Oskar Herwartz: Gespräch mit Ansgar



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EIN VORWORT

Es war ein regnerischer Nachmittag. Ich hatte die Lebensgeschichte Ansgars, die sein Mitstreiter Rimbert geschrieben hat, im Bücherschrank gefunden und las sie. Die Darstellung hatte mich in den Bann des neunten Jahrhunderts gezogen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, es sei jemand hinter mir im Zimmer.

"Wer ist da?!" fragte ich ohne umzusehen.

"Du hast mich gerufen, Oskar!"

"Ich dich gerufen? Ich habe hier in Ansgars Lebensgeschichte gelesen."

"Ja und?"

"Da habe ich mir vorgestellt, er und ich hätten vielleicht manches gemeinsam. Aber wer bist du? Woher kennst du meinen Namen?"

"Ich bin Ansgar, dein Namenspatron."

"Mein Namenspatron? Ich heiße doch Oskar."

"Richtig! Aber Oskar ist doch nur die nordische Form meines Namens."

"Das habe ich doch schon einmal gehört."

"Meine Eltern kannten den Namen aus ihrer Umgebung. Knaben wurden so genannt, weil sie einmal so stark sein sollten, wie der Ger der Asen oder Ansen, wie die Sachsen und die Franken ihre Götter nannten. Die hießen aber bei den Dänen und Schweden `Osen' und statt 'Ger' sagten die `Kar'. Wer mag dir meinen Namen auf Nordisch gegeben haben? Und warum?"

"Meine Mutter gab mir den Namen, weil mein Vater so hieß. Der stand bei meiner Geburt und Taufe 1915 im Abwehrkampf gegen die Russen in den Masuren, im damaligen Ostpreußen. Sicherlich fürchtete sie um das Leben ihres Mannes und wollte auf diese Weise mit seinem Namen auch sein Andenken bewahren."

"Dein Vater hieß also auch Oskar?"

"Ja."

"Was mag deine Großeltern veranlasst haben, gerade diesen Namen zu wählen? Ob sie seinen Sinn verstanden haben."

"Ich jedenfalls habe die sprachliche Bedeutung erst erfahren, als ich schon 17 oder 18 Jahre war. Aber seltsam: nicht nur in der Schule, als ein Deutschlehrer sich dafür interessierte. Auch eine Privatlehrerin, die mich in Englisch auf das Niveau meiner neuen Klasse in Zittau bringen sollte, nannte mich oft "Spear of God", "Speer Gottes" also."

"So war das. Ich weiß nun nicht, ob dein Name dir etwas bedeutet. Ich war als Knabe ein bisschen stolz auf ihn und wollte ihm auch in meinem Leben entsprechen. Dazu muss du dir klar sein, dass der Ger zwar eine Kriegswaffe war, aber sie war nicht wie das Schwert ein Symbol für Krieg. Der Ger war mehr ein wichtiger und oft das Leben rettender Begleiter bei ganz friedlicher Reise. Denk bitte daran, dass in unseren Wäldern zwar auch menschliche Räuber ihr Wesen trieben, aber besonders Bären und Wölfe, um nur die zu nennen."

"Dann gefällt mir deine Deutung des Namens besser als meine. Ich betrachtete ihn als junger Mensch eher als die Aufgabe, 'Kämpfer für Gott' zu sein."

"Aber Gott benötigt doch keine Soldaten! Ich sah den 'Speer' lieber als ein Hilfsmittel zum Überleben in einer gefährlichen und feindlichen Umwelt. So wollte auch ich das Instrument Gottes sein, um Menschen vor dem Bösen, welcher Art auch immer, zu bewahren."

"Es hat leider bei mir sehr lange gedauert, bis ich Gott als den Helfer für das Leben der Menschen, als Retter und Befreier kennen gelernt habe."

"Gott wird das, denke ich, nicht stören. Bitte glaube nicht, dass ich als Junge schon die Bedeutung meines Namens für mich erkannt hätte. Ich war ein Junge, wie die anderen auch."

"Ich würde gerne noch etwas mehr über dich, dein Denken und Leben erfahren."

"Das würde ich auch gerne von dir wissen. Aber frag' du erst einmal!"

