und sterben, die uns ihre Kinder geschenkt haben. Nein, das soll nicht länger so bleiben. Die Vernunft verbietet das ebenso wie unsere Dankbarkeit.
Aus dem gleichen Grund soll auch ein Siechenhaus gebaut werden. In einer Stadt wie Edessa gibt es immer Menschen. die ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbst erwerben können, weil sie krank sind oder alt. Wenn sie auch keine Verwandten haben, die für sie aufkommen können, dann sollen sie dort wohnen und gepflegt werden. Niemand soll sich vor Krankheit oder Alter fürchten müssen. Auch nicht, wenn er arm ist.
Die Kinder der Armen sollen in Zukunft in die Schule gehen. Lesen, Schreiben, Rechnen sind Fertigkeiten, die den jungen Menschen die Möglichkeit geben, das eigene Leben und das ihrer Familien sicherer zu machen. Wer sie gelernt hat, ist für den Lebenskampf besser gerüstet. Auch unsere Stadt wird ihren Vorteil davon haben, wenn unsere Bürger mehr wissen.
Ihr werdet euch nun fragen, warum ich das gerade jetzt alles tun will. Höret! Ihr redet mich mit "Glücklicher König' an. In den letzten Wochen habe ich gelernt, dass ein König nur dann ein glücklicher König ist, wenn er sein Volk liebt und sein Diener ist. Wenn er aller Bürger Diener ist. Besonders derer, die seinen Dienst am meisten brauchen.
Darum habe ich bei denen angefangen, die aus unserer Gemeinschaft ausgesondert werden mussten. Sie benötigen ihren König am meisten.
Nun werdet ihr weiter fragen, woher ich auf einmal diese Erkenntnis habe. Dazu muss ich euch etwas erzählen: Vor nun schon etwa einem Vierteljahr bekam ich durch einen Reisenden aus dem Königreich des Herodes Nachricht, dass dort ein Mann lebe, der alle Krankheiten heilen könne, und zwar ohne Kräuter und Arzneien. Ihr wisst, wie lange ich nun schon krank bin, und dass niemand mir helfen konnte. Ich habe also sofort den Ananias mit einem Brief zu dem Mann geschickt, der Jesus heißt. Er sollte zu mir hierher kommen und mich heilen. Aber er nannte mich in seiner Antwort zwar glücklich, weil ich an ihn geglaubt hätte, selbst kam er jedoch nicht. Erst dachte ich, ich sei einem Betrüger aufgesessen. Aber Ananias bezeugte mir eine solche Heilkraft von Jesus, dass ich jetzt ganz sicher bin, dass er mich heilen kann. Nun habe ich durch Ananias auch erfahren, dass dieser Jesus ein 'Reich Gottes' verkündet, wie er sich ausdrückt. In diesem Reich gibt es keine Ungerechtigkeit, keine Rache. In ihm ist der Erste der Diener aller. Jesus hat mir durch Ananias versprochen, er werde mir einen seiner Jünger schicken und mich wieder ganz gesund machen. Ja, das hat er mir versprochen. Ich habe mir selbst versprochen, ich wollte das, was Jesus lehrt, hier in Edessa wirklich durchführen. Ich bin der König und also der Erste hier und darum Diener aller.
So nun kennt ihr meine Motive!
Leider habe ich vorgestern erfahren, Jesus sei tot. Seine Feinde haben ihn ans Kreuz geschlagen. Aber ich bin sicher, sein Geist wird hier bei uns weiterleben. Es wird uns gelingen, das auszuführen, was wir planen. Wenn der König dieser Stadt immer Diener aller ist, dann wird Edessa eine Stadt werden, in der seine Bürger glücklicher leben können.
Allerdings kann der König der Verantwortung für jeden Bürger nur dann voll und ganz gerecht werden, wenn auch jeder in der Stadt seinen Teil dazu beiträgt. Wenn er ebenso Verantwortung für alle übernimmt. Nicht nur in seinem häuslichen Bereich, sondern für alle Bürger. Darum bitte ich zum Wohle unserer Stadt euch alle ganz herzlich um eure Hilfe.
Allen denen, die ohne Kenntnis meiner Motive und Absichten, meine Pläne bisher mit sachverständigem Rat und mit Tatkraft unterstützt haben, sage ich aus ganzem Herzen Dank. Ich bitte euch, nicht nachzulassen in eurem Eifer, damit wir die Pläne bald Wirklichkeit werden lassen, und weitere Vorhaben in Angriff nehmen können."

Abgar ließ sich in seine Polster zurückfallen. Jeder im Raum wusste, dass der König ihm Einblick in sein Inneres gestattet hatte. Alle schwiegen. Der Wesir beugte sich über seinen Herrn und erbat Weisung für den weiteren Verlauf der Versammlung. Dann erhob er sich, wandte sich an die Anwesenden und sagte: "Der König bittet, jetzt Fragen zu stellen, wenn jemand noch etwas wissen will. Ich bin beauftragt, diese Fragen zu sammeln. Teilweise werde ich sie dann beantworten, teilweise wird das der König selbst tun. Ich denke wir fangen gleich an."

"Ich möchte keine Frage stellen." Es war Gracchus, der sich so zu Wort meldete. "Ich möchte allen, die hier sind sagen, dass unser König wirklich zuerst an die Schwachen in seiner Stadt denkt. Jetzt kann ich an ein Ende ihrer Misere glauben. Ich möchte mich dafür bedanken."

Abgar lächelte und dankte durch Erheben seiner Hand.

Gleich meldete sich Kambyses zu Wort: "Ich würde gern euch, Glücklicher König, unterstützen. Ich fürchte nur zweierlei: Zum ersten brauchen unsere Arbeiter immer ein wenig Druck, sonst werden sie üppig und faul: zum anderen sehe ich die Preise in der Stadt steigen, wenn die Leute zu viel Geld in den Händen haben.'

Pyrrhon gab das Zeichen, dass beide Punkte notiert seien.

"Ich als Oberpriester des Äskulap", begann darauf Hippokrates. "möchte mein Erstaunen darüber äußern, dass unser König sich an einen fremden Arzt wendet, der vorgibt ohne Hilfsmittel Kranke heilen zu können. In wieweit sind diese Heilerfolge eigentlich verbürgt? Wer hat das bisher bezeugt? Wir haben doch in unserer Stadt ein Heiligtum des Gottes der Heilkunde, Äskulap. Wir brauchen keine Wunderärzte. Falls der Gott einem Kranken noch keine Heilung verleihen will, dann muss der Geduld haben. Für das geplante Siechenhaus erwarte ich jedenfalls seine Unterstellung unter meine ärztliche Aufsicht."

Es gab ein leichtes Geraune als Meinungsäußerung auf die geschäftstüchtigen Äußerungen des Arztpriesters.

Ananias und Tobias meldeten sich gleichzeitig zu Wort. Auf das Zeichen des Wesirs erzählte der Läufer, er sei auf Befehl des Königs in Galiläa gewesen, habe nicht nur mit den Leuten geredet, sondern mit Jesus selbst, der in seiner Gegenwart einen gelähmten jungen Mann geheilt habe. Es gäbe keinen Zweifel, dass Jesus solche Macht habe, und dass er niemals ein Honorar für eine Heilung fordere. Darum wäre er auch arm und hätte nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Tobias zog den etwas ängstlichen Markus nach vorn, stellte ihn der Versammlung vor und sagte, auch dieser könne bezeugen, dass Jesus kein Aufschneider sei. Vielleicht käme ja eines Tages auch Jonas wieder auf der Rückkehr von seiner Reise zum Schwarzen Meer. Der hätte sogar von der Erweckung eines Toten berichtet.

Die meisten im Raum waren über diese Worte so erstaunt, dass sie keine Fragen mehr stellen oder Meinungen äußern mochten.

Abgar winkte dem Wesir, er wolle nun selber ein Schlusswort sprechen. Als die Menge beruhigt war, sagte er:

"Ich danke euch, Ananias und Tobias, mit Jesus habt Ihr auch mich verteidigt. Ich werde euch das nicht vergessen, eure Fragen, Hippokrates und Kambyses, werde ich ernst nehmen. Wir haben aber wohl noch Zeit für weitere Beratungen, ehe wir darüber befinden müssen. Ich werde Euch darum in den nächsten Tagen zu mir bitten. Ebenso lade ich‚ jeden, der noch etwas beitragen möchte, ein, sich zur Audienz zu melden."

Damit wurde die Versammlung entlassen.

DIE BEDENKEN

"Glücklicher König, ich bin sehr niedergeschlagen." Mit diesen Worten begann Hippokrates seine Stellungnahme in der Audienz, zu der er, auf Grund seiner Wortmeldung in der Versammlung, eingeladen worden war.

Abgar unterdrückte seine Abneigung gegen den Arzt und Priester des Gottes der Heilkunde, der ihn monatelang mit teilweise schmerzhaften Kuren ohne jeden Erfolg behandelt hatte. Neuerdings hatte er ihn geärgert, weil er obendrein vor der Versammlung noch getan hatte, als sei es der Wille des Gottes Äskulap, dass er ihn nicht hatte heilen können. Einen leicht ironischen Unterton konnte er daher in seiner Frage "Warum denn?" nicht vermeiden.

Hippokrates merkte es gar nicht, sondern begann gleich hastig zu reden: "Ich bin Tag und Nacht um die Gesundheit meines Königs sehr besorgt. Nun erfahre ich, dass er hinter meinem Rücken Verbindungen zu einem fremden Naturheiler aufgenommen hat, der sogar ohne jede Vorbildung und Hilfsmittel eine ärztliche Praxis betreibt. Ich vermute auch ohne den Segen unseres Gottes Äskulap."

"Da wirst du Recht haben." bemerkte Abgar.

Der Arzt schluckte und änderte das Thema: "Zur Planung des Siechenhauses möchte ich zu bedenken geben, dass es im Interesse der unumgänglichen ärztlichen Aufsicht, doch am besten im Anschluss an den Äskulaptempel gebaut wird. Dort haben wir ja schon Anlagen, die genutzt werden könnten. Ich bin es dem Gotte schuldig, dass alles, was auf diesem Gebiete geschieht, unter seinen Schutz gestellt wird."

Abgar, der an das Angebot dachte, dass er vor Wochen Jesus hatte machen wollen, wenn der nach Edessa gekommen wäre, vermied jede Festlegung: "Sollte sich Äskulap entschließen, mir durch dich Heilung zu verleihen. wirst du darauf sicherlich noch einmal zurückkommen. Ich werde dir dann nicht undankbar sein."

"Glücklicher König, könnte ich mir deiner Fürsprache sicher sein, wenn ich mit diesem Jünger Jesu, wenn er denn kommt, verhandeln kann mit dem Ziel, eine Übertragung seiner Heilkräfte auf mich zu erreichen? Ich könnte dann für Edessa auf Dauer eine Verbesserung der Heilerfolge unseres Tempels sicherstellen."

"Hippokrates. du kannst sicher sein, dass ich jedem helfen werde, der wirklich ein Diener aller sein will. Auch dich, wenn du dich darum auch ernsthaft bemühst, ohne an dich selbst zu denken.

Der Arzt verabschiedete sich mit einer tiefen Reverenz.

Der nächste Besucher war Micha. Der war hellhörig geworden durch die Mitteilung des Königs über seine Verbindung zu Jesus. Natürlich brachte er die in Zusammenhang mit dem Lied des Jesaja, dessen Übersetzung er hatte prüfen müssen. Nun wollte er gerne Näheres über diesen Wunderheiler wissen.

"Glücklicher König!" begann er, nachdem er seinem Herrscher seine Reverenz erwiesen hatte. "Du hast dankenswerterweise deine Pläne und Beweggründe offen dargelegt. Ich möchte dir dafür auch im Namen der hiesigen jüdischen Gemeinde danken." Abgar nahm den Dank des Synagogenvorstehers höflich entgegen, ließ aber erkennen, dass er ihn nicht für den eigentlichen Grund seiner Bitte um Audienz hielt.

"Glücklicher König, ich hätte mich vielleicht auch mit einer Befragung des Ananias zufriedengeben können, aber der war unter keinen Umständen bereit weiteres über Zweck und Ziel seiner Reise nach Jerusalem zu erzählen."

"Dafür hatte er auch ein strenges Verbot. Ich bin zufrieden, dass er dieses so genau einhält. Aber ich werde es jetzt aufheben und du kannst ihn über Jesus ausfragen. Doch bitte ich dich, auch mir Fragen zu stellen, damit ich weiß, wohin dein Interesse zielt. Vielleicht habe ich dann auch Fragen an dich!"

"Du bist also ganz sicher, dass es diesen Jesus überhaupt gibt?"

"Ja, das bin ich. Du hast ja gehört, was Ananias berichtet hat. Mich beeindruckt an ihm, mehr als die Heilungen, seine Lehre, dass derjenige, der in einer Gemeinschaft der Erste ist, der Diener aller sein müsse. Um dieser Lehre willen ist er für mich ein großer Geist. Ich bin entschlossen, mich als Herrscher über Edessa nach ihr zu richten."

"Hast du nicht auch gesagt. er habe versprochen, dich von deinem Leiden zu befreien?"

"Er hat versprochen, mir einen seiner Jünger zu schicken. Ich bin ganz sicher, dass er seinen Tod gewusst oder geahnt hat. Darum ist er nicht selbst gekommen. Aber er hat mich mit dem Jesaja-Lied bekannt gemacht."

"Und was bedeutet dir das?"

"Du hast mir die Deutungen eurer Gelehrten dargelegt. Ich habe daraus geschlossen, was Jesus mir hat sagen wollen. Nämlich, dass er selbst der Gottesknecht des Liedes sei. Er bringt also ein Reich der Gerechtigkeit und weiß sich dabei wie Jesaja durch Jahwe geschützt.

"Nun aber ist er tot?"

"Ja, das war ein schwerer Schlag für mich. Aber ich glaube fest, dass meine Pläne hier durch seinen Tod nicht berührt werden müssen, wenn wir seiner Lehre treu bleiben."

"Du hast aber deine Heilung nicht vergessen?"

"Fast könnte man das glauben. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass deine Deutung des Liedes, der Knecht könne auch das ganze Volk sein, von Jesus übernommen wurde. Die Jesusgemeinschaft als Ganzes ist der Knecht Gottes. Und einer von ihnen wird kommen, um uns neues Leben zu bringen und mich zu heilen."

"Ich wünsche es dir, glücklicher König!"

"Ich merke schon, du möchtest deine Neugier lieber bei Ananias befriedigen." Micha konnte sich ein Nicken nicht verkneifen. Abgar fuhr fort: "Ist mir recht! Aber dann beantworte mir jetzt ein paar Fragen, die mich schon längere Zeit beschäftigen: Unsere Mythen und Sagen gehen ja auch schon in ungeahnte Zeiten zurück, aber mir ist nicht bekannt, dass sich ein heutiger Mensch mit einer Gestalt aus einem uralten Gedicht so vergleichen könnte, dass er sagen würde, das bin ich. Wieweit gehen eure Traditionen zurück, mit denen Ihr euch vergleichen könntet."

"Oh, das ist leicht beantwortet. Adam, der erste Mensch, ist es, der sich Gott gleichgesetzt hat, indem er beanspruchte, so wie Jahwe zu wissen, was gut und böse ist. Alle Menschen beanspruchen seither auch für sich selbst dieses Wissen. Wir alle sind Adam. Viel Unheil ist daraus entstanden. Der Vater unseres Volkes ist Abraham, der auf Geheiß Jahwes aus dem Zweistromland nach Kanaan, heute Palästina genannt, einwanderte. Seine Nachkommenschaft musste später in Ägypten Schutz suchen und geriet dort in Sklaverei. Jahwe befreite sie aber wieder und führte sie durch Moses in das Land ihrer Väter. Dahin, wo wir jetzt wohnen." Er verhielt einen Augenblick. Dann fuhr er fort: "Wir mussten um unser Land bitter kämpfen. Jahwe gab uns den Sieg und wir organisierten einen Staat. Der zerfiel allerdings bald in zwei Staaten. Zur Zeit des Jesaja gerieten sie in größte Gefahr, weil das Volk Jahwe vergaß und andere Götter verehrte. Die Assyrer und die Babylonier vernichteten nacheinander die beiden Königreiche. Die meisten von uns wurden in Gefangenschaft verschleppt. Es gab zwar eine Rückkehr aus dem Exil, als Kyros, der Perser, sich zum König erhob. Aber unser Volk ist politisch fast tot. Jahwe hat es gestraft. Wegen seiner Treulosigkeit." Wieder machte er eine Pause. Es war ihm wohl klar, dass seine Worte für Abgar nicht leicht zu verstehen waren.

"Er wird uns wieder aufrichten. Unsere Propheten verkünden uns als Retter einen Messias. der kommen wird, um das Volk zu einigen und zu befreien. Das, glücklicher König, ist in Kürze unsere lange Geschichte. In jeder Phase können wir uns in ihr wiedererkennen. Es ist unser Unglaube und unsere Untreue zu den Geboten Jahwes, die uns unsere Leiden bringen."

"Welche Gebote hat Euch Jahwe denn auferlegt?"

"Sie stehen in den fünf Büchern der Thora, die Moses nach dem Worten Jahwes aufgeschrieben hat. Sie werden auch in unserer Synagoge aufbewahrt. Wenn du einmal kommen würdest, so könnte ich sie dir zeigen. Sie sind aber hebräisch abgefasst, du würdest sie nicht lesen können. Es sind insgesamt mehr als 600 Gebote. die darin stehen."

"So viele? Welches von ihnen ist denn nun das höchste Gebot? Es gibt doch sicherlich eines, das wichtiger ist als alle anderen."

