Oskar Herwartz: Die Frau am Brunnen


Eine Vorbemerkung:

Die folgende Geschichte ist nur vom Evangelisten Johannes überliefert und steht im vierten Evangelium, im Kapitel 4 in den Versen 1-42. Der Verfasser liebt Bilder und geheimnisvolle Andeutungen, die er auch Jesus in den Mund legt. Sie einigermaßen sachgemäß zu entschlüsseln erfordert ein Studium. Einfaches Lesen reicht nicht aus. Anderseits hat diese Erzählung so viele menschliche Züge, die mir gefallen.

Darum habe ich mich daran gemacht, sie einmal so zu erzählen, wie sie sich möglicherweise abgespielt hat. Dabei fiel mir zu-nächst auf, dass es sich um die Bekehrungsgeschichte der Frau handelt, deren Vorleben nicht eben den Normen ihrer Umgebung entsprach

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Aber Johannes deutet auf seine Weise auch an, dass die Bekehrung der Frau, deren Namen wir nie erfahren, nicht das einzige ist, was er seinen Lesern erzählen will. Viele Einwohner des kleinen Ortes kommen zum Glauben. Er vergisst auch nicht daraufhin zu weisen, dass die Leute nicht etwa Juden sondern Samariter sind. Johannes gibt in ihnen seinen Gemeinden das Vorbild: Kommt auch ihr so spontan zum Glauben, wie die Leute dort!

Dann ist mir eingefallen, dass in der sogenannten Apostelgeschichte des Lukas auch etwas von Samaritern steht. Im Kapitel 8 steht es. Dort wird erzählt, dass der Apostel Philippus bei ihnen einen großen Erfolg als Missionar hat. Auch an dieser Stelle wird von vielen Bekehrungen gesprochen. So viele waren es, dass Petrus und Johannes dorthin reisten, um den schon getauften die Hände aufzulegen, wir würden heute sagen, sie zu firmen.

Johannes hat es also zweimal mit Samaritern zu tun. das erste Mal als Begleiter und Jünger Jesu und nun in amtlicher Funktion. In beiden Fällen beeindrucken ihn die vielen Bekehrungen. Vielleicht hätte das aber dem Johannes noch nicht ausgereicht für eine Einarbeitung der Geschichte in sein Evangelium. Doch bedenken wir: er schreibt ja als letzter der Evangelisten und hat ziemlich sicher die Apostelgeschichte vorher gelesen. Da fand er nun nicht nur seinen Namen, sondern wurde auch an die Samariterin erinnert. So stelle ich mir vor, wurde eine unbekannte Frau die Hauptperson einer Geschichte des Johannesevangeliums, erzählt in den Eigenarten dieses späten Verfassers.

Lassen wir sie jetzt einmal selber erzählen. Vielleicht entdecken wir noch etwas, was so bisher nicht berichtet wurde.

Die Frau am Brunnen

Ob ich Jesus kenne, fragst du? Wenn du den meinst, der in Jerusalem von den führenden Männern der Juden bei den Römern angezeigt und von denen gekreuzigt wurde, dann kenne ich ihn. Ein paar Monate vor seinem Tode habe ich hier am Jakobsbrunnen mit ihm gesprochen. Und das hat mein Leben vollständig geändert. Seine Worte werden mich auch bis ans Ende meines Lebens nicht loslassen. Lasse dir erzählen:

Ich ging damals mit meinem Krug zur sechsten Stunde zum Brunnen, um Wasser zu holen. Den Morgen hatte ich vertrödelt und musste nun in der Mittagshitze gehen. Als ich um die letzte Biegung des Weges komme, da sehe ich einen Mann ganz dicht beim Brunnen sitzen. Ich kannte ihn nicht. Aber ich sah gleich, dass er ein Jude war. Es ärgerte mich, weil ich Männer am Brunnen sowieso nicht leiden kann. Wasserholen ist Frauensache. Besonders natürlich abends, wenn wir uns alle dort treffen und Neuigkeiten austauschen.

Aber jetzt war ich ganz allein. Wer holt schon mittags sein Wasser. Ich ging also ohne Gruß, nicht einmal angesehen habe ich ihn, an den Brunnenrand. Ich konnte Juden sowieso nicht leiden. Sie sahen auf uns Samariter immer herab wie auf Ungläubige. Als wenn die was Besseres wären. Als mein Krug voll war, nahm ich erst noch selbst einen Schluck aus meinem Becher, den ich immer dabei habe. Gerade wollte ich gehen, da sagt der Jude zu mir:

"Bitte, gib mir auch einen Schluck. Ich habe einen langen Weg hinter mir und bin sehr durstig."

Mir wäre fast der Krug aus der Hand gefallen. Redet dieser Mann mich einfach an. Noch dazu ein Jude und mich. Ich war empört. Wirklich. Aber auch ein bisschen geschmeichelt. Wenn ich das den anderen erzähle, ging es mir durch den Kopf, die werden Augen machen! In meiner Antwort blieb ich aber zurückhaltend:

"Du, ein Jude, bittest mich um einen Trunk?"

