Die Lüge

Seit Jahren lebt Peter Musto schon unter der verwahrlosten Straßenjugend der Hauptstadt Kolumbiens. Die Standortgemeinde Bonn unterstützte seinen Einsatz treu durch Kleiderspenden und Geld. In diesem Frühjahr war unser Matthias bei ihm in Bogota. Nach seiner Heimkehr berichtete er uns:

Ich traf Peter in tiefer Niedergeschlagenheit. Als ich ihn darauf ansprach, erzählte er: Vor wenigen Tagen ist hier vor diesem Hause ein Mann erschossen worden. Bei hellem Tage. Das war schon schrecklich genug. Aber was mich so deprimiert, ist die totale Teilnahmslosigkeit der Leute. Keiner will etwas gesehen haben. Keiner wagt eine Zeugenschaft. Die Angst geht hier um. Die Terroristen, ob Gangster, Freiheitskämpfer oder Militär, sind die Herren. Sie machen, was sie wollen. Politiker versprechen zwar Ordnung. Aber sie können ihre Autorität wiederum nur auf Gewalt stützen. Ünd schon sind sie dann selbst Mittäter oder Drahtzieher der Gewalt. Wo soll das hinführen? Aber es gibt noch einen Grund für meine Sorge. Laß dir erzählen: Ich habe mich schon immer gewundert über die tiefe Verschlagenheit der Jugendlichen hier. Diebstahl, manchmal auch bei mir, ist die Regel. Na gut, es sind arme Teufel. Aber ich kann auf niemandes Wort vertrauen. Jeder belügt mich bei der geringsten Kleinigkeit. Gestern stellte ich Maria, wie sie mich belog. Ich machte ihr zwar keine Vorwürfe, aber sie sah wohl meine Traurigkeit und darum erzählte sie mir von sich:

Ich war als zwölfjähriges Mädchen von meinen Eltern, die auf dem Lande wohnten, an eine Familie in der Stadt als Dienstmädchen vermietet worden. Es waren reiche Leute. Aber sie gaben mir nicht genug zu essen. Ich war fast immer hungrig. Eines Tages war ein Geburtstag und es stand ein Kuchen auf dem Tisch. Ich brach mir ein Stück davon ab und aß es schnell auf. Doch die Donna bemerkte den Schaden am Kuchen und fragte mich, ob ich genascht hätte. Ich sagte die Wahrheit, wie ich es von zuhause gewohnt war. Die Donna war empört, faßt mich bei der Hand, zog mich in die Küche und zwang mich, die beiden Hände auf die heiße Herdplatte zu legen. Kannst Du Dir den Schmerz und mein Entsetzen vorstellen? An diesem Tag habe ich mir geschworen, nie mehr die Wahrheit zu sagen.

Aber jetzt sagst du die Wahrheit? fragte ich sofort.

Ja, Peter, jetzt sage ich die Wahrheit. Ich habe Vertrauen zu Dir. Aber ich werde meine Worte auch beweisen! Sieh, hier meine Hände! Als die Wunden geheilt waren, blieben diese Narben. Sie erinnern mich zeitlebens daran, daß ich niemanden vertrauen darf. Du, Peter, bist seit Jahren der erste Mensch, der nicht ist wie andere.

Fast alle Jugendlichen haben solche oder ähnliche Erlebnisse, oft sogar mit den eigenen Eltern. Bei uns erzeugt die Gewalt die Lüge. Und die Lüge erzeugt die Gewalt. Wie soll das enden?

Wir meinen: Wenn ein einziges Kind durch unsere Hilfe aus dem Teufelskreis ausscheren kann, dann hat es sich gelohnt.


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