"Ja, ein solches wichtigstes Gebot gibt es. Es heißt: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken.' und: 'Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.' In diesem Gebot sind alle anderen Gebote enthalten."

"Der zweite Teil wenigstens wäre doch eigentlich ein Gebot für alle Menschen. Auch für uns hier in Edessa." Er schwieg, weil sich dieser Gedanke Eingang in sein Herz suchte. Er musste ihn unbedingt für Diotima behalten.

Micha wartete geduldig auf eine weitere Frage. Die kam auch nach einiger Zeit: "Wie soll ich mir Jahwe eigentlich vorstellen? Wo lebt er? Hast du ein Bild von ihm in eurer Synagoge?"

"Wir dürfen uns kein Bild von Jahwe machen, darum gibt es auch keines weder im Tempel zu Jerusalem noch in unserer Synagoge. Jahwes Name sagt uns, dass er immer bei uns ist. Er wohnt also eigentlich überall, wo es Menschen gibt."

"Ich glaube. ich muss mir das, was du erzählt hast, noch einmal für mich überdenken. Dann werde ich dich vielleicht noch einmal zu mir bitten."

"Darf ich noch eine Frage an dich richten?"

"Sicher!"

"Könnte es sein, dass Jesus der Messias ist?"

"Ich hin kein Jude. Darum möchte ich dazu lieber nichts äußern. Aber ich halte ihn für einen Weisen, den ich vor Plato und Aristoteles schätze. Auch unsere Modernen kommen gegen ihn nicht an. Ich kenne ja nur seine Lehre vom Dienen. Sie in Verbindung mit dem Liebesgebot könnte die Welt in ein goldenes Zeitalter führen. Das möchte ich in Edessa machen."

"Glücklicher König. du hast in mir einen glücklichen Gedanken geweckt: Wenn es so ist, wie du sagst könnte die Welt eines Tages nach Jerusalem schauen, wie es unsere Propheten gesagt haben." Nach einer kleinen Pause und wie eine Gegengabe setzte er hinzu: "Ich glaube. ich kann dir bei der Bemühung um die Menschen in Edessa helfen, wenn ich dir rate, die Schule für die Armen zu gründen, wie du schon angekündigt hast, damit ihre Kinder dort für ihr späteres Leben lernen können. Viele sind ja nur deshalb arm, weil sie für dieses Leben in der Stadt nicht gerüstet sind. Ein Mensch, der als Kind schon lesen, schreiben und rechnen gelernt hat, ist auch für unsere Wirtschaft viel mehr wert, als einer der das alles nicht kann. Vielleicht sieht das auch Kambyses ein."

Micha erhob sich und machte eine tiefe, ehrfürchtige Verbeugung vor seinem König, der ihm sehr verwundert, aber auch beglückt nachschaute.

Es blieb Abgar nicht viel Zeit zum Nachdenken. Kaum hatte sich die Tür hinter Micha geschlossen, als ein Diener den Wesir mit einem Begleiter meldete. Gracchus war mit seinem Anliegen zu Pyrrhon gegangen. Der hatte ihn angehört und ihn gleich mit zum König genommen. Dem Tagelöhner war die harte Arbeit um das tägliche Brot für die Familie eine selbstverständliche Sache. Es war ja immer so. Aber er empfand es als ungerecht, dass eine Familie. die ohne Schuld bei einem reichen Arbeitgeber oder Wucherer Geld leihen musste, in eine Zinsabhängigkeit geriet, die sie oft sogleich in größte Not brachte.

"Kannst du mir das an einem Beispiel klarmachen?"

Gracchus dachte kurz nach, dann sagte er: "Im vorigen Monat verletzte sich einer meiner Arbeitskameraden so, dass er den Arzt aufsuchen musste. Etwa zwei Wochen konnte er nicht arbeiten. Die Familie musste von dem leben, was noch da war. Um den Arzt bezahlen zu können, musste der Mann Geld leihen. Nun wird sein Lohn vom Arbeitgeber um die hohen Zinsen gekürzt. Der Familie bleibt bei allem Fleiß nur der Hunger."

Hier schaltete sich der Wesir ein: In dem Jesajaslied stand doch etwas von geknickten Rohr, das nicht gebrochen werden, und einem glimmenden Docht, der nicht gelöscht werden dürfe. Ich fürchte, in Edessa gibt es zu viele gebrochene Rohre und zu viele gelöschte Dochte, als dass wir von einer glücklichen Stadt sprechen könnten."

Abgar fand lange keine Worte. Gracchus und Pyrrhon blickten gespannt auf den König. Der aber war ratlos. Noch nie in seinem Leben war er solcher Art Not begegnet, hatte er diese andere Seite erfolgreicher Wirtschaft gesehen. Er musste daran denken, dass Kambyses gesagt hatte: "Du bist beteiligt an dem System."

"Gracchus." versuchte er vorsichtig. "ich könnte mir vorstellen, dass diese Familie nicht so tief in Not geraten wäre, wenn sie einen Garten gehabt hätte, groß genug, um dort so viel zu ziehen. wie die Familie zum Leben braucht."

"Ja, so ein Garten würde wohl in manchen Fällen helfen. Notlagen zu vermeiden. Aber Kosten von Arzt und Arzneien lassen alle Ersparnisse schnell zu Nichts werden."

"Pyrrhon, wir wollen Gracchus für diesen Hinweis danken, und ihm für die Familie, deren Not er hier schilderte, einen Betrag mitgeben, der ausreicht, sie von den Zinsen zu befreien. Ich weiß noch keine allgemeine Regelung. Ich vermute aber, dass die nur möglich sein wird, wenn alle Bürger bereit sind, für einander in der Not einzustehen. Ich fürchte, dazu brauchen wir noch viel Zeit."

Abgar ließ sich erschöpft und enttäuscht in sein Polster sinken. Der Wesir sah ein, dass er jetzt keine Besucher mehr empfangen konnte. Daher machte er dem Gracchus ein Zeichen, er solle ihn im Vorraum erwarten. Er selbst sorgte dafür, dass der König in sein Privatgemach getragen wurde. Dann folgte er Gracchus und gab ihm einen Geldbetrag für die in Not geratenen Familie.

Nachdem Abgar unter der Aufsicht der Königin erfrischt und versorgt worden war, erzählte er Diotima von den Gesprächen des Tages. Vor allem von dem Vorschlag Michas und dem Anliegen des Gracchus.

"Abgar. Ich finde Deine spontane Hilfe an jene notleidende Familie ganz ausgezeichnet. So werden wir in Zukunft noch oft handeln müssen. Ich fürchte nur, wenn wir das zur Regel machen, wird der liebe Hippokrates letzten Endes unsere Gelder in seinen Säckel lenken. Dieses Problem werden wir nicht schnell lösen können. Vielleicht sollten wir es mit Kambyses besprechen. Dabei möchte ich gerne mitmachen. Auch den Wesir solltest du hinzuziehen."

"Und was sagst du zu Michas Meinung wegen der Schule?"

"Ja. darüber solltest du wirklich auch mit Kambyses reden. Auf das Gespräch mit dem bin ich sehr gespannt. Er ist ein umsichtiger Mann. Nur fürchte ich, dass bei ihm Geschäft vor allem anderen zählt."

KAMBYSES

Die Unterredung mit dem Kaufmann kam schon am nächsten Tag zustande.

"Kambyses", redete ihn der König an, "du hast neulich in der Versammlung Andeutungen von Problemen gemacht, mit denen wir rechnen müssten, wenn ich die Hälfte meines Vermögens aus der Schatzkammer an die Armen geben würde. Bitte stelle uns deine Bedenken noch einmal dar."

Kambyses war nicht unvorbereitet. Er erklärte dem König, dass seiner Meinung nach die Arbeiter mit ihren Familien immer etwas unter Druck gehalten werden müssten, damit die Arbeitsbereitschaft erhalten bliebe. Wenn dagegen der König den Armen ein so großes Geschenk mache, wie er angedeutet habe, dann müsse man damit rechnen, dass kein Arbeiter eher zur Arbeit erschiene, als bis das Geld aufgebraucht sei. Dazu komme noch, dass ein solcher Schwall Geld in den doch immerhin begrenzten Mauern von Edessa sicher zu einer allgemeinen Preissteigerung führen würde, die dauere, bis das Geld ausgegeben sei. Er selber, wie auch die anderen Kaufleute könnten eine solche Entwicklung nur begrüßen, denn das Geld aus der Schatzkammer fände sich mit geringer Verzögerung in deren Geldkisten wieder. Ein großer Teil, jedenfalls. Das sei sicher nicht im Sinne des Königs."

Abgar forderte nun den Wesir auf, dem Kambyses das zu erzählen, was Gracchus berichtet hatte. Kambyses bestätigte ohne zu zögern. "So versuchen manche, ihre Arbeiter in einer Abhängigkeit zu halten. Du hältst uns Kaufleute und Gewerbetreibenden durch deine Zöllner ja auch in deiner Abhängigkeit. Oder meinst du, wir zahlten unsere Abgaben freiwillig?"

"Ich hatte das gehofft, Kambyses. Und ich hoffe auch immer noch, dass deine Vernunft dir sagt, dass ich, der König dieser Stadt, für bestimmte Aufgaben, die er für die Allgemeinheit erfüllt, Mittel benötigt."

"Glücklicher König, deine wohlgefüllte Schatzkammer lässt den Schluss zu, dass unsere Steuern zu hoch sind."

"Kambyses, so könnten wir noch lange streiten. Das führt zu nichts. Ich möchte ja gerade dieses Geld nutzen, um meiner bisher vernachlässigten Pflicht nachzukommen. Darum bitte ich dich nun nicht nur deine Bedenken zu nennen, sondern auch einen Rat zu geben, wie ich den Armen helfen kann, ohne ungünstige Nebenwirkungen befürchten zu müssen."

Kambyses sagte nichts, sah aber den König gespannt an.

"Du bist ja Mitglied der Kommission", fuhr Abgar fort, "und kennst daher die dort besprochenen Vorhaben. Weder die Häuser der Aussätzigen noch die Sanierung der Unterstadt dürften deine Bedenken hervorrufen. Auch nicht das Siechenhaus. Oder?"

"Wenn du es als königliche Anstalt betreibst, nein."

"Das werde ich mir überlegen. Freilich kommt dann die Frage der Betreuung und Pflege auf mich zu." Abgar beließ es bei der Bemerkung. Er wollte keinesfalls zu einem Urteil über Hippokrates verleitet werden. "Dann habe ich noch die Absicht, meine Ländereien unmittelbar vor den Mauern als Gärten für arme Mitbürger zur Verfügung zu stellen."

"Das ist eine gute Idee. Nur, wer sind die Armen?"

"Du hast doch immer Angst, ich könnte die Faulpelze füttern wollen. Für diese Gärten kommen die in Frage. die von ihrer Hände Arbeit leben und bei einem fremden Patron arbeiten. Ihnen will ich eine größere Stabilität geben, damit sie nicht von der Hand in den Mund leben müssen. Übrigens nehme ich an, dass sich Faulpelze nicht leicht um einen Garten bewerben werden."

Kambyses nickte: "Das wird wohl stimmen. Im Übrigen kannst du ja einen Ausschuss mit der Sichtung der Bewerber beauftragen. Das hielte ich für empfehlenswert."

"Gut, das wollen wir aufschreiben!" wandte Abgar sich an den Wesir.

"Nun, glaube ich, kommt das Schwierigste," setzte er sein Gespräch mit Kambyses fort. "Dazu brauche ich zwar auch deinen Rat, mehr noch allerdings deine Unterstützung. Du hast mir vor nicht allzu langer Zeit einmal gesagt, ich gehöre zum System. Ich nehme an, du wolltest klarstellen, dass ich durch die Eintreibung der Steuern mittelbar an der harten Behandlung deiner Arbeiter beteiligt bin. Ich war damals durch deine Bemerkung sehr verärgert. Heute weiß ich, dass du Recht hattest. Ich kann aus dem System nicht heraus, solange ich König von Edessa bin. Inzwischen ist mir allerdings klar geworden, dass ich als Erster dieser Stadt aller Bürger Diener zu sein habe."

Kambyses Blick auf seinen König verriet Unverständnis, wenn nicht gar Besorgnis. Aber er sagte nichts.

"Ich sehe deiner Miene an, dass du meinen Gedanken noch nicht verstanden hast. Ich will versuchen, dir mit einem Vergleich verstehbar zu machen, was ich sagen will." Er wandte sich an einen Diener und sagte ihm: "Gib mir den Pokal dort her!" Als er ihn in der Hand hielt, drehte er sich wieder Kambyses zu: "Sieh diesen Pokal! Er hat ein wunderschönes großes Gefäß hier oben. Dort hinein kommt der Wein. Ihn zu halten ist die eigentliche Aufgabe des Pokals. Aber der Fuß hier unten gibt ihm den Halt. Darauf steht er. Der Fuß, nicht der schöne Deckel, dient nicht nur dem Pokal, sondern auch jedem Tropfen Wein in dem Kelch. Der Fuß ist unentbehrlich. So sehe ich meine Aufgabe als König dieser Stadt."

"Glücklicher König, ich bin tatsächlich sprachlos! Ich kann jetzt hier und sofort nichts zu deinen Ideen sagen. Gib mir dazu bitte noch etwas Zeit. Aber welche praktischen Schritte willst du nun in Verfolgung deiner Ideen tun?"

"Ich habe dir vorhin den Fall, den mir Gracchus erzählt hat, vorgelegt und du hast mir bestätigt, dass so etwas vorkommt oder gar die Regel ist." Abgar zögerte einen Augenblick, dann fuhr er fort: "Ich möchte eine Kasse gründen, aus der in solchen Notfällen zinsfreie Darlehen an die Betroffenen gegeben werden können. In einem besonderen Fall auch einmal ein Zuschuss. Hat das nachteilige Folgen für die Preise?"

"Auf die wohl kaum. Aber es werden viele Unternehmer von der liebgewordenen Praxis Abschied nehmen müssen und Hippokrates wird das wahrscheinlich sehr gern hören. Die Betroffenen werden dir applaudieren. Du wirst aber viel Überzeugungsarbeit brauchen, ehe dir alle ohne Hintergedanken zustimmen."

"Ja, das wird wohl so sein. Dennoch möchte ich damit anfangen. Ich rechne dabei mit dir. Es ist doch Unrecht, wenn Familien, die unsere Zukunft durch ihre Kinder mitbauen, oder Menschen, die ihre gesunden Kräfte zur Verfügung stellen, um das Wohlergehen aller zu fördern, in Not geraten, wenn sie krank werden. Wir dürfen den noch glimmenden Docht nicht verlöschen lassen. Das ist letzten Endes nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern ebenso Sache der Vernunft, da Kräfte erhalten bleiben, die sonst lange oder für immer ausfallen. Übrigens wird der Fonds aus meiner Schatzkammer gegründet. Nur auf die Dauer werden auch andere sich beteiligen müssen."

"Glücklicher König, du zeichnest eine Utopie. Ich muss zugehen, sie ist nicht unmöglich. Sie bedarf aber einer breiten Zustimmung und aktiven Mitarbeit. Die verlangt ein Umdenken. Das fällt jedem schwer. Mir auch! Lass uns noch etwas Zeit."

Hier mischte sich die Königin in das Gespräch ein. "Kambyses," begann sie "Sicher ist es nicht gut. wenn wir es überstürzen, was wir als notwendig erkannt haben. Wir brauchen tatsächlich eine breite Zustimmung, und zwar derer, die das Geld aufbringen müssen. Das ist unsere Wirtschaft. Der König hat sie ja bisher auch schon besteuert, aber er hat das Geld gebraucht, um seine eigenen Pläne zu finanzieren, seien es Kriege oder Luxus. Du selbst hast dazu eine bittere Bemerkung gemacht. Der König will keine seiner bisherigen Pflichten, vor allem nicht die Sicherheit vernachlässigen. Aber er will die Kräfte unserer Stadtgemeinde pflegen und aufbauen, damit sie erhalten bleiben, und sich immer wieder erneuern können. Das ist ein Dienst für alle."

Kambyses hatte seine Königin noch nie so lange und so eifrig sprechen gehört. Er war nicht gleich in der Lage etwas zu erwidern. Darum schwieg er. Abgar dankte es ihm, weil so ein fruchtloses Gerede vermieden wurde. Es brauchte in der Tat noch Zeit, bis das Problem einer Notkasse soweit geklärt war, dass alle Beteiligten sachlich darüber sprechen konnten. Es genügte ihm im Augenblick, dass Kambyses die Idee seines Planes erfasst hatte. Das nahm er jedenfalls an. Darum gab er dem Gespräch eine neue Richtung:

"Diotima, du hast unser Denken gut umrissen. Jetzt sollten wir deinem Rat folgen und nichts überstürzen, sondern unseren Gast von diesem Thema befreien. Ich habe ja noch eines, das ich noch mit ihm beraten möchte."

"Noch eines, glücklicher König?"

"Ja, noch eines. Ich weiß nicht, wie du meine Ankündigung dazu aufgenommen hast, wenn es auch wohl kein Geldproblem im Großen bedeutet. Kurz, ich will die Schule für die Armen, die ich schon angekündigt habe."

"Eine Schule für die Armen? Wozu brauchen die eine Schule?"

"Micha hat mich in dem Gedanken bestärkt. Er meinte, auch du würdest schnell einsehen, dass Menschen, die lesen, schreiben und besonders rechnen könnten, für unsere Wirtschaft viel mehr wert seien, als solche, die das alles nicht können. Natürlich bedeutet das für sie selbst auch bessere Aussichten im Kampf um ihr tägliches Brot. Inzwischen habe ich erkannt, dass die Kluft zwischen Reich und Arm in unserer Stadt, die wohl niemand leugnen wird, auch eine Kluft zwischen Gebildet und Ungebildet ist. Ich meine, diese Unterschiede sind sehr schlecht. Ich möchte möglichst alle Bürger an unserem wirtschaftlichen Erfolg beteiligen. Mir scheint, ein sicherer, wenn auch ein langwieriger Weg dorthin, ist die Verbesserung der Bildung der Armen. Damit hoffe ich auch, eine gewaltsame Umwälzung, wie sie in Rom schon einmal versucht worden ist, zu vermeiden. Sie könnte uns alle ins Unglück stürzen."