Jetzt erst schaute ich ihn richtig an. Er war kein Landstreicher, das sah ich gleich. Aber einen Becher hatte er auch nicht dabei. Also sagte ich nun:

"Wo hast du denn deinen Becher? Ich habe nur diesen hier, aus dem ich eben selbst getrunken habe."

"Wenn du mir den nicht lassen willst, so gieß mir das Wasser in meine Hände. Aber lass mich die vorher ein bisschen waschen."

Nein, das wollte ich nicht. Aus der Hand trinken, das sollte er nicht. Also gab ich ihm den Becher und füllte ihn aus meinem Krug. Dann konnte ich mir aber eine Frage doch nicht verkneifen:

"Was bist du nur für ein Jude, dass du aus einem samaritischen Becher trinkst?"

Er sagte gar nichts, sondern sah mich nur freundlich lächelnd ganz offen und grade an. Ich mag keine Männer, die an mir vorbei schauen. Trotzdem wollte ich ein bisschen sticheln und fragte weiter:

"Sieh dort drüben den Berg Garizim. Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet, und wir tun das immer noch. Aber ihr Juden sagt, wir müssten in Jerusalem auf dem Berge Sion anbeten. Wer hat nun recht? Was ist nun richtig?"

Er ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen, sondern fragte nur ganz ernst, aber ohne ein Zeichen von Ärger:

"Ist dir das wirklich wichtig?"

Damit traf er mich. Denn, offen gesagt, hatte ich dazu eigentlich gar keine Meinung. Oder besser gesagt, ich tat, was alle taten. Jetzt aber wurde ich durch seine Frage dazu gebracht, meinen Glauben zu prüfen, und ich erkannte meine innere Leere. Das tat mir weh. Ja, wirklich so wie Durst wehtun kann. Mir wurde ein bisschen schummerig in Kopf und Bauch. Ich lehnte mich an den Brunnenrand. Er muss es bemerkt haben, denn er sagte:

"Ich hätte ein Wasser für dich. Ein lebendiges Wasser, das deinen Durst für immer stillen würde."

Das waren doch leere Worte, denn er hatte ja nicht einmal einen Becher. Wie sollte er bei der Tiefe des Brunnens an Wasser kommen können. Ich antwortete also ziemlich ironisch:

"Diesen Brunnen hat unser Vater Jakob gegraben, damit seine Leute und Herden trinken konnten. Er ist tief und führt lebendiges Wasser. Aber wie willst du da herankommen, wenn du nicht einmal einen Becher hast. Bist du größer als unser Vater Jakob?"

"Das Wasser, das ich dir geben könnte, stammt auch nicht aus einem Brunnen. Doch eben, als ich dich fragte, ob dir das mit dem Garizim wirklich wichtig sei, hast du mir keine Antwort gegeben. Darum frage ich dich noch einmal: möchtest du wirklich wissen, wo Gott angebetet werden muss?"

Ich nickte, und er fuhr fort:

"Gott ist unser aller Vater. Er ist nicht nur an einem Ort. In Jerusalem oder hier auf dem Garizim. Überall ist er und kann überall verehrt werden."

So sprach ein Jude? Ich konnte es nicht fassen. Ich muss ehrlich zugeben: die Feierlichkeiten auf dem Garizim haben mich nur als Kind wirklich begeistert. Aber später wurden sie mir immer mehr zur Quälerei. Je älter ich wurde, umso deutlicher wurde die Leere, die sie bei mir hinterließen. Für mein Leben sagten sie mir nichts mehr. Dabei habe ich, wie ich glaube, Durst nach Wahrheit. Nach einem guten und rechten Leben.

Kann dieser Mann mir diese Wahrheit zeigen? War das vielleicht das lebendige Wasser von dem er sprach? Zögernd sagte ich:

"Jetzt habe ich dich, glaube ich, richtig verstanden. Gib mir also das lebendige Wasser, das meinen Durst nach Wahrheit löschen kann."

Wenn ich nun geglaubt hatte, er würde mir einen frommen Vortrag über Gott, unseren Vater, halten, so hatte ich mich getäuscht. Gerne hätte ich ihm zugehört. Aber zu meiner Überraschung sagte er:

"Geh, ruf deinen Mann!"

Dabei hatte ich doch gar keinen Mann. Männer, ja. Aber keinen richtigen Ehemann, den er sicherlich meinte. Der Arglose. Ich schämte mich, weil ich mich ertappt fühlte: Was führte ich bloß für ein Leben, dachte ich. Nicht weiter als bis zu meiner Nasenspitze schaue ich. Jedem Vergnügen gebe ich mich hin. Jeder Regung folge ich ohne jede Verantwortung für die Folgen bei mir oder bei anderen.