IN CORBIE

"Also: Wenn ich das hier in dem Bericht deines Freundes Rimbert richtig gelesen habe, dann hast du schon im Alter von fünf Jahren deine Mutter verloren. Dein Vater übergab dich daraufhin den Mönchen der Abtei Corbie im heutigen Nordfrankreich zur Erziehung. Wir heute würden so etwas für barbarisch halten."

"Nein, barbarisch möchte ich das nicht nennen. Sieh', ich verlor meine Mutter, mein Vater aber seine Frau. Er hatte die Wahl, mich in den Händen von Dienstboten zu lassen oder mich auf den Weg einer guten Ausbildung mit der Aussicht auf eine hoffnungsvolle Laufbahn im Staate Karls des Großen zu bringen. Corbie war bekannt für seine gute Schule `Sankt Peter', in der Schüler aus vielen germanischen Stämmen gemeinsam in allen Wissenschaften, wir sagten in den `Sieben freien Künsten' unterrichtet wurden."

"Aber warst du dann nicht so etwas wie ein Weihgeschenk deines Vaters an Corbie? Du konntest damals doch noch gar nicht mitreden."

"Soweit hast du Recht. Mitreden konnte ich damals noch nicht. Bedenke aber, dass ich später, als ich alt genug dazu war, meine Gelübde selbst ablegte. Das war in Kapitel 59 der Benediktinerregel so vorgesehen. Aber es ist auch gar nicht ausgemacht, dass mein Vater mich als Weihgeschenk betrachtet hat. Dafür habe ich keinen Anhalt. Ich denke, er hat mir eine gute Ausbildung für eine spätere Karriere geben wollen"

"Hat deine Familie denn dort in der Nähe gewohnt?"

"Meine Eltern gehörten zu den westsächsischen Familien, die sich schon früh für das Christentum entschieden und sich unter den Schutz des mächtigen König Karl gestellt hatten. Sie siedelten in der Gegend des heutigen Amiens und der Abtei Corbie."

"Was weißt du noch von deinen Eltern?"

"Ich habe meine Mutter sehr gern gehabt. Ich trug ihr Bild in meinem Herzen. Aber mit ihr sprechen konnte ich nicht mehr. Meinen Vater habe ich auch nie wiedergesehen. Das war damals so. Der König war ein unternehmender Herrscher. Das bedeutete für seine Gefolgsleute, ständig in Bewegung zu sein. So ein Mann konnte darum auch kein Kind großziehen. Was wäre aus mir geworden, wäre Vater weniger `barbarisch' gewesen?"

"Dann hätte er ein bestimmtes Ziel für dich im Auge gehabt, als er dich nach Corbie brachte?"

"Na, `bestimmtes Ziel' ist wohl zu viel. Aber bedenke, dass im Reiche Karls des Großen nur der etwas wurde, der schreiben und lesen konnte. Außer Krieger natürlich. Eine militärische Laufbahn aber hatte wohl meine Mutter für mich nicht gewollt. Mein Vater hat nach ihrem Tode ihren Wunsch respektiert. Die Benediktiner allein konnten mir die Voraussetzungen schaffen, die ich brauchte, wenn mein späterer Weg mich an wichtige Stellen in Staat und Kirche bringen sollte. Bei ihnen lernte ich auch nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern auch noch Philosophie, Theologie, Naturkunde, Medizin, Mathematik und Astronomie."

"Das hätte ich mir nicht so vorgestellt. Aber noch einmal zurück zu deinem Vater. Sicherlich wäre dein Leben ganz anders verlaufen, wenn dein Vater anders gehandelt hätte. Aber wenn ich an mich selbst als Junge von fünf Jahren zurückdenke, so bekomme ich Angst um dich. Du standest doch ganz allein dort in Schule und Kloster."

"Nein, allein war ich nicht. Das Kloster war eine feste und stabile Gemeinschaft. Für uns Schuljungen waren besondere Erzieher und Lehrer bestellt, die alles taten, damit wir das Leben in dieser Gemeinschaft lieb gewannen. Wie war das denn bei dir in dem Alter?"

"Ich wohnte mit meinen Eltern in Hameln an der Weser."

"O, die Weser kenne ich gut!"

"Aber Hameln gab es damals wohl noch nicht. Ohne von zuhause weg zu müssen, konnte ich dort zur Schule gehen. Das muss bei uns jedes Kind. Meine Eltern gehorchten aber nicht nur der staatlichen Schulpflicht, sondern ließen mich nach vier Jahren auf ein Gymnasium gehen. Ich war schon 20 Jahre alt, als ich dieses verließ."