"Glücklicher König, ich kann auch dazu jetzt nichts sagen. Nur soviel, dass du, falls du deine Pläne durchführen kannst, sicherlich einer neuen Ära den Namen geben wirst. Wir wollen hoffen, dass es eine glückliche Ära sein wird."

Damit endete die Audienz. Allerdings blieben alle noch lange zusammen, da der König zu einem Essen eingeladen hatte. Bei den Tafelgesprächen wurden die verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit den geplanten Neuerungen von allen Seiten besprochen. Zugleich erfuhr Kambyses zum ersten Mal von Jesus etwas mehr als nur den Namen und die Fähigkeit zu heilen. Nach und nach begann er seinen König besser zu verstehen. Worte wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Dankbarkeit und Liebe tauchten im Gespräch immer wieder auf

JERUSALEM

Während der König Abgar sich in Edessa mühte, seiner Stadt und seinen Untertanen, die er jetzt nur noch "Mitbürger" nannte, "neues Leben" zu schenken, geschahen im fernen Jerusalem andere Dinge, die gleichwohl für die Stadt des glücklichen Königs sehr wichtig werden sollten.

Jesus hatte sich schon am dritten Tag nach seinem Tode als Lebender erwiesen. Die Jünger hatten ihn gesehen, hatten mit ihm geredet und gegessen, bis er von ihnen Abschied nahm und ihnen dabei den Auftrag gab, in alle Welt zu gehen und den Menschen die gute Botschaft von "Gottes Neuer Welt" zu bringen.

Zuerst fühlten sich die Jünger alleingelassen und unsicher. Aber die Erinnerungen an das Leben mit Jesus erneuerten und festigten ihren Glauben, dass dieser sie, wie Jahwe, niemals verlassen würde. "Sein Geist wird uns lehren, immer die rechten Wege zu finden, und als Brot und Wein wird er immer in der Gemeinde gegenwärtig sein, wenn sie zu seinem Gedächtnis zusammenkommt."

In der Gemeinde lebte auch Thaddäus, einer der siebzig Jünger, die der Herr einst in die Dörfer Galiläas gesandt hatte, um dort das Reich Gottes zu verkündigen. In diesen Tagen erinnerte er sich, von seinem Geist erfüllt, an das Versprechen, das Jesus dem König Abgar gegeben hatte. Sogleich ging er zu Simon. Der wurde nämlich von den anderen Jüngern besonders respektiert, weil er den Glauben an Jesus. den Herrn, als erster öffentlich bekannt hatte, und unerschütterlich weiterhin die gute Botschaft vom Erscheinen des Messias sogar im Tempel verkündigte. Sein Meister hatte ihn ja auch seinerzeit schon "Fels" genannt.

Simon dankte dem Thaddäus, dass er ihn an den Vorfall mit Ananias erinnert hatte und sagte: "Das Versprechen unseres Herrn ist uns heilig, da wir doch eins sind mit ihm. So geh du nach Edessa und erfülle sein Versprechen. Befreie den Toparchen Abgar von seinem Leiden und verkünde ihm die gute Nachricht, dass Jesus lebt. Sie soll der Stadt neues Leben bringen. Er legte dem Thaddäus die Hände auf und segnete ihn. Dann brachen sie zusammen ein Stück Brot und tranken aus einem Becher einen Schluck Wein im Andenken an Jesus, ihren Herrn.

Thaddäus machte sich sogleich reisefertig und wanderte nach Jericho und von dort weiter am linken Jordanufer nach Norden. Wenn es Abend wurde übernachtete er bei den Leuten, die ihn aufnahmen. Denen erzählte er von Jesus, dem Messias. Manche begannen dann Hoffnung zu schöpfen, dass die Zeiten des Unfriedens, des Hasses und des Misstrauens bald vorbei seien. Aber Thaddäus wies darauf hin, dass Jesus ja gekreuzigt worden sei, dass seine Gemeinde Dienerin aller Menschen sein solle. Nicht jeder verstand das. Thaddäus sah bald ein, dass die Leute Jesus durch seine Gleichnisse leichter verstanden hatten als ihn. Und darum machte er es nun auch so, wie es Jesus gemacht hatte, und erzählte die Gleichnisse, die ihm noch einfielen.

Manchmal baten ihn die Leute, noch ein paar Tage bei ihnen zu bleiben, damit sie auch ihre Verwandten und Freunde zusammenrufen könnten, um seine Erzählungen zu hören. Dann fürchtete Thaddäus schon, er könne mit einem Märchenerzähler verwechselt werden, der von Ort zu Ort zieht, um seine spannenden Geschichten darzubieten. Um einer solchen Verwechslung vorzubeugen, nahm er kein Geld an und keine Wegzehrung, sondern nur das, was er in ihrer Gesellschaft essen konnte.

Aber er mochte die Fragen nach Jesus auch nicht ohne Antwort lassen. So verkündete er das Evangelium von Jesus, dem Messias, der gekreuzigt und auferweckt war. Er verschwieg dabei nicht, dass diese frohe Botschaft nicht einfach hingenommen werden durfte, sondern erhebliche Anstrengung verlangte und einen starken Glauben, der gestattete, unverzagt alle Mühen auf sich zu nehmen, die der Dienst am Nächsten forderte.

Solange er noch in von Juden bewohnten Landstrichen wanderte, kam er so nur langsam voran. Aber bald führte ihn sein Weg in Gebiete, in denen nur Heiden wohnten. Zwar boten sie dem Wanderer auch immer die nötige Gastfreundschaft, aber niemand kannte mehr den Herrn, den Einzigen, den Gott Abrahams. Niemand erwartete einen Messias und niemand nahm Anteil an Jesus, dem Gekreuzigten. Und wenn er von der Auferstehung erzählte, so zweifelte man an seinem Verstand.

Gern hatte er den Auftrag übernommen, nach Edessa zu gehen und dem Abgar und seiner Stadt Heilung und neues Leben zu bringen. Er war sogar ein bisschen stolz darauf gewesen. Jetzt aber, in dieser Wüste von Aberglauben und Unwissen begann er zu zweifeln, ob er wirklich der richtige Mann sei für diese Aufgabe. Abend für Abend, wenn er auf einer Strohschütte lag die eine Bäuerin ihm hingeworfen hatte, oder auf einem Polster bei reicheren Leuten, grübelte er vor dem Einschlafen. "Wie soll ich eigentlich dieses Edessa finden'? Was soll ich sagen? Heilen wird der Herr den König. aber was dann?" Er fühlte sich allein gelassen und sehr einsam in diesem Ödland des Heidentums und der Unwissenheit. "Jesus, hilf mir doch!" betete er. "Ich habe ein Unternehmen begonnen ohne zu überlegen, ob ich es auch durchführen kann. Ich fühle mich aber von dir beauftragt. Hilf mir!"

Doch Jesus blieb stumm. So trottete er Schritt für Schritt immer weiter und kam nach Damaskus. Dort wandte er sich zuerst an den Synagogenvorsteher Aaron. Der kannte einen Kaufmann, der ihm die Wege beschreiben konnte, die er gehen musste, um nach Edessa zu kommen. "Zunächst nach Palmyra. Dann immer nach Norden. Bei Sura oder Nicophorion kannst Du über den Euphrat kommen, wenn die Römer die Grenze nicht gerade wieder einmal gesperrt haben. Dann musst du sehen, wie du an den Posten vorbeikommst. Jenseits des Flusses weiß jeder, wie du nach Edessa kommst."

"Was willst du denn in Edessa?" fragte ihn Aaron, als sie wieder allein waren.

"Jesus von Nazareth, der Messias und Herr, hat mich beauftragt, dorthin zu gehen, um den Toparchen Abgar von seiner Krankheit zu heilen."

"Dann bist du ein Arzt? Wer aber ist dieser Jesus? Was kümmert der sich um einen Toparchen in Edessa? Oder winkt dort ein großes Honorar?"

"Nein, ich bin kein Arzt. Ich bin einer der Jünger des Jesus von Nazareth, des Messias. Der Toparch hat ihn um Heilung gebeten. Aber ein Honorar winkt dort nicht, denn Jesus hat nie eine Belohnung genommen, wenn er Krankheiten heilte."

"Ja, dass du kein Arzt bist, hätte ich mir selbst sagen können, da du nicht im Wagen reist, sondern zu Fuß. Aber was redest du immerfort von dem Messias? Soll dieser Jesus ein Messias sein? Wann haut er denn los gegen die Römer? Wo stehen seine Truppen? Wieviele hat er davon? Ich halte übrigens nichts von einem Kampf. Der geht schief gegen die Römer. Aber es gibt ja immer wieder Verrückte, die glauben, sie könnten es mit denen aufnehmen."

"Du hast viele Fragen, Aaron! Meine Antwort wird kurz sein: Jesus hat überhaupt keine Truppen. Also werden auch keine Kämpfe ausgefochten. Jesus selbst ist kurz vor dem Passahfest gekreuzigt worden."

"Gekreuzigt? Und dann erzählst du etwas vom Messias Jesus! Bist du noch bei Trost?"

"Ich denke doch! Jahwe, den er seinen Vater nennt, hat ihn aufgeweckt. Am dritten Tage nach seinem Tode am Kreuz, an das ihn Pilatus hat hängen lassen."

Aaron schwieg und sah seinem Gast prüfend ins Gesicht. Er hatte ihn ja zuerst für einen ehrlichen Wanderer gehalten, nun aber war er völlig unsicher, ob er irre sei oder ein Lügner. Doch brachten ihm seine Forschungen keine Klarheit. Darum begann er wieder zu fragen. Vorsichtig setzte er seine Worte: "Also Jesus, der gekreuzigt ist, hat dir einen Auftrag gegeben? Nur dir allein?"

"Ja, diesen Auftrag habe nur ich allein, die anderen haben ihre eigenen Aufträge. Er hat gesagt: gehet in alle Welt und bringet allen Menschen die Gute Botschaft von Gottes Reich."

"Und wie bist du nun zu deinem Auftrag gekommen? Du sagst er sei auferweckt worden?"

"Bei mir war das so:" Thaddäus erzählte nun dem Aaron, wie Jesus mit seinen Jüngern zusammen war, als der Schnellläufer Ananias mit dem Brief vom Toparchen Abgar angekommen sei. Welche Botschaft Jesus dem Ananias für Abgar mitgegeben habe. "Als nun Jesus in den Himmel aufgenommen war, habe ich an sein Versprechen gedacht und habe mich aufgemacht, es zu erfüllen."

"Aber kannst du denn das? Den Abgar heilen? Was hat er denn für eine Krankheit?"

"Die Krankheit weiß ich nicht. Ich heile ihn ja auch nicht, sondern Jesus, der Messias, wird es tun."

"Dann habe ich allen Grund, um deinen Kopf zu fürchten. Abgar wird ihn dir abschlagen lassen, wenn er sich betrogen fühlt."

"Jesus hat ihm die Heilung versprochen. Ich bin gesandt, sie ihm zu bringen, und neues Leben für die ganze Stadt. Er wird mir beistehen, dass ich meine Aufgabe richtig ausführen kann."

Aaron fragte nicht mehr weiter. Das Vertrauen des Thaddäus in seine Mission und in diesen Jesus war offenbar so groß, dass er mit seinen Fragen an keine Grenze kommen konnte. Die Geschichte von der Auferweckung des Gekreuzigten schien ihm so unglaublich, dass er sich gar keine Mühe gab, weiter zu forschen.

Thaddäus blieb in der Nacht bei Aaron und erhielt am nächsten Morgen nicht nur den Reisesegen, sondern auch den Sohn des Hauses zur Begleitung. Der sollte ihn auf den richtigen Weg nach Palmyra bringen.

Die weitere Reise verlief ohne wesentliche Zwischenfälle. Auch die von ihm gefürchtete Grenzkontrolle am Euphrat blieb harmlos. Aber er wanderte auch gelöster. Das Gespräch mit Aaron schien ihm wie eine Probe für spätere Fragen des Abgar und seiner heidnischen Hofleute. Ihm fiel eine Bemerkung Jesu ein, mit der er seine Jünger offenbar beruhigen und auf ein Leben ohne ihn vorbereiten wollte, wenn sie später einmal vor 'Königen' ihren Glauben würden bezeugen müssen. Die Erinnerung an Jesu Wort gab ihm jetzt Hoffnung und Vertrauen. Er fühlte sich wieder voll im Schutz seines Herrn.

PROBLEME DER WIRTSCHAFT

Der Wesir war bei der Überwachung der Arbeiten zur Beseitigung des Unrates der Unterstadt eher übergenau als großzügig. Der König hatte die Schätze, die er den Armen gewidmet hatte, dadurch zu öffentlichen Geldern gemacht, die er zu verwalten und zu kontrollieren hatte. Allerdings hatte der König angeordnet, dass jeder Arbeiter so bezahlt wurde, dass er von dem Lohn leben konnte. Die Geldrechnung ging gerade deswegen auf, weil Pyrrhon es auch damit genau genommen hatte und nicht knauserig gewesen war. Jeder Arbeiter setzte seine ganze Kraft ein, um gute Arbeit zu leisten und seine gut bezahlte Arbeitsstelle zu sichern. Aber ein anderes Problem entstand gerade dadurch und machte sich unangenehm bemerkbar. Kambyses meldete sich.

"Was führt dich zu mir. Kambyses?" fragte Pyrrhon abwartend.

"Du nimmst uns alle Arbeiter weg! Wir können die Arbeiten in den Betrieben nur noch mit Mühe weiterführen. Die Lohnarbeiter bieten sich, wenn möglich, erst bei deiner Baustelle an. Uns bleiben nur die, die bei dir nicht ankommen können. Das sind nicht eben die besten. So kann es nicht weitergehen. Ich spreche übrigens für alle Betriebe der Stadt. Ich bin von ihnen beauftragt."

"Und woran, meinst du, könnte das liegen?"

"Der König zahlt mehr. Das ist der Grund."

"Der König hat mich beauftragt, bei allen in seinem Namen gezahlten Löhnen darauf zu achten, dass Familien davon leben können. Wenn ihr weniger zahlt, dann wundert mich das Verhalten der Arbeiter nicht. Warum gebt Ihr nicht mehr?"

"Die Lohnkosten sind ein erheblicher Teil des Verkaufspreises unserer Waren. Edessa ist vom Umschlag und Export abhängig. Wir erarbeiten auch das Geld, aus dem wir in der Lage sind, die Steuern an den König zu zahlen. Sein Geld stört jetzt unsere Wirtschaft."

"Kambyses, du willst doch nicht behaupten, dass unsere Wirtschaft zusammenbricht, oder auch nur ernsthaft geschädigt wird, wenn ihr aus euren Gewinnen, etwas mehr als bisher an Lohn abgebt. Ich bin überzeugt, dass ein besser bezahlter Arbeiter auch lieber arbeitet und so seinem Arbeitgeber den höheren Lohn wieder einbringt. Ich bin auch überzeugt, dass du dir den Antreiber sparen kannst. Ein freier Arbeiter, der ausreichend gelöhnt wird, macht die Sache seines Arbeitgebers zu seiner eigenen. Er kostet weniger, weil er mehr schafft. Das ist übrigens eine Erfahrung gerade bei unseren neuen öffentlichen Arbeiten."

Kambyses schwieg einige Zeit. Pyrrhon drängte ihn nicht. Er war sich klar, dass der Abgesandte der Geschäftsleute überlegen musste, was und wie er seinen Kollegen die Situation erklären sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck und sagte:

"Ich werde versuchen, das, was du gesagt hast, den anderen zu erklären. Aber ich bin überzeugt, dass sie nur mürrisch und gezwungenermaßen in den Löhnen nachgeben. Sie werden den Ideen des Königs sehr, sehr misstrauisch gegenüberstehen. Dieser Jesus hat ihn doch offenbar verrückt gemacht. Aber lassen wir das jetzt und kommen zu einem anderen Problem:
Wir haben ja die Löhne schon angeglichen, aber wir bekommen dennoch nicht genügend Arbeitskräfte. Wir haben einfach in Edessa nicht genug von ihnen. Die öffentlichen Arbeiten nehmen einen zu hohen Anteil davon weg. Die Wirtschaft hat das Nachsehen und ist wehrlos. Wir müssen uns einfach einigen."

"Wenn das so ist, Kambyses, werden wir uns wohl einigen können. Der König wartet zwar mit Ungeduld auf das Ende der Arbeiten, damit er die anderen Pläne in Angriff nehmen kann, aber er wird sich keineswegs vernünftigen Einwänden von dir verschließen. Du kannst also damit rechnen, dass er die Arbeiten verlangsamt und damit die Zahl der Arbeiter verringert. Was aber die Motive des Königs anbetrifft, so sollten deine Leute zur Kenntnis nehmen, dass es auch meine sind. Es widerspricht einfach jeglicher Vernunft, wie jeglicher Vorstellung von Gerechtigkeit, wenn in einer Stadt einige Wenige den gesamten wirtschaftlichen Erfolg für sich beanspruchen und die anderen leer ausgehen lassen. Ihr solltet die Idee, dass der Erste der Diener aller sein muss, ernst nehmen und nicht hinterrücks über den König spotten, als wenn der nur eben irgendeine Marotte kultivierte."