Ich fürchtete, er könnte meine Gedanken lesen. Und als ich sagte: "Ich habe keinen Mann." da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich offenbarte ihm vielmehr mein ganzes Leben. Das hatte ich bisher nicht einmal vor mir selbst getan. Nicht die kleinste Entschuldigung oder Rechtfertigung fiel mir ein. Aber er hatte nicht das leiseste Wort eines Vorwurfes für das, was ich ihm über mich gestand. Ich hatte den Eindruck, dass er von Anfang an alles über mich wusste. Aber dennoch hatte er mit mir gesprochen.

Ich war nun ganz sicher, dass dieser ein ganz besonderer Mann sein musste. Ein Heiliger Gottes. Er hat mich nicht verurteilt, wie viele andere Männer das schon getan haben, sondern er hat von unserem Vater im Himmel erzählt, dass er die Liebe ist, mit der er die Welt erfüllen und an sich ziehen will.

Aber das erzählte er nicht sogleich dort am Brunnen. Es kamen nämlich seine Freunde, die Einkäufe im Ort gemacht hatten. Die wunderten sich natürlich, das ihr Meister, so nannten sie ihn, sich mit mir unterhielt. Aber auch diese Juden brachten keine Einwände gegen mich vor, als ich sie zu mir einlud.

Ich war zuerst über ihre Zusage ziemlich erschrocken, weil es doch immerhin auch etwas bedeutet, so viele Menschen zu sich einzuladen. Vor Aufregung ließ ich meinen Wasserkrug stehen und rannte ins Dorf. Dort trommelte ich alle meine Nachbarn und Freunde zusammen. Viele kamen und brachten, wie es bei uns üblich ist, etwas zu essen mit. Wir alle hörten das, was Jesus, (seinen Namen erfuhr ich erst jetzt), vom Reiche Gottes erzählte. Jetzt verstand ich: Das war das LEBENDIGE WASSER, von dem er am Brunnen gesprochen hatte.

Viele von uns glaubten ihm, und schon bald erfüllte uns seine Sicht einer neuen Welt mit der Hoffnung auf eine Zukunft, die unter uns bereits begonnen hatte. Sie lebte aus der Gewissheit der Liebe Gottes zu allen Menschen. Denn jeder kann in dieser Gotteswelt leben, der bereit ist, seine Mitmenschen als seine Brüder und Schwestern zu achten und auf Hass und Gewalt zu verzichten. In ihr ist der der Erste, der Diener aller ist. Wir hatten keinerlei Zweifel, dass sie schon bald Wirklichkeit würde. Wir wollten ja alle, dass es kein Unrecht mehr geben sollte, und keine Armen, Ausgestoßenen und Schwachen.

Wir begriffen, dass dieses Reich erst im Werden ist, aber dennoch schon ganz wirklich sein kann. Wie ein kleines Kind schon ein richtiger Mensch, aber auch zugleich noch nicht voll entwickelt und erwachsen ist.

Als Jesus und seine Freunde nach zwei Tagen Abschied genommen hatten und weiter gewandert waren, sind wir alle, die ihn verstanden hatten, als seine Freunde zusammen geblieben und so erfuhren wir schon bald von seiner Kreuzigung. Einer aus seiner Begleitung, namens Philippus, kam, fast wie ein Flüchtling, hier bei uns vorbei und brachte diese furchtbare Nachricht mit. Wir waren natürlich tief getroffen und traurig. Es benötigte unseren ganzen Glauben, dieses Ende Jesu nicht als Beweis gegen sein LEBENDIGES WASSER anzunehmen. Traurig und niedergeschlagen zwar blieben wir doch zusammen und trafen uns oft in meiner Wohnung. Eines Tages erschien Philippus wieder und versicherte uns, Jesus sei nicht im Tod geblieben. Er sei vielen seiner früheren Freunde erschienen, habe mit ihnen geredet und sogar gegessen. Philippus lud uns ein, mit ihm nach Jerusalem zu kommen. Dort könnten wir unsere Gäste von damals wiedersehen und andere Jünger kennen lernen. Von ihnen würden wir alles erfahren, was nach Jesu Tod geschehen sei. Ich bin natürlich auch mitgegangen und erlebte so die großartigen Ereignisse am Pfingstfest. Ganz erfüllt von Glauben und Hoffnung kehrten wir voller Freude mit Philippus in unser Städtchen zurück und aus unserem Kreis wurde eine richtige Gemeinde.

Zwar erkannten wir bald, dass unsere Hoffnungen nicht so schnell in Erfüllung gehen würden, wie wir gedacht hatten. Aber wir fühlten doch deutlich, dass der Geist Gottes bei uns blieb. So fühlten wir uns ganz sicher in Gottes Hand.

Vermutlich durch Philippus ist die Kunde von unserem gemeinsamen Leben im Geiste Gottes zu den Jüngern in Jerusalem gedrungen. Es kamen nämlich zwei von denen, die damals schon mit Jesus hier gewesen waren. Sie hießen Petrus und Johannes. Sie blieben einige Tage hier, feierten mit uns das Abendmahl, wie es Jesus vor seinem Tode mit ihnen gefeiert hatte. Beim Abschied legten sie uns alle die Hände auf und segneten uns.


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