Der Grashalm
Oskar Herwartz Meckenheim, den 5.12.87.
Vor langer, langer Zeit als es noch keine Menschen gab, ja nicht einmal Säugetiere und Vögel, da wuchs an einer Stelle im Wald ein Grashalm. Der stand ganz allein auf einer kleinen Lichtung zwischen hohen Bäumen. Diese waren eigentlich riesige Schachtelhalme und Farne. Kein einziger von ihnen hatte im Frühjahr eine Blüte. Darum gab es auch noch keine Bienen, die nach Honig suchten. Ein Grashalm hat auch keine richtigen Blühten, aber er hat Staubgefäße, die ihre Pollen dem Wind überlassen. Das war natürlich sehr riskant, und der einsame Grashalm trauerte auch um sie und war sehr verzweifelt, ob seine Art überhaupt werde überleben können.
Die Schatten der großen Bäume ließen ihm kaum so viel Licht, wie er zum Leben brauchte. Oft fiel nur ein Stündchen am Tage ein Strahl Sonne auf ihn. Eines Tages war der Grashalm wieder einmal sehr traurig. Er wünschte sich den Tod, denn er hielt sein Leben für unsinnig und zwecklos.
Ein Grashalm kann nicht hören, nicht riechen. Sehen kann er eigentlich auch nicht, aber hell und dunkel kann er unterscheiden. Ein Grashalm hat auch in sich eine Art Uhr, die ihm mitteilt, wann es Nacht und wann es Tag ist, auch dann, wenn Wolken oder Nebel sie Sonne verhüllen. Darum war er sehr erschrocken, als er eines Nachts eine Helligkeit um sich verspürte, die er um diese Zeit nicht erwarten konnte.
"Was mag das sein", dachte der Grashalm, "Ist das vielleicht der Tod, den ich mir wünschte?"
Aber es war etwas ganz anderes. Die Helligkeit wurde nach und nach so stark, dass der Grashalm sich von ganz neuer Lebenskraft durchdrungen fühlte. Er merkte, wie die hohen alten Bäume um ihn herum verschwanden, wie eine riesige, ja unendliche Fläche sich ausdehnte, wie Milliarden von anderen Gräsern neben ihm wuchsen. Die Erschütterungen des Bodens, in dem seine Wurzeln steckten sagten ihm das große Herden von Tieren in der Nähe grasten.
Jetzt auf einmal wusste er: Ich werde als einsamer Grashalm nicht allein bleiben, sondern meine Art wird die ganze Erde bedecken, wenn die Schachtelhalmbäume längst von ihr verschwunden. sind. Ich bin sicher, dass wir Gräser auf dieser Erde allen anderen Geschöpfen einen lebenswichtigen Dienst erweisen werden. Nicht nur den Herden der Weidetiere, sondern auch denen, die von diesen leben. Den Löwen, den Hunden, den Schakalen, den Geiern. Und den Menschen.
Ja, schließlich wird der Mensch kommen. Aber der wird auch lernen, die Samen des Grases immer besser zu nutzen. Er wird es züchten und die Samen werden Nahrung für Milliarden sein. Der Grashalm vergaß den hellen Schein in der Nacht niemals wieder, denn er wusste nun, seine Familie würde groß, und so zahlreich wie die Sterne am Himmel würden seine Nachkommen sein. Er war auch nicht mehr traurig, weil er erkannte, dass das Gras ein Segen war für die Bewohner der Erde. Besonders für den Menschen, der nach Millionen von Jahren erscheinen würde, auf den hin aber die Natur schon damals lebte. Er hat den Glauben nie verloren, obwohl er doch von all der Zukunft niemals etwas gesehen hat.