Kambyses, froh, dass er einen, wenn auch kleinen Erfolg aus der Verhandlung mitbringen konnte, versicherte dem Wesir sein volles Verständnis, ja eine gewisse Freundschaft für den König. Er konnte sich aber nicht verkneifen, mitzuteilen, dass er sehr glücklich sei, weil nach der Erklärung des Wesirs nun kein Anlass mehr bestehe, dass man ausländische Arbeitskräfte oder gar Sklaven in die Stadt holen müsse.

Pyrrhon empfand das als eine Drohung. Doch übersah er diese, weil er glaubte, dass es auch nicht im Sinne seines Königs sein könne, wenn die Wirtschaft der Stadt ihm feindlich oder missgünstig gegenüberstehe. 'Warten wir ab!" sagte er sich im Stillen. Laut sagte er: "Kambyses, Wirtschaft und Bürgerschaft unserer Stadt sind aufeinander angewiesen und sollten sich das stets vor Augen halten. Der König sieht sich als Diener aller ohne Ausnahme. Er will eine Gerechtigkeit für alle. Richten heißt für ihn: die Niedergedrückten wieder aufzurichten, den Armen und Kranken neues Leben zu verschaffen, kurz: Das Recht wieder herzustellen."

"Du wirst dem König über unsere Unterredung berichten. Ich möchte mich jetzt verabschieden. Man wartet auf das Ergebnis. Ich hoffe, dass ich Spannungen abbauen kann. Auch ich bin davon überzeugt, dass der Friede in der Stadt erhalten werden muss."

Pyrrhon meldete sich nach diesem Gespräch beim König und teilte ihm alles mit, was Kambyses ihm vorgetragen hatte.

"Er sprach im Namen aller Wirtschaftsbetriebe der Stadt. Das hat er ausdrücklich versichert. Ich glaube ihm das auch."

Abgar äußerte sich nicht gleich. Erst nach einer Weile hatte er seine Gedanken geordnet und fragte:

"Pyrrhon, wie weit sind wir mit den Arbeiten in der Unterstadt?"

Der Wesir berichtete, dass die Arbeiten dort zügig fortgegangen seien. Fertig sei man aber noch nicht sobald, weil es einige technische Schwierigkeiten gegeben habe, da man auf unterirdisches Mauerwerk gestoßen sei. Das stamme wohl aus früheren Zeiten der Stadt. Es müsse mühsam beseitigt werden. damit der neue Kanal einen guten Abfluss bekommen könne. "Daher müssten wir auch die vielen Arbeiter einsetzen. Deren Zahl könnte nach und nach verkleinert werden. Wenn die Unternehmer tatsächlich gerecht entlohnen wollten, würde mir das auch nicht so schwer fallen."

"Ich fürchte, Pyrrhon, wir werden noch häufig mit Problemen der Wirtschaft befasst werden. Sie scheint mir jetzt wie ein großer Organismus, dessen Lebensbedingungen stimmen müssen. Tun sie das nicht, so leiden alle. Die Armen zuerst. Darum müssen wir die Leiter der Unternehmen dafür gewinnen, dass sie sich als Diener aller betrachten und entsprechend handeln. Ich allerdings muss ihnen mehr als bisher klarmachen, dass ich auch ihr Diener bin. Ruf den Kambyses! Er soll, sobald wie ihm möglich, zu mir kommen."

Es dauerte ein paar Tage bis die Unterredung mit Kambyses zu Stande kam, weil der darum gebeten hatte, sich zunächst mit seinen Kollegen beraten zu können. Es gehörte zum Selbstverständnis Abgars, dass er den "Dienst an allen" auch so verstand, dass er seinen Partnern genügend Zeit zum Durchdenken der Probleme oder ihrer Wünsche gab. Er selbst nutzte die Tage dazu, sich mit der Königin Diotima und mit Pyrrhon zu beraten. Als Ergebnis fasste er die Meinung der drei schließlich zusammen:

"Ja, wir werden die vorhandenen Arbeitskräfte so unter Wirtschaft und den Öffentlichen Arbeiten aufteilen, dass die uns alle ernährende Wirtschaft Vorrang hat. Der Kanal in der Unterstadt muss darum etwas langsamer gebaut werden. Kambyses muss mir aber sicherstellen, dass die Unternehmer die Löhne nicht wieder senken. Ich werde ihm auch klarmachen, dass ich einen Ankauf von Sklaven, und auch eine Anwerbung von Arbeitern im Ausland nicht dulden werde. Zuwanderer und Verfolgte, die um Asyl bitten, bleiben aber wie bisher geschützt."

Der Wesir hatte dem Kambyses das Ergebnis der königlichen Überlegungen schon vor der Audienz mitgeteilt und ihn damit sehr beruhigt. Doch hatten ihm die Kollegen auch Wünsche mitgegeben und Befürchtungen geäußert, die er dem König vortragen sollte. Früher hatte ihm so ein Auftrag Spaß gemacht, aber jetzt, nachdem sein König die Grundsätze seiner Politik geradezu auf den Kopf gestellt hatte, konnte er ihn nicht mehr gut einschätzen. Er war nervös.

An der Audienz nahmen auch die Königin und der Wesir teil. Nach dem üblichen Begrüßungszeremoniell forderte der König alle auf, bequeme Sitze einzunehmen. Dann richtete er das Wort an Kambyses:

"Der Wesir hat dir, Kambyses, unsere Ansicht zu dem Problem mit den Arbeitskräften vorgetragen. Du hast sie vermutlich mit deinen Kollegen erörtert. Was meinen die dazu?"

"Im Prinzip haben sie keine Einwendungen. Wir machen dazu den praktischen Vorschlag, dass die Unternehmer täglich die jeweils erforderlichen Kräfte einstellen. Erst danach werden die für die öffentlichen Arbeiten benötigten Männer angeworben."

"Einverstanden, solange es bei den gerechten Löhnen bleibt. Ich will auf jeden Fall sicherstellen, dass die Armen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Und, das müssen deine Kollegen wissen: Ich werde keine Anwerbung fremder Lohnarbeiter oder Einfuhr von Sklaven dulden. Ist das klar? Wir werden also unsere Arbeiten verlangsamen und ihr bekommt die Kräfte, die Ihr braucht. Aber noch eins: Sorgt dafür, dass ihr möglichst immer die gleichen Arbeiter für euch einstellt!"

"Das wird geschehen, glücklicher König. Ich werde das als königlichen Befehl weitergeben."

"Lieber wäre mir, wenn die Herren einsehen würden, dass sie als Erste in ihren Betrieben eine Verantwortung für alle haben. Angefangen bei ihren eigenen Familien bis zu den Kindern ihrer Angestellten und Arbeiter."

"Ich glaube, viele werden das als eine Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit empfinden. Ich auch! Die "Ersten", wie du sie nennst, tragen ja schon das ganze Risiko bei ihren Unternehmungen. Da benötigen sie einen klaren Kopf, der nicht auch noch mit der Sorge für ihre Arbeiter vollgestopft werden darf.

"Ich bin überzeugt, dass diese Sorge sich auch im Geschäftserfolg ausdrücken wird, weil das Wohlergehen des Betriebes dann auch ein Anliegen der Arbeiter sein wird, weil sie ihre Arbeit nicht nur aus Furcht vor dem Aufseher tun. Den kannst du dir sparen, denn aus eigenem Antrieb werden sie besser arbeiten."

Da bin ich sehr skeptisch. Aber gut, ich werde mich dafür einsetzen, dass die Löhne auf der Höhe bleiben, wie sie zur Zeit gezahlt werden. Ich werde auch den Gedanken der Verantwortung für unsere Tagelöhner mit den anderen erörtern. Du musst aber verstehen, dass wir dem Lehrsatz dieses Jesus keine sehr große Bedeutung beimessen. Wir kennen den Mann ja auch gar nicht und wissen nur, dass er von den Römern gekreuzigt wurde. Das ist nicht eben viel und auch keine Empfehlung.

"Ich werde, soweit es in meiner Macht steht, diesen Lehrsatz, wie du ihn nennst, verwirklichen. Ich werde mich verantwortlich fühlen für alle Menschen in Edessa, selbstverständlich auch für die Gewerbetreibenden. Doch werde ich mich besonders für die einsetzen, die an euren Geschäftsgewinnen nur sehr wenig teilhaben.

Kambyses schwieg. Das war seine höflichste Form, seine Skepsis, wenn nicht gar seine Ablehnung zu zeigen. Abgar merkte es. Trotz seiner Schmerzen richtete er sich, soweit wie möglich auf, und rief:

"Ich werde alle meine Mittel einsetzen, um die Krankheiten der Armen zu behandeln und zu heilen. Auf diese Weise werde ich auch euch dienen, weil ich der Wirtschaft Arbeiter wieder zur Verfügung stelle, die sie selbst schon als krank abgeschrieben hatte. Ich werde das aus eigenen Mitteln tun. Aber ich werde euch zeigen, dass es sich für euch lohnen würde, wenn ihr euch an den Behandlungskosten eurer kranken Arbeiter beteiligen würdet."

Abgar rang nach Atem, blieb aber in seiner halb aufgerichteten Stellung, indem er sich mit den Händen an den Lehnen festklammerte. Diotima lief auf ihn zu, um ihm zu helfen. Er wehrte sie ab und fuhr fort:

"Auch die Schule wird gebaut. Dort werden die Kinder der Armen das lernen, was sie brauchen für ein erfolgreiches Leben in unserer Stadt. Ich bin überzeugt, dass ihr eines Tages die Schule freiwillig aus euren Mitteln erhalten werdet, weil ihr merkt, dass diejenigen, die etwas gelernt haben, auch für euch wertvollere Mitarbeiter sein werden. Ich meine Mitarbeiter! Nicht nur Tagelöhner, die allen Launen von Aufsehern preisgegeben sind."

Jetzt ließ sich Abgar wieder in seine Kissen fallen. Diotima tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. Der Wesir forderte Kambyses leise auf, seine Reverenz zu machen und die Audienz als beendet anzusehen. Vielleicht könne man in den nächsten Tagen wieder zusammenkommen. Der Handelsherr schaute bekümmert auf das Gesicht und die geschlossenen Augen seines Königs, den er doch gerne mochte, wenn er auch seine Ansichten über die Behandlung der Arbeiter nicht teilen konnte.

Es war dem König so ähnlich gegangen, wie einem Athleten im Stadion, der nach einem Rennen, das alle seine Kräfte gefordert hatte, zusammenbricht. Er keuchte, sein Herz schlug heftig und beruhigte sich nur langsam, während Diotima seine Hand und Finger massierte. Als er die Augen wieder aufgeschlagen hatte und lächelte, sagte sie:

"Du hast dem Kambyses und seinen Freunden harte Nüsse zum Knacken gegeben. Die Leute halten ihre Arbeiter für Sachen, die man nutzen und wegwerfen kann. Freiwillig werden sie sich nicht von ihren Ansichten trennen und an den Kosten bei Krankheiten beteiligen. Auch die Schule passt überhaupt nicht in ihr Denken."

"Diotima", antwortete Abgar, "ich selbst hätte doch auch ohne meine Krankheit und diesen Jesus nicht im Traume an eine Veränderung in Edessa gedacht. Jetzt aber habe ich wahrgenommen, dass unser Reichtum durch die Kräfte und den Schweiß von Menschen zusammengebracht wird. Das Wort Jesu ist keine Zauberformel, sondern eine Grundregel für das friedliche Zusammenleben der Menschen in unserer kleinen Stadt."

"Ja, das sehe ich ebenso. Pyrrhon nickt auch. Aber ich muss noch einmal in Erinnerung bringen: Ganz richtig wird der Organismus, du hast dieses Wort für unsere Wirtschaft gebraucht, es passt aber auch gut für Edessa als Ganzes. Wirklich richtig wird der Organismus unserer Stadt nur leben können, wenn ihm dieses Leben durch gegenseitige Liebe immer wieder erneuert wird. Ich frage mich allerdings, wie wir das den Unternehmern klarmachen sollen."

"Sicher nur," ließ sich jetzt der Wesir vernehmen, "wenn wir beweisen, dass wir nicht nur Forderungen an die Wirtschaft stellen, sondern auch etwas für sie tun. Dazu bietet sich gerade eine Gelegenheit:

Kambyses hat mir vor seiner Audienz mitgeteilt, dass seine Kollegen besorgt sind durch Nachrichten über verstärkt auftretende Räuber auf den Handelswegen. Er hatte dich bitten wollen, die Banden durch Soldatenstreifen wenigstens von unserem Gebiet fernzuhalten. Er ist aber nicht mehr dazu gekommen. Wenn du willst, werde ich alles Notwendige veranlassen und Kambyses unterrichten."

"Ja, das passt sehr gut. Tu das!"

"Danke. Ich halte deine Entscheidung jetzt für besonders wichtig, weil bei den Kaufleuten offenbar der Eindruck entstanden ist, als wolltest du bei unserer Sicherheit sparen, um mehr Geld für 'milde Gaben an die Armen' zu haben."

Als der Wesir den Raum verließ, nahm er auch den Schreiber mit. Das Königspaar war allein.

"Ich denke eigentlich immerfort an unsere Reform. So kann man wohl unsere Bemühungen schon nennen. Dabei kommen und gehen meine Gedanken. Aber einer meldet sich immer wieder. Weißt du, was wir tun sollten? Das Volk sollten wir an unseren Planungen beteiligen."

"Aber ich habe doch die Kommission gebildet. Das ist doch Beteiligung."

Ja, schon. Aber du selbst hast die Mitglieder ernannt. Das Volk wird sich nicht vertreten fühlen.

"Dein Gedanke schön. Aber er muss gut durchdacht werden. Wir wollen ja nicht eines Tages etwas bereuen müssen, weil wir zwar Gutes gewollt, aber nicht erreicht haben. Ich denke, wir brauchen dafür die Schule besonders dringend, damit die Armen und Unwissenden nicht von den gewitzten Reichen in die Bedeutungslosigkeit gedrängt werden, und wir keine Macht haben, das zu verhindern."

ABGARS HEILUNG

Als Thaddäus in Edessa nach einer Unterkunft für sich fragte, wurde er an Tobias verwiesen. Verschwitzt und verstaubt, dazu ohne Reittier oder Wagen hätte er auch einem weniger erfahrenen Wirt keine Rätsel über seinen Geldbeutel aufgegeben. Tobias erkundigte sich daher zunächst wie immer, doch ohne allzu großes Interesse nach dem Woher und Wohin seines Gastes. Doch als er erfuhr, der komme aus Jerusalem, zog er ihn sofort in ein kleines Zimmer und fragte nach Jesus. Thaddäus erwiderte vorsichtig:

"Meinst du Jesus von Nazareth? Der ist tot."

"Ja, ich weiß. Er wurde von den Römern gekreuzigt."

"Woher weißt du das?"

"Ein gewisser Markus aus Jerusalem kam hier ziemlich abgejagt an, weil er die Verhaftung und Hinrichtung erlebt hatte, und weil er auch um seine eigene Sicherheit gefürchtet hatte. Er erzählte, er sei bei der Verhaftung Jesu unter Zurücklassung seines Gewandes nackt geflüchtet. Nach ein paar Tagen hat er sich in Richtung Antiochia davongemacht. Aber du. Wer bist du?"

"Ich heiße Thaddäus und bin ein Jünger Jesu."

"Dann kannst du mir bestimmt mehr von ihm erzählen. Auch unser König interessiert sich für Nachrichten über ihn. Ich habe strikten Befehl, jede Ankunft eines Reisenden aus Palästina zu melden. Wenn er von dir hört, wird er dich bestimmt vor sein Angesicht rufen lassen. Wie lange willst du hier bei uns bleiben? Wohin geht deine Reise?"

Thaddäus wunderte sich über die Neugier des Tobias. Er wusste nicht recht, ob es dem Toparchen Recht sei, wenn er mit dem Gastwirt über seinen Auftrag in Edessa spräche. Darum blieb er zurückhaltend und antwortete:

"Ich werde wohl einige Zeit hier bleiben. Wohin ich dann weiterreisen werde, kann ich jetzt wirklich noch nicht übersehen."

Tobias spürte die Zurückhaltung seines Gastes. Er respektierte sie und bot ihm vorerst einmal ein Bad an, damit er sich reinigen könne. Zugleich zeigte er ihm sein Nachtlager und wünschte ihm eine gute, ruhige Nacht, wiederholte aber noch einmal den Hinweis auf den Befehl des Königs.

Thaddäus nahm die Angebote des Tobias mit sehr gemischten Gefühlen an. Er hatte unterwegs von der Gastfreundlichkeit der Leute gelebt, die er getroffen hatte.

Jetzt aber nahm er die Leistungen eines Gastwirtes an, der sicherlich eine Bezahlung fordern würde. Andererseits war es ihm auch lieb, dass er vor dem Toparchen gebadet und ausgeschlafen erscheinen konnte. Schließlich erinnerte er sich an die Spatzen, von denen Jesus gesprochen hatte: "Sie säen und ernten nicht, aber der Vater im Himmel ernährt sie doch." Mit diesem Gedanken schlief er bald ein.

Tobias dagegen machte sich unverzüglich auf den Weg zur Residenz. Er wurde auch sofort vorgelassen, obwohl König und Wesir, wie so oft in diesen Wochen, noch beieinander waren, um ein neu aufgetretenes Problem zu beraten. Als Tobias seine knappe Meldung gemacht hatte, fragte Abgar:

"Wo ist der Mann jetzt?"

"Er hat ein Bad genommen und sich dann zur Ruhe begeben."

"Was machte er auf dich für einen Eindruck?"

"Der ist keiner, der das Reisen gewohnt ist. Er kam ganz allein und zu Fuß. Bestimmt kein reicher Mann."

"Den möchte ich morgen hier sehen. Du wirst ihn hierher geleiten!"

"Hören und Gehorchen!" antwortete Tobias und war entlassen. "Was hältst du von der Meldung, Pyrrhon?"

"Tobias wäre nicht heute Abend noch gekommen, wenn der Mann zu seinen üblichen Gästen gehört hätte."

"Der wird mir den Schlaf rauben in dieser Nacht!"

"Dann schick einen Diener, damit er sofort hier erscheint!"

"Keinesfalls! Ich habe jetzt monatelang gewartet, so darf es mir auf die paar Stunden nicht ankommen. Diese Monate waren für mich voller Segen."

"Für uns alle, glücklicher König! Ich hoffe auch für die, die es jetzt noch nicht erkennen."

"Sicherlich werde ich nicht viel zum schlafen kommen in dieser Nacht. Ich bin aber überzeugt, dass Jesus sein Wort halten wird. Er ist ein geheimnisvoller Mann. Es könnte doch sein, dass er mich heilen wird, wie er versprochen hat, dass aber das neue Leben für unsere Stadt sich nur langsam durchsetzt. Ich zweifele nicht an Jesu Wort, wenn ich meine, dass es noch ziemlich lange dauern wird bis unsere Unternehmer merken, dass sie es bei ihren Arbeitern mit unersetzlichen Menschen zu tun haben, und nicht mit Sachen. die man beliebig benutzen und wieder wegstellen kann, die man sogar wieder beschaffen kann, wenn sie unbrauchbar werden."

"Ich sehe schon, glücklicher König, das wird eine Nacht des Sinnierens und des Nachdenkens. Jetzt aber sollten wir noch darüber nachdenken, wie wir den Mann aus Jerusalem morgen hier in Empfang nehmen."

"Leider haben wir keine Ahnung, ob er wirklich der ist, den wir erwarten."

Beide machten sich schweigend ihre Gedanken. Nachdem sie dann noch eine Zeitlang das Für und Wider erörtert hatten, einigten sie sich auf einen Vorschlag Pyrrhons. Der übernahm es, noch am Abend eine Kommissionsbesprechung für den folgenden Morgen zusammen zu rufen. Tobias sollte angewiesen werden, erst auf eine besondere Nachricht hin mit dem Mann aus Jerusalem in der Halle der Residenz zu erscheinen. Abgar sollte dann in einem vorsichtigen Gespräch herauszufinden versuchen, ob der Mann der versprochene Sendbote Jesu sei oder nicht. Auf alle Fälle solle im Nachbarraum eine gute Mahlzeit für alle bereitgehalten werden.

Der Wesir zog sich sofort zurück, um die nötigen Anordnungen zu treffen. Der König ließ sich in das Schlafgemach tragen. Ehe ihn die Träger dort abgesetzt hatten, sprudelte Abgar schon die Kunde von dem Mann aus Jerusalem heraus. Diotima wurde aber sehr besorgt, als sie die Tatsachen hörte, die zu dem Optimismus des Königs geführt hatten. Nicht einmal den Namen des Mannes wusste Abgar.

"Er hat gesagt, er sei ein Jünger Jesu!"

"Abgar, Jesus hat uns, ob er das beabsichtigte oder nicht, auf einen Weg geführt, den wir gerne weitergehen wollen. Wir sollten uns fest vornehmen, diesen Weg nicht zu verlassen. Auch, wenn der Mann nicht der ist, den wir erwarten. Selbst, wenn der überhaupt nicht kommt. weil.... Ja. können wir uns die Gründe dafür überhaupt alle vorstellen? Das Versprechen Jesu ist für uns fruchtbar geworden. Ist das nicht schon ein Wunder?"

Sie sprachen noch lange an diesem Abend miteinander, ehe sie schließlich doch einschliefen. Mitten in der Nacht wurde Abgar wach. An ihrem Atem merkte er, dass auch Diotima nicht schlief Darum sprach er sie an:

"Erinnerst du ich noch an den Traum, den ich dir am Anfang dieser Wartezeit erzählt habe. Ich hin ganz sicher, wir sind bald am Ziel."

Damit schlief er ein und erwachte erst, als die Bedienung mit Wasser und Handtüchern kam.

Noch während sie ihre Morgenmahlzeit einnahmen, wurde der Wesir angekündigt. Er wollte melden, dass alles, wie vereinbart organisiert sei.

"Ich habe allen gesagt, es bereite sich etwas Besonderes vor. Nun werden sie alle kommen."

Auf dem Weg zur Residenz erzählte Tobias seinem Gast so viel über die Gebräuche am Hofe, wie sie auch von einem Fremden beobachtet werden mussten.

"Da brauchst du nicht viel zu wissen. Wenn du den Saal betreten hast, machst du eine Verbeugung. Wenn du den König ansprechen musst, so nenne ihn beim ersten Mal: 'Glücklicher König'. Das ist eigentlich alles. Ich werde aber die ganze Zeit bei dir sein."

Tobias hatte sich schon vergewissert, dass sein Gast auch ein Jude war, und dass er Thaddäus hieß. Er blieb aber ebenfalls zurückhaltend und erzählte ihm nichts über die Krankheit des Königs und die Vorgänge in Edessa während der letzten Monate.

"Du nennst euren Herrscher 'König'. Ich dachte bisher, er sei ein Toparch." fragte Thaddäus.

"Ja, das ist hier so Sprachgebrauch. Ich glaube Herodes wird auch 'König' genannt und nicht 'Vierfürst'"

Während ihrer Gespräche waren sie bald vor der Residenz angekommen. Die Wachen öffneten die Tore und Thaddäus konnte den großen Saal und darin ein Menge Menschen erkennen, die offenbar bis zu diesem Augenblick heftige Dispute geführt hatten. Die Unruhe wich aber schnell einer gespannten Stille, als der Diener an der Tür "Tobias und Begleiter sind hier!" rief.

Beide machten eine tiefe Verbeugung. Dann ging Thaddäus auf den König zu. Tobias folgte ihm in kurzem Abstand. Vor dem erhöhten Sessel Abgars blieben sie stehen und Tobias sagte mit lauter Stimme:

"Dieser Mann ist Thaddäus. Er kommt aus Jerusalem. Du, glücklicher König, wünschtest ihn zu sehen."

"Danke. Tobias. Bleib bitte zu meiner Verfügung." Dann wandte er sich Thaddäus zu:

"Nun du, Thaddäus! Sei willkommen! Tobias hat mir gesagt, du seiest ein Jünger Jesu gewesen."

"Ich bin es noch, glücklicher König. Ich komme ja in seinem Auftrag."

"Wie das, ich habe doch gehört, er sei gekreuzigt worden."

"Ja, du bist gut unterrichtet. Aber er hat am dritten Tag nach seinem Tod das Grab wieder verlassen und lebt. Wir haben ihn gesehen und auch mit ihm gesprochen und gegessen."

Abgar hatte es die Sprache verschlagen. Im Saal erhob sich ein gedämpftes, unmutiges Gemurmel. In diesem kritischen Augenblick erhob sich Diotima, trat von hinten an den Sessel des Königs heran und flüsterte:

"Erinnerst du dich an Jonas, der uns zum ersten Mal etwas von Jesus erzählte wie der einen Toten wieder lebendig gemacht hat. Ananias hat uns Ähnliches berichtet. Es ist noch zu früh. jetzt schon über Thaddäus zu urteilen."

Abgar nickte und fragte weiter:

"Wie lange bist du als sein Jünger bei Jesus gewesen?"

"Viele Monate, fast von Anfang an."

"Welchen Auftrag hat dir Jesus gegeben und wann war das?"

"Es war nicht lange vor seinem Tod, als wir schon unterwegs waren nach Jerusalem. aber noch am Seeufer, da kam eines Abends ein Bote mit einem Brief. Von hier, aus Edessa."

"Weißt du, was in dem Brief gestanden hat?"

"Ja, aber nicht wörtlich. Jesus hat ihn uns allen vorgelesen, weil er sich über ihn sehr freute. In dem Brief hast du, glücklicher König, unseren Herrn gebeten, zu dir zu kommen, um dich von einer Krankheit zu heilen."

"Und da hat Jesus dich beauftragt, hierher zu kommen?"

"Nein, so nicht. Er hat deinem Boten gesagt, er könne nicht kommen, weil er noch eine wichtige Aufgabe in Jerusalem zu erfüllen habe. Er würde einen Jünger senden, um dir Gesundheit und neues Leben zu bringen."

"Und wie ging das nun zu mit deiner Sendung?"

"Ich sagte ja, dass Jesus lebt. Gott hat ihn auferweckt vom Tode. Wir haben ihn erlebt. Zuletzt hat er uns zusammengerufen, hat sich von uns verabschiedet und ist zum Vater in den Himmel aufgenommen. Uns aber hat er seinen Geist gelassen, den haben wir alle gespürt. Der Geist hat mich an das Versprechen erinnert, das Jesus damals am See gegeben hat. So wurde ich berufen, hierher zu gehen, um dir und deiner Stadt neues Leben zu bringen."

Diotima, die noch immer dicht bei Abgar stand, flüsterte: "Er ist es! Ganz bestimmt, er ist es!" Auch Pyrrhon hatte keinen Zweifel mehr und hob die Hand als Zeichen, dass der Mann aus Jerusalem seiner Meinung nach der angekündigte Bote Jesu sei.

Da erhob sich Abgar aus seinem Sessel und ging mit sicherem Schritt auf Thaddäus zu und hieß ihn mit einer Umarmung willkommen.

Als erste erfasste Diotima, was da geschehen war. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, machte die wenigen Schritte auf Abgar zu, nahm ihn, der eben Thaddäus aus seiner Umarmung entlassen hatte, in ihre Arme und küsste ihn, ohne Rücksicht auf all die vielen Augen.

Pyrrhon hatte zuerst eine Bewegung auf Abgar zu gemacht, weil er glaubte, ihm helfen zu müssen. Als er aber verstanden hatte, dass jetzt wirklich das geschehen war, worauf sein König und er so lange gewartet hatten, da gab der praktische Mann den Dienern das Zeichen, die Speisen herein zu tragen.

Das war freilich nicht so einfach, denn all die Leute, die Zeugen von Abgars überraschender Heilung geworden waren, drängten sich zu ihm, um ihm zu gratulieren. Es war ein lautes aber frohes Stimmengewirr. Diotima ging auf Thaddäus zu, der wie sie selbst an den Rand des Geschehens gedrängt war, reichte ihm die Hand und führte ihn zu einem Platz, wo er später zwischen ihr und dem Wesir, dem König gegenüber an der Tafel sitzen konnte.

Dort fragte sie zunächst nach dem Verlauf seiner Reise. Dabei erfuhr sie zu ihrem Staunen, dass er nicht einmal einen Geldbeutel sein eigen nannte. Sie nahm sich vor, Abgar sobald wie möglich daraufhin zu weisen.

Langsam tastete sie sich dann zu den Fragen nach Jesus vor: Warum er gekreuzigt worden sei. Wer seine Feinde gewesen seien. Ob er denn die Menschen zu Gewalttaten aufgerufen hätte. Nach dem, was sie von ihm gehört hätte, könne sie sich das gar nicht vorstellen.

Thaddäus spürte, dass hinter dieser scheinbaren Neugier, etwas anderes steckte. Er beantwortete zwar höflich alle diese Fragen. Aber sobald es ihm möglich schien, redete er Diotima an:

"Glückliche Königin, aus allen deinen Fragen höre ich eine einzige: Wer war Jesus?" Diotima nickte und er fuhr fort: "So aber ist die Frage falsch gestellt, denn sie führt folgerichtig und letztlich nur zu seinem Grab. Wir haben auch einige Wochen gebraucht, bis wir nun wissen, dass die Frage richtig lauten muss: Wer ist Jesus? Denn er lebt ja, und er wird niemals wieder sterben."

Die beiden wurden in ihrem Gespräch unterbrochen, weil auch Diotima, die Glückwünsche zuerst von ihren Dienerinnen und dann vom Wesir und allen anderen annehmen musste.

Auch Thaddäus erfuhr großes Interesse. Zu seinem Erstaunen nicht so sehr, weil man etwas über Jesus hören wollte, sondern wegen der bei ihm vermuteten Wunderkraft. Hippokrates versuchte sogar ein Gespräch unter Medizinern, wurde aber zu seinem Leidwesen vor der Erreichung seines Kernpunktes durch den König gestört, der alle einlud an der Tafel Platz zu nehmen und mit ihm ein Freudenfest aus Anlass seiner Genesung zu Ehren seines Gastes Thaddäus zu feiern.

Dabei gab ihnen ihr König einen weiteren Grund zur Verwunderung. Er nahm nämlich den Dienern die Schüsseln aus den Händen und bediente seine Gäste selbst. Als alle versorgt waren, nahm er das Wort zu einer kleinen Ansprache und sagte:

"Ich bedanke mich für die vielen Glückwünsche, die mir nach meinen ersten Schritten von euch entgegengebracht worden sind, ich spüre, dass wir uns alle in den letzten Wochen der Zusammenarbeit näher gekommen sind. Aber ich habe ganz besonders dem Thaddäus zu danken, dass er sich auf den Weg zu mir gemacht hat, um uns von Jesus neues Leben für die Stadt und für mich Heilung zu bringen. Durch ihn erfahren wir heute, dass der nicht nur gekreuzigt worden ist, sondern am dritten Tag danach sein Grab verlassen hat und mit seinen Jüngern zusammengekommen ist. Jesus hat den Thaddäus geschickt. Jesus hat mich geheilt. Jesus wird uns neues Leben bringen. Er hat alle seine Versprechungen gehalten.
Ihr habt euch eben gewundert, dass ich und nicht die Diener euch die Speisen angereicht habe. Wie die meisten von euch wissen, hatte ich schon vor einigen Wochen durch Ananias ein Wort von Jesus erfahren, das mir ein Schlüssel für eine ganz neue gerechte Welt zu sein scheint. Es lautet: Der Erste sei der Diener aller. Wenn ich Euch heute Abend beim Essen persönlich bedient habe, so möchte ich das als Symbol für meinen Ernst verstanden wissen, mit dem ich diese Weisung Jesu für unser aller Zusammenleben in Edessa annehme. Nun lasst euch das Essen und die Getränke schmecken und seid mit mir und meiner Königin fröhlich!"

Das ließen sich die Gäste nicht zweimal sagen. Bald war im Saal eine muntere und glückliche Stimmung. Aber auch auf der Straße sammelten sich schon nach kurzer Zeit immer mehr Menschen, die nach ihrem König riefen. Denn natürlich hatte sich die Nachricht von der plötzlichen Heilung Abgars wie ein Lauffeuer in der kleinen Stadt verbreitet. Alle wollten nun den König sehen. Er musste ihnen zeigen, dass er wirklich wieder richtig gehen konnte. Nur Thaddäus blieb im Hintergrund. weil er keinesfalls den Eindruck erwecken wollte, er habe diese Heilung bewirkt Er wollte Jesus in Edessa verkünden und nicht sich selbst.

JESUS IN EDESSA

Es dauerte Stunden bis sich der Trubel auf der Straße gelegt hatte. Auch im Palast war es nun stiller geworden. Alle hatten begriffen, dass ihr König völlig geheilt war und mancher begann auch zu ahnen, dass eine neue Zeit für Edessa gekommen war. Nur wenige aber wussten, dass diese Heilszeit schon vor Wochen angefangen hatte. Damals als Abgar einem Fremden aus Galiläa mit Namen Jonas Vertrauen schenkte und dadurch zum Vertrauen auf Jesus gekommen war. Sie wussten auch, dass Abgar dieses Vertrauen gegen sich selbst und gegen seine Umgebung hatte verteidigen müssen, und dass er an ihm festgehalten hatte, selbst als die Nachricht vom Tode Jesu nach Edessa gedrungen war.

Langsam hatte sich die Halle geleert. Die Menschen wollten nun auch zuhause von dem erzählen, was sie hier erlebt hatten. Micha grübelte, was das alles zu bedeuten habe. Gottesknecht. Heilung. War Jesus vielleicht doch der Messias? Musste er selbst anders denken lernen? Hippokrates quälte die Sorge um seine Praxis. Wer würde noch zu ihm kommen wenn Thaddäus ohne seine Wissenschaft und ohne seinen Gott Äskulap heilte? Gracchus freute sich mit seinem König über die Heilung und hoffte, der werde in seiner Politik fortfahren und sie zu einem glücklichen Ende führen. Kambyses war zu seinem nicht eingestandenen Arger über Abgars Heilung vor allem besorgt, der König könne nun mit noch größerem Eifer seine Ideen verfolgen und damit das Geschäftsleben in Edessa ernsthaft bedrohen.

Der Wesir hatte die Beleuchtung des großen Raumes fast vollständig löschen lassen. Nur noch wenige Lampen beleuchteten die kleine Gruppe Abgar und Diotima, Pyrrhon und Thaddäus.

"Du musst nicht denken, Thaddäus, ich hätte dich vollkommen vergessen. Aber meine Freude und die Freude der Leute hier und auf der Straße brauchte einfach einen Ausdruck, und der brauchte wiederum seine Zeit. Ich hoffe, Jesus wäre mir nicht böse, wenn er hier wäre."

"Er ist hier, glücklicher König. Er hat gesagt: Wenn zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, dann bin ich dabei. Also ist er unter uns. Er nimmt teil an unserer Freude. Sie ist sein Ruhm, seine Ehre."

"Ich glaube, das verstehe ich noch nicht. Vielleicht müssen wir Jesus noch ein bisschen besser kennen lernen. Thaddäus kannst du uns dabei helfen?"

"Manches wisst Ihr aber doch schon durch Ananias. Er hat doch bestimmt etwas erzählt. Es wäre schade, wenn ich berichtete, was bekannt ist."

"Pyrrhon. du kannst das doch zusammenfassen. Ich bin etwas mitgenommen von dem Trubel."

"Ich will's versuchen." Nach einer Pause, um sich alles in die Erinnerung zurück zu rufen, fuhr er fort: "Ananias hat uns das berichtet, was ihm die Leute in den Wirtshäusern erzählt haben. Danach ist Jesus im Lande umhergezogen und hat das Reich Gottes verkündet. Dabei hat er Menschen, die krank waren, geheilt. Sogar Tote hat er lebendig gemacht. Wir konnten uns darum nicht erklären, warum er von den eigenen Landsleuten abgelehnt wurde. Aus Ananias Bericht schließe ich, dass er in seinen Predigten ein Bild dieses Gottesreiches gezeichnet hat, das manchen Leuten nicht passte. Dazu rechne ich auch die Regel oder Empfehlung, der Erste solle der Diener aller sein. Wir wissen von Micha, dass man bei den Hoffnungen für die Zukunft eures Volkes eher an kriegerische Siege, an politische Macht für das Judenland gedacht hat. Ferner hat Ananias auch von Predigten Jesu berichtet, die so eine Art von Prophezeiungen enthalten haben wie: 'Die Mächtigen stürzt er vom Thron' und 'selig sind die Hungernden, die Friedfertigen, die Barmherzigen, die Gerechtigkeit wollen'. Ich schätze, dass er sich damit so viele Feinde zugezogen hat, dass er ihnen nicht entrinnen konnte."

"So sieht Jesus, aus Edessa betrachtet, also aus. Wir, die wir damals schon seine Freunde waren, haben trotz der vielen Streitgespräche, ja trotz seiner Ankündigungen von Leiden und Tod nie recht an die Feindschaft geglaubt. Für mich war er mehr der Freund, der Wege wies, die wir alle gehen konnten. Wege ohne Verbote und Gebote, wie sie unsere Priester verkündeten, die aber keiner wirklich einhalten konnte. Wir liebten ihn wegen seiner Einfachheit, seiner Wärme, seiner Friedensliebe. In seiner Person schien sich uns Jahwe selbst zuzuneigen."

"Das hört sich an, als wenn du jetzt anders dächtest."

"Nein ganz und gar nicht. Nur waren es ein paar böse Tage für uns, als wir uns eingestehen mussten, dass wir weggelaufen sind, als er festgenommen wurde, dass einer von uns Handlanger seiner Feinde geworden war. Umso herrlicher war es, als wir ihn dann wiedersahen und er uns nicht verdammte, sondern glücklich machte."

"Viel leicht kannst du uns das erzählen."

"Damals, als Ananias uns traf, befanden wir uns schon auf dem Wege nach Jerusalem. Dort kamen wir ein paar Tage später an. Jesus wurde von vielen Menschen begrüßt, die anschließend eine Demonstration veranstalteten und ihn als Sohn Davids und als Messias feierten. Vielleicht hat diese Demonstration auch die Tempelpriesterschaft so erschreckt, dass sie seinen Tod beschlossen und nach einem politisch gangbaren Weg suchten, dem genügend Menschen zustimmen würden. Jesus kannte die Gefahr und in den folgenden Tagen ging er ihr dadurch aus dem Wege, dass er in Bethanien, also außerhalb der Stadt übernachtete. Bei Tage war er im Tempel und predigte frei. Außer einer Provokation, mit der er aber gut fertig wurde, geschah von seitens der Priesterschaft nichts. Auch nicht, als er die Händler und Geldwechsler unter persönlichen Einsatz aus dem Tempel warf. Jesus sah sich einer Mauer eisigen Schweigens gegenüber."

Thaddäus machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort:

"Du musst dir vorstellen, glücklicher König, Jesus wollte ja dem ganzen Volk, vom Hohen Priester bis zum letzten Bettler die frohe Botschaft vom Gottesreich bringen. Doch die Priester hielten sich gleichsam die Ohren zu. Vielleicht hofften sie, ihn so abzudrängen, sich totlaufen zu lassen. Da bot sich ihnen Judas, einer von uns Jüngern, als Helfer an. Warum der das tat, kann man nur vermuten. Ebenfalls, ob Jesus es gewusst hat, oder ob er es sogar gewollt hat.
Tatsache ist, dass er in der Nacht dann nicht wieder nach Bethanien, sondern in der Nähe der Stadt in einen Ölgarten ging. Dort lagerten wir alle zusammen. Jesus bat uns, mit ihm und für ihn zu beten. Obwohl es offenbar war, dass er Angst hatte und eine Katastrophe auf sich zukommen fühlte, ließen wir ihn damit allein und schliefen schlicht ein.
Als wir erwachten, sahen wir bewaffnete Männer mit Fackeln, die von Judas zu Jesus geführt wurden. Sie nahmen ihn fest und führten ihn ab."

"Markus hat uns erzählt, er sei auch dabei gewesen, und habe sich der Verhaftung nur dadurch entziehen können, dass er den Kerlen sein Gewand gelassen habe und nackt geflüchtet sei."

"Vielleicht ist er uns heimlich gefolgt und ist dabei mit den Soldaten zusammengetroffen. Jesus hat sich den Soldaten ohne Widerstand ergeben. Er hat nur gebeten, uns laufen zu lassen. Die Soldaten hatten wohl keinen Befehl, auch uns zu fangen. So konnten wir uns verkriechen und haben Jesus seinen Weg allein gehen lassen. Nur zwei von uns, Simon und Johannes, trauten sich zu beobachten, was geschah. Simon, der von Jesus immer "der Fels" genannt worden war, konnte sich jedoch nur mit Mühe, der Verhaftung entziehen, indem er unter Eid erklärte, dass er Jesus gar nicht kenne. Johannes ist der Einzige, der bei der Kreuzigung dabei war. Der Einzige von uns Männern. Die Frauen, auch seine Mutter, blieben bei ihm, sahen wie Pilatus, der römische Statthalter, ihn, der schon aus vielen Wunden blutete, dem Volke vorstellte, vielleicht um ihn zu retten. Sie hörten, wie die vom Hohen Rat bestellten Schreier seinen Tod forderten. Sie begleiteten ihn zur Hinrichtungsstätte und sahen, wie er qualvoll starb."

Thaddäus schwieg. Seine Zuhörer fühlten seine innere Bewegung. Mochte das nun die grausame Vorstellung sein, die wieder vor seinen geistigen Augen erschien, oder die Scham, Jesus in der bittersten Not allein gelassen zu haben. Sie respektierten seine Gefühle und ließen ihm Zeit.

"Jesus wurde dann ganz hastig beigesetzt, weil es schon ziemlich spät war, und weil am Abend der Sabbat begann. Er bekam ein Felsengrab, das ein vornehmer Mann und heimlicher Jünger für sich selbst hatte anlegen lassen. Nach dem Sabbat ging ein anderer Jünger, er heißt Kleophas, und ich aus der Stadt. Wir wollten in ein Dörfchen namens Emmaus, wo wir hofften zuerst einmal sicherer zu sein, dann wollten wir in unsere Heimat und an unsere Arbeit gehen. Zwar hatte es ein Gerücht gegeben, dass Frauen schon am frühen Morgen am Grab gewesen seien und es leer gefunden hätten. Das haben wir als Geschwätz abgetan.
Als wir unterwegs eine kleine Rast machten und natürlich traurig über Jesus und seinen Tod redeten, da kam einer dazu und fragte uns, warum wir so bedrückt wären. Na, wir waren erstaunt, dass einer nicht wusste, was mit Jesus geschehen war. Und da fing der Fremde an, uns zu erklären, dass dieses Leiden und dieser Tod, doch schon bei Moses und den Propheten vorhergesagt worden sei. Jesus hätte das alles leiden und dann so sterben müssen, weil er seiner eigenen Verkündigung treu bleiben wollte. Liebet eure Feinde, hatte er gepredigt. Diener aller zu sein, war seine Richtlinie. Er wurde Diener auch für seine Feinde. Er blieb Diener auch für die, die ihn töten ließen. Wie ein Sklave am Kreuz.
Wir konnten das alles nicht so richtig verstehen. Aber manches von dem, was er sagte, kam uns vor, als wenn es Jesus spräche. Darum luden wir ihn ein, mit uns in unser Quartier zu kommen. Es war schon ziemlich spät. Wir aßen dann zusammen und, als er nun das Brot nahm, es brach, und uns beiden reichte, da erkannten wir Jesus. Er lebte! Die Frauen hatten Recht gehabt. Aber ehe wir ihn als unseren Freund und Lehrer anreden konnten, sahen wir ihn nicht mehr. Doch nun fühlten wir uns nicht mehr verlassen wie vorher. All unsere Sorgen und Ängste klappten in sich zusammen. Jesus lebt und er wird nicht wieder sterben. Niemand kann ihm mehr etwas anhaben. Das alles wurde uns so plötzlich klar, wie wenn ein Blitz eingeschlagen hätte. Wir hatten keine Ruhe und keine Angst mehr. Ohne zu zögern brachen wir wieder auf und wanderten so schnell wir konnten nach Jerusalem zurück. Unsere dort zurückgebliebenen Freunde sollten diese Kunde auch erfahren und sich freuen können. Als wir aber dort angekommen waren, erfuhren wir, dass nicht nur die Frauen die Wahrheit gesprochen hatten. Auch Simon, der doch unter Eid abgestritten hatte, ihn zu kennen, hatte ihn gesehen und mit ihm gesprochen. In den nächsten Tagen und Wochen haben ihn noch viele von uns gesehen. Manchmal sogar waren es viele auf einmal. Es gibt keinen Zweifel: Jesus lebt."

"Aber er hat sich nicht bei Pilatus oder bei eurem Hohen Priester oder bei Herodes vorgestellt."

"Damit haben wir natürlich auch gerechnet. Jeden Morgen habe ich gedacht: heute kann es geschehen. Aber es kam ganz unerwartet anders. Wir erinnerten uns an Bilder wie: 'Eine Saat wächst ganz leise und langsam. Niemand kann sie aus der Erde ziehen, um ihre Reife zu beschleunigen'. Oder: 'Das Salz das einer Speise beigemischt ist, tut seine Wirkung, auch ohne dass es jemand sehen kann. Ihr seid das Salz der Erde! Unter die Menschen gemischt sollt Ihr wirken! Oder: 'Das Reich Gottes ist wie ein Samenkorn. Aus ihm wächst leise und heimlich ein Baum so groß, dass die Vögel darin nisten können'. Mit solchen und ähnlichen Vergleichen hatte Jesus vom Kommen des Gottesreiches gesprochen. Wir begannen nach und nach zu begreifen, dass wir, als seine Jünger. sein Werk in seinem Geist fortsetzen, seine Verkündigung wahr machen und das 'Reich Gottes" verwirklichen sollten. Darum bin ich jetzt hier."

"Abgar und Pyrrhon," nahm jetzt Diotima das Wort, "Wir haben doch hier ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Gestützt auf ein einziges Wort Jesu und auf das Lied des Jesaja haben wir den Schreck über den Tod Jesu überwinden können. Es war sein Geist, der uns dazu befähigt hat, den Aufbau eines glücklichen Edessa zu beginnen."

Alle schwiegen. Diotima sah Thaddäus an, als wenn sie eine Bestätigung von ihm erwartete. Nach einigem Zögern sagte der:

"Ich staune über euren Glauben. Ich freue mich, dass ich hier bin und ich verspreche, euch zu helfen, das Vertrauen auf Jesus fest zu begründen. Nur bedenket, dass Jesus selbst für sich ein Gleichnis gebraucht hat. Er hat gesagt, er sei der Weg, auf dem wir ihm folgen sollten. Wenn wir das festhalten, dann werden wir in unserer Zukunft nicht nur Frieden und Freude erwarten, sondern auch Widerspruch, Feindschaft und Tod. Dem Glaubenden sind das die Geburtswehen einer Neuen Welt."

Wieder schwiegen alle nachdenklich. Dann sprach Thaddäus weiter:

"Ich bin an diesem, heutigen Tage einen weiteren Weg gegangen als in den Wochen von Jerusalem bis hierher. Ich habe Jesus hier gefunden, wo ich ihn glaubte hinbringen zu müssen."

Thaddäus schwieg. Er schloss die Augen und presste die Lippen zusammen. Dann entschloss er sich und sagte:

"Glücklicher König, ich möchte euch noch ein Geheimnis anvertrauen."

"Sprich, wir hören!" ermunterte ihn Abgar.

"In Jesu Namen lasst uns beginnen mit dem Gebet, das er mit uns zu beten pflegte.
Vater, dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Gib uns täglich unser Brot, das wir brauchen.
Und erlass uns unsere Sünden:
denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Und führe uns nicht in Versuchung."

Die drei erkannten die Worte wieder. Sie freuten sich über sie, wie wenn sie unverhofft alte Freunde wiedergefunden hätten. Thaddäus betete weiter:

"Gepriesen bist du, Herr, für das Brot. Du hast das Korn auf den Feldern wachsen lassen. Der Bauer, der Müller, der Bäcker haben gearbeitet, damit wir es auf unserem Tisch haben.
Gepriesen bist du, Herr, für den Wein. Du hast die Trauben wachsen lassen. Winzer und Kellermeister haben daraus den Wein zu unserer Freude gemacht."

Thaddäus gab ihnen Zeit über diese Worte nachzudenken, dann griff er mit einer feierlichen Bewegung in den Brotkorb. der auf dem Tisch stand, entnahm ihm ein Stück und begann zu berichten:

"Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch."

"Thaddäus. was sagst du da? Hat sich Jesus nicht nur kreuzigen lassen, sondern seinen Leib für uns zur Nahrung erklärt?"

"Ja, so ist es. Sein Dienst an uns Menschen beginnt schon bei der Nahrung, denn er hat damals ausdrücklich gesagt: Tut dies zu meinem Gedächtnis!"

Thaddäus gab nun jedem ein Stückchen Brot. Alle aßen. Danach berichtete er weiter:

"Ebenso nahm er nach dem Mahle auch den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies. sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis"!

Thaddäus ließ jeden aus dem Kelch trinken und trank selbst auch. Dann fuhr fort zu sprechen:

"Weil Jesus uns dieses Zeichen gegeben hat, dürfen wir fest glauben, dass wir, sooft wir von diesem Brot essen und aus dem Kelch trinken, den Tod des Herrn verkünden und seine Auferstehung preisen bis er kommt."

"Bis er kommt?" entfuhr es Abgar.

"Ja. Jesus wird wiederkommen. Als er vor unseren Augen zum Vater aufgenommen wurde, da hinterließ er uns das Versprechen, er werde wiederkommen als Richter, der die Welt vollenden wird."

Wieder trat eine nachdenkliche Stille ein. Thaddäus beendete sie nach einiger Zeit:

"Wenn Jesus nach seiner Auferweckung zu uns kam, so grüßte er uns oft mit den Worten: Der Friede sei mit Euch! Diese Worte sind auch der Gruß seiner Freunde untereinander geworden."

Thaddäus stand auf und umarmte jeden Einzelnen mit den Worten: "Der Friede Jesu sei mit dir!"

Nach seinem Beispiel gab jeder jedem anderen den Gruß weiter. So hatte sich unter dem Frieden Jesu in Edessa eine erste Gemeinde gebildet. Alle vier waren guten Mutes, dass es nicht bei diesem Anfang bleiben würde.

Als sie sich wieder gegenüber saßen, und jeder ein Leuchten der Freude in den Augen der anderen erkennen konnte, fühlten sie sich wie eine Einheit, die sie glücklich machte.

Diotima drückte aller Gefühle aus: "Wir sind heute einen weiten Weg zusammen gegangen, der uns Hoffnung auf eine schöne Zukunft gibt. Jetzt aber sollten wir zur Ruhe gehen. Ich glaube, die haben wir nötig. Thaddäus, dich bitte ich, unser Gast zu sein. Ich habe alles vorbereiten lassen."

DIE SAAT

Thaddäus blieb noch viele Jahre in Edessa.

Wenn die Leute Feierabend machten, erzählte er ihnen von seinem Leben mit Jesus. Dass der ganz einfach gelebt habe, obwohl er doch mächtig gewesen sei und viele Kranke geheilt hätte. Dass er das Reich Gottes verkündet hätte, in dem die Unterdrückten befreit sein und den Mächtigen alle Gewalt genommen werden würde. Er zeigte Ihnen, wie der König Abgar versuchte, dieses Gottesreich in Edessa einzuführen, weil er Jesus glaube und jetzt als Erster in der Stadt der Diener aller sein wolle. Er habe doch schon angefangen, für die Armen, die Witwen und Waisen, die Kranken und Alten zu sorgen. Nach und nach lösten sich die Menschen aus ihren überkommenen Vorstellungen von der Willkür der Herrscher und Götter, denen sie sich durch das Schicksal ihrer Geburt ausgeliefert und unterworfen fühlten.

Thaddäus besuchte die Kranken und Aussätzigen und machte ihnen Hoffnung, wenn er erzählte, dass Gott gerade die Kranken besonders liebe, und dass die Sterbenden von ihm zu sich aufgenommen würden und nicht in eine dunkle und grausige Unterwelt stürzen müssten, ja dass manche Menschen durch den Glauben an Jesus gesund geworden waren.

Als das Schulhaus fertig war, ging er regelmäßig dorthin und erzählte den Kindern Geschichten von Jesus. Der ein Befreier aller Menschen sei, der gerade die Kinder liebe, der Gerechtigkeit für alle bringen werde. Er erzählte auch von Jahwe, der sein Volk Israel aus Ägypten befreit und es trotz aller seiner Feinde immer wieder gerettet habe. und der jetzt sogar Mensch geworden sei. Jesus sei dieser Mensch, den auch viele Propheten seines Volkes schon vor langer Zeit angekündigt hätten. Er machte den Kindern mit den Geschichten aus der Heiligen Schrift, die sie ja noch nie gehört hatten, große Freude. Besonders natürlich, wenn sie erfuhren, wie Jahwe den Pharao bestrafte, weil er die Israeliten nicht freilassen wollte, oder wie er in einer Wolke unter Donner und Blitz am Sinai seine Gebote verkündete. Die Heldentaten der Richter und der Könige, besonders Davids, spielten sie später auf der Straße. So verstanden sie nach und nach, wie Gott durch Menschen wirkt.

Bei den einfachen Leuten fand Thaddäus schnell Vertrauen. Anders war das zum Beispiel bei Hippokrates. Der Priesterarzt behandelte seine Patienten mit umfangreichen und darum auch teuren Kuren. Natürlich konnten nur reiche Leute die bezahlen und nur solche interessierten ihn. Es kamen genug davon, zumal er auf unbestreitbare Erfolge hinweisen konnte. Die Armen freilich behandelte er nur ungern. Seit aber der König gerade für diese Armen ein Siechenhaus bauen wollte, und nun, nach Thaddäus Ankunft, Abgar auch noch von seiner Krankheit befreit war, die er selbst nicht hatte heilen können, zerfraßen Sorge und Neid sein Herz. Zum Überfluss gab es noch Gerüchte von unerwarteten Heilungen, die dem Wirken des Thaddäus zugeschrieben wurden. Hippokrates beschloss den Stier bei den Hörnern zu packen und lud den Jünger Jesu zu einem Abendessen ein. Schnell brachte er die Unterhaltung auf sein eigentliches Anliegen:

"Das war ja ein eindrucksvoller Erfolg, den deine Kunst bei unserem König errungen hat. Ich wäre dankbar, wenn wir Ärzte untereinander einmal über deine Erfolgsmethode diskutieren könnten. Vielleicht lässt es sich machen, dass wir in Zukunft sogar meine Praxis hier in Edessa gemeinsam betreiben. Bestimmt kommen dann auch Kranke aus anderen Städten, die bei uns Heilung suchen."

"Der Glaube an Jesus war es, der den König geheilt hat." entgegnete Thaddäus. "Es war nicht ärztliche Kunst, schon gar nicht meine."

"Dann erzähle mir doch von Jesus. Vielleicht können wir so den Schlüssel zu seiner Heilkraft finden und nutzen.'

Thaddäus dachte einen Augenblick nach. Dann lächelte er und begann zu erzählen:

"Jesus sprach gern in Gleichnissen. Lass mich dir eines davon mit meinen Worten frei erzählen: Es wohnte in einer Stadt ein reicher Mann, ein Arzt. Der lebte in Saus und Braus. Vor seiner Tür lag ein kranker Mann mit blutenden und eiternden Wunden. Wochenlang hoffte er von Tag zu Tag auf ein Erbarmen des reichen Arztes. Umsonst. In einer Nacht starben nun beide. Der Reiche erlag einem Herzschlag. Dämonen ergriffen seine Seele und warfen sie in die tiefste Unterwelt, wo alle die versammelt sind, die, unbarmherzig gegen einen armen Hilfesuchenden, sogar ihren Eid als Ärzte vergessen haben. Dort herrschen Heulen und Zähneknirschen in den heißen Flammen vergeblicher Reue. Den Armen verließen die Lebenskräfte durch seine Wunden. Er wurde von Engeln in die Gefilde der Seligen getragen. Dort erblickte ihn der Reiche und bettelte, er möge nur seine Zunge mit einem Tropfen Wasser erquicken. Aber die Engel gestatteten es nicht. Zu groß ist die Kluft, die der reiche Mann noch zu seiner Lebenszeit durch sein Verhalten zwischen sich und dem Armen aufgerissen hatte."

Thaddäus schwieg und wartete auf ein Zeichen seines Gastgebers. Der kochte vor Wut über die bösen Wahrheiten, die ihm sein Gast zugemutet hatte. Aber er behielt ein glattes Gesicht, weil er wusste, dass Thaddäus ein Freund des Königs war. So schützte er noch Pflichten und plötzliche Müdigkeit vor. Beim Abschied dankte er für das interessante Gespräch, das wir hoffentlich bald fortsetzen können.

Am Sabbat ging Thaddäus in die Synagoge, wo sich die kleine jüdische Gemeinde der Stadt zum Lob Gottes. zu Gebet und Schriftlesung versammelte. Micha forderte den fremden Gast zur Schriftlesung und -auslegung auf.

Der bat um die Rolle des Propheten Jesaja und wählte das Lied vom Gottesknecht, das auch Ananias im Auftrage Jesu dem König Abgar vorgetragen hatte. Nachdem er die Verse vorgelesen hatte, reichte er die Rolle zurück. Fast jeder im Raum kannte die Bedeutung, die diese Stelle für den König und für Edessa in den letzten Wochen bekommen hatte. So warteten alle gespannt auf die Auslegung. Thaddäus öffnete seinen Mund und sagte:

"Schriftgelehrte und Pharisäer haben darüber gestritten, ob der 'Erwählte Knecht', den Jesaja voraussah, ein Mensch sei, nämlich der Messias, oder ob damit das Volk Gottes gemeint sei. Ich glaube, dass Jesus, dessen Jünger ich bin, dieser Knecht Gottes ist. Er wurde verhöhnt, verleumdet, misshandelt, getreten, gegeißelt und zuletzt gar gekreuzigt. Aber Gott, den er immer, sogar noch am Kreuz, seinen Vater nannte, hat ihm seinen Schutz nicht entzogen, sondern hat ihn auferweckt. Er lebt. Er war bei uns. Mit uns, seinen Jüngern, hat er geredet und gegessen. Angefasst haben wir ihn. Vor unseren Augen ist er eingegangen zu Gott. Aber seinen Geist hat er uns hinterlassen und den Auftrag, in alle Welt zu gehen, und die gute Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes zu verkünden. Ich habe es übernommen, zu euch zu gehen. Denn, wie Ananias hier bezeugen kann, hatte Jesus dem König Abgar versprochen, ihm einen Jünger zu senden, der ihn von seiner Krankheit befreien und ihm neues Leben schenken sollte. Darum bin ich hier. Euer König hat dem Wort Jesu geglaubt, wie Ananias auch bezeugen kann. Er hat aber nicht gewartet, bis Jesus den versprochenen Jünger senden würde, sondern er hat die wenigen Worte Jesu, die ihm Ananias mitgebracht hatte, zur Richtschnur seines Handelns gemacht. Ihr wisst es. Er hat Häuser gebaut für die Aussätzigen. Er sorgt für einen richtigen Abwasserkanal in der Unterstadt. Er gibt den Armen Gärten vor der Stadt. Mit dem Bau eines Siechenhauses und einer Schule hat er begonnen. Die Hälfte seines Schatzes hat er zur Verfügung gestellt, damit keine Familie in Not gerät, wenn sie ein Unglück trifft. Das alles hat der König getan, bevor ich hier angekommen war. Er hat es getan. weil er Jesus geglaubt hat. Auch dann noch, als er die Nachricht erhielt, Jesus sei gekreuzigt. Das Versprechen Jesu, der Geist Jesu, des Knechtes Gottes, gab ihm die Gedanken und die Kraft. Jesus lebt hier in Edessa. Der Same des Gottesreiches ist hier in die Erde gesenkt. Er wird aufgehen und wachsen. Das alles bezeuge ich als gute Botschaft für euch hier, aber auch für die ganze Stadt.'

Die Gemeinde schwieg. Einigen wenigen nur zitterte das Herz, weil sie verstanden hatten, dass der Herr sich seines Volkes erbarmt hatte: sogar in der Zerstreuung in dieser Stadt. Die meisten aber hatten von Kindheit an eine so feste Vorstellung von Jahwe und vom Messias, dass sie nicht im Stande waren, das Kreuz mit in ihr Bild aufzunehmen. Allerdings mochte auch niemand gegen die Botschaft des Thaddäus protestieren, weil man wusste, dass er ein Freund des Königs war.

Micha erwartete ihn vor dem Bethaus: "Thaddäus, ich weiß ja, dass du die Wahrheit gesagt hast. Vieles wusste ich über Jesus schon von Tobias und Ananias. Aber Gott, der Herr, ein Mensch, wie du und ich, und am Kreuz verblutet wie ein Sklave, das geht nicht in meinen Kopf und nicht in mein Herz."

Thaddäus nickte, nahm ihn in die Arme und sagte: "Friede sei mit dir" So gingen sie auseinander und blieben Freunde.

Einige Tage später trat der Hauptmann der königlichen Soldaten auf der Straße an Thaddäus heran, zog ihn mit in eine Schankwirtschaft und bat ihn um ein Gespräch.

"Wie soll ich," begann er, "die Zucht unter meinen Soldaten aufrecht erhalten, wenn ich, wie der König von mir verlangt, als Kommandant meiner Truppe nun Diener aller meiner Untergebenen sein soll? Da werde ich doch zum Hanswurst!"

Die Kameraden, die mit am Tisch saßen, nickten und knurrten Zustimmung. Thaddäus dachte eine Weile nach. Er konnte sich nur schwer in die Welt der Soldaten hineindenken. Langsam, die Worte wägend, begann er dann aber zu sprechen:

"Die Welt der Soldaten ist mir fremd. In meiner Heimat gelten Soldaten bei den meisten Menschen als Helfershelfer der Unterdrückung, ja sogar als willkürliche Räuber und Erpresser. Hier in Edessa aber weiß ich, dass die Soldaten die Handelswege zur Stadt vor Räubern und die Stadt selbst vor Angriffen feindlicher Truppen schützen. Das ist der Dienst, den ihr leistet. Wie euer König seid ihr so Diener aller Bürger. Dafür erhaltet Ihr euren Sold. Mit dem solltet ihr zufrieden sein und nicht etwa auf eigene Faust Schutzgelder von Reisenden und Karawanen fordern."

"Wenn das so gemeint ist, dann wären wir ja ganz zufrieden. Aber steckt nicht noch was anderes dahinter?"

"Vielleicht hat der König auch noch dein Verhältnis zu den deinen Untergeheben gemeint. Auch deren Diener sollte der Vorgesetzte sein."

In den Gesichtern seiner Zuhörer las Thaddäus Verblüffung und Unwillen. Er fuhr daher mit einer beschwichtigenden Handbewegung fort:

Die Vorgesetzten leisten ihren Dienst an ihren Untergebenen besonders dadurch, dass sie sie auf ihre Aufgaben durch Übung ihres Körpers und im Gebrauch der Waffen sehr sorgfältig und streng vorbereiten. Dadurch wird nicht nur die Fähigkeit der Truppe für den Einsatz verbessert, auch das Leben und die Gesundheit jedes einzelnen Soldaten werden besser geschützt. Ein gleiches gilt von Kameradschaft, Befehlstreue und Gehorsam. Je besser diese Eigenschaften von den Vorgesetzten vermittelt und eingeübt werden, umso mehr dienen sie damit ihren Untergebenen."

Thaddäus unterbrach sich hier noch einmal, weil er jetzt zu dem kommen wollte, was ihm auf dem Wege der Nachfolge Jesu zu liegen schien

"Ich erinnere mich da an eine Begebenheit, die ich bei Jesus erlebt habe. Den Namen kennt wohl jetzt jeder in der Stadt."

"Meinst du den, den Soldaten ans Kreuz geschlagen haben? Dann will ich dir sagen, dass wir hier keine Henker sind!"

"Ja, diesen Jesus meine ich. Mit ihm kamen wir eines Tages in ein Städtchen an einem See in meiner Heimat. Da kam ein römischer Hauptmann auf uns zu und sagte: Jesus, einer meiner Soldaten ist schwer krank. Bitte, mach' ihn gesund! Jesus wollte sofort mit dem Hauptmann gehen, da sagte der: 'Herr, es ist doch gar nicht nötig, dass du in mein Haus kommst. Ein Wort von dir wird meinen Soldaten gesund machen. Denn, wenn ich zu einem meiner Leute sage: tu das! dann tut er das. Oder wenn ich sage: komm! so kommt er'. Ich weiß nicht, worüber Jesus mehr staunte, über den Glauben dieses landfremden Hauptmanns an seine Macht, oder über die Sorge dieses Vorgesetzten für seinen Untergebenen. Jedenfalls glaube ich, dass die Truppe für den durchs Feuer ging, weil er sich nicht scheute, ihr Diener zu sein. Sie konnte ja auch das Vertrauen haben, dass er mit seinen Befehlen das Leben seiner Leute nicht unnötig aufs Spiel setzen würde."

Thaddäus schwieg. Der Hauptmann aber rief. "Und du willst noch nie was mit Soldaten zu tun gehabt haben? Ich habe verstanden, was der König und dieser Jesus meinen."

Von diesem Tage an war Thaddäus oft Gast bei den Soldaten. Bei einer solchen Gelegenheit kam es zu einer neuen Frage: "Wir haben erfahren, dass Jesus gefordert hat, jeder solle seine Feinde lieben. Wir sind doch dafür da. alle Feinde zu bekämpfen, ja tot zu schlagen. Wie soll das zusammenpassen?"

"Ihr Soldaten, das ist euer Beruf dürft die Feinde Edessas nicht aus den Augen lassen, ihr müsst aus ihrer Stärke und ihren Bewegungen ihre Absichten feststellen. Diese müsst ihr zu vereiteln suchen, wenn sie der Stadt oder ihren Verbindungen schaden könnten. Möglichst ohne offenen Kampf. Wenn ihr stark genug seid, so zeigt das dem Gegner, damit er sich zurückzieht. Wenn es aber zum Kampf kommt, so seid ihr es uns allen schuldig, tapfer zu sein, um das Leben der Bürger und auch deren Hab und Gut vor Schaden zu schützen."

Er machte eine kleine Pause um sich im Geiste eine Vorstellung von einer solchen Situation und ihren Folgen zu machen. Dann fuhr er fort:

"Ist aber ein Feind verwundet, oder ergibt er sich euch, dann hat er Anspruch auf euren Schutz und eure Fürsorge wie einer von euren Kameraden. Einen wehrlosen Feind zu erschlagen oder einen Verwundeten einfach sich selbst zu überlassen, ist nicht erlaubt. Jeder Gefallene hat Anspruch auf ein Grab. Kein Soldat darf an den Feinden Rache nehmen, für einen Schaden, den sie verübt haben. War das ein Verbrechen, muss der Schuldige vor ein Gericht gestellt werden. Keiner von euch hat das Recht sich an Menschen zu vergreifen, die nicht bewaffnet sind. Alte Leute, Frauen und Kinder dürfen durch euch keinen Schaden nehmen, nur weil sie zum Volk eurer Feinde gehören."

"So, nun wissen wir wenigstens, wohin der Hase läuft, wenn von Feindesliebe gesprochen wird, wenn alle sich daran hielten, wäre manches klarer und besser."

"Vielleicht darf ich noch eines ergänzen: Der beste Sieg ist es, den Feind als Freund zu gewinnen. Das können aber meist die Soldaten nicht allein. Doch können und müssen sie die Politik bei der Bemühung um jede friedliche Lösung unterstützen."

Kambyses hatte sich seit der erstaunlichen und plötzlichen Heilung seines Königs nicht mehr in dessen Nähe sehen lassen. Bisher war es ihm eher wie eine Laune des Königs vorgekommen, als dieser anfing, sich wegen der einfachen Leute und der Armen Sorge zu machen. Jetzt musste er mehr und mehr einsehen, dass der König nicht nur den modischen Sprüchen eines weit entfernt lebenden 'Weisen' folgte, sondern dass dieser Jesus trotz Kreuz und Tod in Edessa an Boden gewann. Auch die anderen Handelsherren spürten schon die Möglichkeit einer Veränderung. Sie konnten noch nicht richtig einschätzen. ob sie sich für die Stadt, das heißt für ihre Geldkästen, günstig entwickeln würde oder nicht. So schickten sie Kambyses vor, um die Lage zu erkunden. Der wandte sich an Thaddäus.

"Du bist doch in die Pläne unseres Königs eingeweiht. Ich muss mal mit dir sprechen, was ihr alles noch vorhabt."

"Ich glaube, du gehörst doch zu der Kommission, Kambyses. Sicher bist du über alles dort geplante voll im Bilde."

Thaddäus merkte, dass Kambyses mit seiner Frage ein Gespräch über die Beweggründe des Königs, also letztlich über Jesus, suchte. Darum nahm er eine Einladung in die Villa des einflussreichen Handelsherren an. Bald schon sah er sich in die luxuriöse Umgebung versetzt, in der sein Gesprächspartner mit seiner Familie wohnte. Ein Diener brachte Erfrischungen und Süßigkeiten.

"Ich möchte nicht lange um den heißen Brei herumreden, sondern lieber gleich zur Sache kommen. Ach, da kommen meine beiden Söhne, Darius und Kyros. Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich sie gerne an dieser Unterredung teilhaben lassen. Wir haben natürlich auch schon in der Familie über unsere Schwierigkeiten mit den Neuerungen des Königs gesprochen. Da sind sie neugierig."

Die beiden jungen Leute begrüßten Thaddäus höflich und nahmen in der Nähe ihres Vaters Platz.

"Ja, also, was uns beunruhigt, sind solche Äußerungen, die Jesus in den Mund gelegt werden, ob zurecht, wirst du uns besser sagen können. Wir hören da: 'Die Hungernden werden beschenkt, die Reichen werden leer ausgehen. Oder: Die Mächtigen stürzt er vorn Thron.' Oder: 'Der Erste sei der Diener aller.' Das kann doch nur heißen, dass wir aus der Stadt verschwinden sollen, denn ich bin reich und in gewissen Grade auch mächtig. Diener aller zu sein, passt mir überhaupt nicht. Was soll das alles?"

Thaddäus brauchte einige Zeit, um sich zu sammeln und um die Besorgnisse seines Gastgebers richtig einzuordnen. Er beschloss, mit dem Diener aller zu beginnen, und hoffte nach der Darstellung dieser Forderung Jesu, dass sich die anderen Fragen leichter lösen würden.

"Lass mich versuchen," begann er schließlich, "dir die Forderung Jesu, der Erste solle Diener aller sein, an einem Gleichnis klarzumachen: Unsere Stadt kann man doch wie einen lebendigen Körper ansehen. Da ist das Herz. Es ist König. Würde man es aus meinem Körper wegnehmen, wäre ich tot. Es dient aber allen anderen Gliedern, weil es ihnen das Blut zuleitet, durch das alle am Leben gehalten werden. Die Augen sind das Licht unseres Körpers. Sie dienen ihm, indem sie uns helfen, uns in der Welt zurecht zu finden. Sieh unsere Hand! Welch ein kostbares Glied! Wir schätzen sie hoch, weil sie unserem ganzen Körper dient.
Du lebst hier in unserer Stadt. Du treibst hier deinen Handel mit aller Welt. Damit nützt du uns allen. Aber du könntest diese Stadt auch ausnützen, ausbeuten, und wenn sie dir keinen Nutzen mehr bringt, wegwerfen wie einen Lumpen. So wie ich vermute, bist du gern hier, hast du hier die Heimat, die du liebst. Ihr dienst du durch deine Unternehmungen, die bestimmt oft Mut erfordern und viel Geld."

"Ja, so ähnlich hat auch schon der König zu mir geredet. Das will ich ja auch einsehen. Aber warum muss ich auch Diener meiner Arbeiter sein? Das will er nämlich auch."

"Ist das Herz Diener der Hand? Oder die Hand Diener des Herzens? Könntest du deine Arbeiter nicht wie deine Hände ansehen. Sie gehören zu dem Körper deines Betriebes, dessen Herz du bist. Das Herz sorgt dafür, dass es den Händen gut geht. Es pumpt ihnen ja das Blut zu, das sie brauchen. So solltest du deinen Arbeitern das zukommen lassen, was sie zu einem sorgenfreien Leben brauchen. Ausreichenden Lohn, Sicherheit und Hilfe bei schwierigen Situationen. Vor allem scheint mir, müsstest du bereit sein, deine Arbeiter anzuhören, wenn sie dir etwas sagen wollen, was ihre Arbeit für dich selbst betrifft. Wie man sie z.B. besser einteilen oder ungefährlicher machen könnte."

"Hm, Ähnliches habe ich den anderen Unternehmern hier auch schon gesagt. Aber ich weiß nicht recht, ob das wirklich etwas bringt."

"Wir könnten es doch probieren, Vater!" rief Kyros. Der reagierte mit einer ungehaltenen Geste, sagte aber nichts. "Kyros hat Recht, du solltest es probieren. Deine Söhne wären dir dabei doch eine gute Hilfe. Sie können unbeschwerter von manchem, was in der Vergangenheit vorgefallen ist, mit deinen Leuten reden und ihr Vertrauen gewinnen. Es ist ein Glück, dass das noch geschehen kann, solange du lebst."

"Das muss ich mir alles nochmal in Ruhe überlegen. Die Jungs müssen auch erst einmal die Nase in den Wind stecken." "Das wird ihnen sicher nicht erspart. Den gerechten Umgang mit deinen Leuten müssen sie auch noch lernen. Vertrauen zu erwerben, ist schwer genug."

"Na, gut! Ich werde es mir überlegen, du wärest ja sicher auch später noch zu einer Aussprache bereit?"

"Sieh', Kambyses, du kannst dir das noch überlegen, weil du reich bist und daher unabhängig. Deine Arbeiter sind auf dich angewiesen, ob du gerecht mit ihnen umgehst oder nicht. Vielleicht können deine Söhne das einmal erkennen. Klar stehe ich dir zur Verfügung! Auch ich möchte aller Diener sein, also auch deiner."

"Danke! Dann lass uns jetzt über meinen Reichtum sprechen. Warum soll er mir weggenommen werden?"

"Ich denke, dass Jesus zuerst einmal daran erinnern wollte, dass wir Reichtum nicht über unseren Tod hinaus festhalten können. Die Macht ebenso wenig. Ferner wollte Jesus klarmachen, dass Reichtum Neid hervorruft und Macht Gegenmacht. Die Geschichte lehrt uns doch, dass die Gegenkräfte sich auf die Dauer durchsetzen. Niemals bleiben die Güter dieser Welt lange in den gleichen Händen. Und mit der Macht ist es nicht anders. Wo ist die Herrschaft eines Alexanders geblieben. Wo die Königreiche seiner Nachfolger? Auch das Weltreich der Römer wird zusammenbrechen."

"Aber Macht ist doch erforderlich, um Dinge in dieser Welt zu ordnen und in Ordnung zu halten. Unser König wird doch den Thron auch nicht aufgeben."

Darius ergänzte seinen Vater noch: "Und Geld braucht man auch, wenn man ein Geschäft, wie das unsrige im Gang halten will. Wie sollten wir sonst eine Karawane ausrüsten können?"

"Jesus wollte mit seinen Warnungen vor Reichtum und Macht auf die Unverlässlichkeit und Unbeständigkeit beider hinweisen. Sie sind nicht geeignet unsre Existenzen endgültig zu sichern. Sie können uns sogar daran hindern, weil sie uns in einer falschen Sicherheit wiegen. Grundlage unseres Lebens dürfen nur Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe sein. Reichtum und Macht müssen sich ihnen unterordnen, müssen Mittel bleiben."

"Thaddäus, du hast mir Gedanken eingegeben, die sich mit meinen bisherigen Vorstellungen von Sicherheit und Ordnung nicht in Übereinstimmung bringen lassen. Es scheint mir auch ein großes Wagnis, das aufzugeben, was sich bisher als zuverlässig erwiesen hat."

Thaddäus war noch oft bei Kambyses und berichtete ihm, was Jesus seinen Jüngern erzählt hatte, wenn sie sich kleingläubig zeigten. Vom Bauern, der meinte, sein Leben sei gesichert. weil er eine reiche Ernte gemacht hatte, und sterben musste, bevor er zum Genuss seines Reichtums gekommen war. Von Petrus, der das sichere Boot verließ, um zu Jesus zu gehen, dem aber dann der Glaube verloren ging und Jesus ihn retten musste.

"Wenn du glaubst, dass der Weg, den dir Jesus weist, richtig ist, dann solltest du ihn auch mutig gehen. Er hat uns gesagt: Suchet zuerst das Reich Gottes und alles wird euch dazu gegeben. Wenn du also am Scheidewege stehst zwischen Gerechtigkeit und Reichtum, so wisse, dass Reichtum auf der Grundlage von Lüge und Ungerechtigkeit nur von kurzer Dauer sein kann."

Pyrrhon blieb der treue Weggefährte seines Königs. Er diente seinen Mitbürgern durch seine besondere Gerechtigkeit. die vornehmlich darauf gerichtet war, das Schiefe wieder grade zu machen und das Böse zu heilen. Durch sie kam ihm auch der Gedanke, eine Verbindung nach Jerusalem oder besser zu den anderen Jüngern Jesu müsse gehalten werden. Nach Beratung mit seinem König und Thaddäus schickte er Ananias mit einem Bericht über die Heilung des Königs und dessen Wirken in Edessa.

Der Bote kam mit einer Kostbarkeit zurück. Er brachte das Leinentuch mit, in dem Jesus im Grab gelegen hatte. Es enthielt noch die deutlichen Spuren seines Blutes und seiner Qual. Der König und das Volk von Edessa hüteten es sorgfältig. Lange Zeit war es für sie das Symbol für die Sicherheit der Stadt.

Abgar und Diotima waren ein glückliches Paar. Sie hatten Prinzen und Prinzessinnen. Zugleich aber arbeiteten sie mit vereinten Kräften an der Verwirklichung des Reiches Gottes in Edessa. Doch mussten sie dabei mit mächtigen Widerständen kämpfen: Vorurteile, Misstrauen, Aberglaube und vor allem Menschen, denen ihr Reichtum wichtiger war als das Leben anderer.

In der Erinnerung der Leute war die Zeit König Abgars eine wunderbare Friedenszeit. Noch lange Jahre später sagten sie. wenn ihnen das Herz schwer war:

'Ja, damals als Abgar noch lebte und regierte.'




ANHANG: DAS LIED VOM GOTTESKNECHT JESAJA

"Seht das ist mein Knecht, den ich stütze: das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt. er bringt den Völkern das Recht. Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat. Auf sein Gesetz warten die Inseln. So spricht Gott. der Herr. der den Himmel geschaffen und ausgespannt hat, der die Erde gemacht hat und alles, was auf ihr wächst, der den Menschen auf der Erde den Atem verleiht und allen, die auf ihr leben, den Geist: ich, der Herr, habe Dich aus Gerechtigkeit gerufen, ich fasse Dich an der Hand. Ich habe Dich geschaffen und dazu bestimmt, der Bund für mein Volk und das Licht für die Völker zu sein: Blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft zu befreien. Ich bin Jahwe, das ist mein Name: ich überlasse die Ehre. die mir gebührt, keinem anderen, meinen Ruhm nicht den Götzen. Seht, das Frühere ist eingetroffen. Neues kündige ich an. Noch ehe es zum Vorschein kommt, mache ich es Euch bekannt."

( Jesaja 42, 1 - 9)



ANHANG: EUSEBIOS

Der antike Historiker. Verfasser einer Kirchengeschichte. Eusebios (263-339 n.Chr.) berichtet von einem Briefwechsel zwischen Abgar (9-46 n.Chr.) und Jesus:

Man hat dafür ein schriftliches Zeugnis, das dem Archiv von Edessa, einer Stadt, die damals noch von einem König regiert wurde, entnommen worden ist. Denn in den dort befindlichen Akten, die unter anderen Begebenheiten aus alter Zeit auch die Erlebnisse des Abgar enthalten, wird auch dieses von seiner Zeit an bis zur Gegenwart aufbewahrt gefunden. Am besten ist es wohl die Briefe selbst zu hören, die wir aus dem Archiv empfangen und auf folgende Weise wörtlich aus der syrischen Sprache übersetzt haben. Abschrift des Briefes, der von dem Toparchen Abgar an Jesus geschrieben und ihm durch den Eilboten Ananias nach Jerusalem gesandt worden ist: "Der Toparch Abgar Uchama entbietet Jesus, dem guten Heiland, der in der Ortschaft Jerusalem erschienen ist, seinen Gruß! Ich habe von dir und deinen Heilungen gehört, dass sie nämlich ohne Arzneimittel und Kräuter von dir vollbracht werden. Denn wie die Rede geht, machst du Blinde sehend, Lahme gehend und reinigst Aussätzige und treibst unreine Geister und Dämonen aus und heilst die von langer Krankheit gepeinigten und weckst Tote auf. Und als ich dies alles über dich, hörte, erwog ich, dass du entweder Gott selber und vom Himmel herabgekommen bist, um es zu tun, oder Gottes Sohn bist, wenn du es tust. Deshalb nun schreibe ich und bitte dich, dich zu mir zu bemühen und das Leiden, das ich habe, zu heilen. Ich habe doch auch gehört, dass die Juden gegen dich murren und dir Übles tun wollen. Ich habe eine Stadt, zwar recht klein. Aber würdig, die für uns beide ausreicht.

Was von Jesus durch den Eilboten Ananias dem Toparchen Abgar erwidert worden ist: "Selig bist du, der du an mich geglaubt hast, ohne mich gesehen zu haben. Denn es steht über mich geschrieben, dass die, die mich gesehen habe, nicht an mich glauben werden, und dass gerade die, die mich nicht gesehen haben, glauben und leben sollen. Was aber das anbetrifft, was du mir geschrieben hast, zu dir zu kommen, so ist es nötig, alles, um deswillen ich gesandt bin, hier zu erfüllen und nach solcher Erfüllung hier aufgenommen zu werden zu dem, der mich gesandt. Und wenn ich hier aufgenommen worden bin, werde ich dir einen meiner Jünger senden, damit er dein Leiden heile und Leben übermittle dir und den Deinen.

Diesen Briefen war aber auch noch das Folgende in syrischer Sprache angehängt: "Nach der Himmelfahrt Jesu aber sandte ihm, Judas, der auch Thomas heißt, den Apostel Thaddäus, einen der Siebzig. Der kam und wohnte bei Tobias, dem Sohn des Tobias. Als man aber von ihm hörte, meldete man dem Abgar: Ein Apostel Jesu ist hier angekommen, so wie er dir geschrieben hat. Da begann nun Thaddäus in der Kraft Gottes alle Krankheit und Schwäche zu heilen, so dass alle sich wunderten. Als aber Abgar die Großtaten und Wunderdinge, die er verrichtete, erfuhr, und wie er heilte, da kam er auf die Vermutung: der ist es, von dem Jesus schrieb: Wenn ich hinaufgenommen worden bin, werde ich dir einen meiner Jünger senden, welcher dein Leiden heilen wird. Er ließ also den Tobias kommen, bei dem er wohnte, und sprach: ich habe gehört, dass ein machtvoller Mann gekommen ist und in deinem Haus Wohnung genommen hat. Führe ihn zu mir! Tobias aber kam zu Thaddäus und sprach zu ihm: Der Toparch Abgar hat mich kommen lassen und mich angewiesen, dich zu ihm zu führen, damit du ihn heilst. Und Thaddäus sagte: Ich gehe hin, da ich ja mit Macht ausgestattet zu ihm gesandt bin.

Am folgenden Tage machte sich nun Tobias in der Frühe auf, nahm den Thaddäus mit und kam zu Abgar. Als er aber hingekommen war, da wurde in Gegenwart von dessen dastehenden Würdenträgern gleich bei seinem Eintritt dem Abgar eine außerordentliche Erscheinung im Antlitz des Apostels Thaddäus sichtbar. Als Abgar das sah, fiel er vor Thaddäus nieder, und Staunen ergriff alle, die herumstanden: denn sie hatten die Erscheinung nicht gesehen, die allein dem .4bgar sichtbar geworden war. Der fragte denn auch den Thaddäus: Bist du wirklich ein Jünger Jesu, des Sohnes Gottes, der zu mir gesagt hat: Ich will dir einen meiner Jünger senden, der dich heilen und dir Leben darreichen wird? Und Thaddäus sagte: Weil du fest geglaubt hast an den, der mich gesandt hat, deshalb bin ich zu dir gesandt worden: und ferner, wenn du an ihn glaubst, werden dir, wie du nur glaubst, die Wünsche deines Herzens erfüllt werden. Und Abgar sprach zu ihm: Mein Glaube an ihn ist derart, dass ich sogar die Juden, die ihn gekreuzigt haben, mit Heeresaufgebot hätte vernichten wollen, wenn ich nicht durch die Römerherrschaft daran gehindert worden wäre. Und Thaddäus sagte: Unser Herr hat den Willen seines Vaters erfüllt: und nachdem er ihn erfüllt hatte, ist er hinaufgenommen worden zum Vater. Abgar sagte zu ihm: Auch ich glaube an ihn und an seinen Vater. Und Thaddäus sagte: Deshalb lege ich meine Hand auf dich in seinem Namen. Und als er das getan hatte, wurde er alsbald geheilt von der Krankheit und dem Leiden, das er hatte. Und es staunte Abgar, dass er so, wie er über Jesus gehört hatte, so auch in Werken erfuhr durch seinen Jünger Thaddäus, der ihn ohne Arzneimittel und Kräuter heilte, und nicht ihn allein, sondern auch Abdus, den Sohn des Abdus, der Podagra hatte. Der kam gleichfalls, fiel ihm zu Füßen und wurde durch Gebete mit Handauflegung geheilt. Und viel andere ihrer Mitbürger heilte er ebenso, indem er wunderbare Großtaten verrichtete und das Wort Gottes verkündete. Danach aber sagte Abgar: Thaddäus, das tust du mit Gottes Kraft, und wir unsererseits sind in Verwunderung geraten. Aber ich bitte dich noch weiter, erzähle nur vom Kommen Jesu, wie es sich zutrug, und von seiner Kraft, und in was für einer Kraft er alles das vollführte, was mir zu Ohren gekommen ist. Und Thaddäus sagte: Ich werde jetzt zwar schweigen, da ich zur öffentlichen Verkündigung des Wortes gesandt bin, morgen aber berufe mir alle deine Bürger zur Volksversammlung, und vor ihnen werde ich predigen und ihnen das Wort des Lebens säen, über das Kommen Jesu, wie es sich zutrug, und über seine Sendung, und weswegen er vom Vater gesandt wurde, und über seine Kraft und Werke und Geheimnisse, die er in der Welt geredet hat, und durch was für eine Kraft er das vollführte, und über seine Verkündigung, und über die Kleinheit und über die Erniedrigung, und wie er sich erniedrigt hat und seine Gottheit abgelegt und klein gemacht hat und gekreuzigt worden und hinabgestiegen ist in den Hades und den von Ewigkeit unzerbrochenen Zaun durchbrochen hat und Tote auferweckte, und allein hinabgestiegen ist. hinaufgestiegen aber mit einer großen Menge zu seinem Vater.

Da gab Abgar den Befehl, es sollten sich am kommenden Morgen seine Bürger versammeln und die Predigt des Thaddäus anhören; und darauf ordnete er an, ihm ungemünztes Gold zu geben. Der aber nahm es nicht an mit den Worten: Wenn wir unser Eigentum verlassen haben, wie sollten wir dann das fremde nehmen?


Der hier zitierte Text ist der im Pattlochverlag erschienenen Sammlung Erich Weidingers "Die Apokryphen" entnommen.



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