"Dann warst du also in deiner ganzen Schulzeit zuhause?"

"Ja beinahe. Aber dieses Zuhause war nicht immer in Hameln, sondern auch noch in Koblenz, das du vielleicht auch schon aus der Schule kennst, und in Orten, die es zu deiner Zeit noch nicht gab: Düsseldorf, Goch am Niederrhein und schließlich in Zittau. Das liegt weit östlich der Elbe, die für euch damals wohl die Grenze der bekannten Welt war. Dort habe ich zwanzigjährig die Prüfung bestanden, die mich berechtigte, an einer Universität zu studieren. Wir nennen sie Abitur."

"So lange habe ich auch fast gebraucht, bis die Schule mich endlich ganz entließ. Während des Studiums bekam ich aber schon eine Vertrauensstellung."

"Das klingt, als wenn du ganz ohne Schwierigkeiten durch die Schule gekommen wärest. Hatten dich die Benediktiner schon so fest für sich gewonnen?"

"O nein. So ohne Sträuben meinerseits ging das nicht. Zwar hatte ich das Leben in der Gemeinschaft sehr gern. Aber ich habe doch auch oft `über die Mauer' geschaut, wenn das Lernen nicht recht schmeckte. Das dauerte eine ziemlich lange Zeit, dann hatte ich einen Traum."

"Einen Traum?"

"Ja, es kam mir vor, als befände ich mich in einem zähen Sumpf, aus dem ich mich nicht befreien konnte. Gleichzeitig sah ich auf einem festen Weg dicht bei mir eine Dame mit Gefolge, darunter meine Mutter, gehen. Die Dame beugte sich zu mir und fragte mich, ob ich zu meiner Mutter wolle. Als ich `ja' sagte, ermahnte sie mich, meine Pflichten in der Schule korrekt zu erfüllen. Ich vermutete ja schon, meine Mutter habe wohl für mich den Wunsch gehabt, dass ich kein Kriegsmann werden sollte, und das habe ich schon als kleiner Junge gefühlt. Jetzt erinnerte mich der Traum daran. Ich nahm seine Botschaft sehr ernst und beschäftigte mich danach immer wieder mit dem Gedanken an den Eintritt in die Gemeinschaft der Mönche in Corbie."

"Den Traum hast du auch Rimbert erzählt. Ich habe das gerade in deiner Lebensgeschichte gelesen. Wurdest du dann gleich ein richtiger Benediktiner?"

"Nein noch nicht. Zunächst wurde ich Präfekt, also Aufseher der Schüler unserer Außenschule. In der wurden Jungen der Umgebung unterrichtet nach den Regeln, die der weise Alkuin, der aus Britannien stammende Berater des Kaisers, aufgestellt hatte. Ich machte mit ihnen Schularbeiten, hörte Vokabeln ab, diktierte Übungsstücke und passte überhaupt auf, dass sie bei der Sache blieben und keine Dummheiten machten."

"War Alkuin der Kultusminister Karls?"

"Der Ausdruck ist mir zu schwach. Er war Haupt eines Kreises von Gelehrten am kaiserlichen Hof zu Aachen. Dort wurden alle Wissenschaften und Künste gepflegt. Alkuin war selbst ein guter Wissenschaftler und Dichter, also nicht nur Verwalter von Kultur. Und natürlich war auch er Benediktiner."

"Auf einer ähnlichen Schule, wie ihr sie in Corbie hattet, war ich auch eineinhalb Jahre. Das war auf der Gaesdonck am Niederrhein. Ich habe mich als Junge dort sehr wohl gefühlt, wenn ich auch schon manchmal den Eindruck hatte, dass dieses Gymnasium, das nur von Geistlichen geführt wurde, ein Weltbild vermittelte, das hinter den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit her hinkte. Später, auf dem Gymnasium in Zittau, konnte ich feststellen, dass man uns die Mathematik und die Naturwissenschaften bis auf kümmerliche Reste unterschlagen hatte."

"Da bin ich ganz sicher, dass wir in Corbie auf der Höhe der damaligen Erkenntnisse waren. Unser Lehrplan nach Alkuins Vorschriften hat bewirkt, dass wir dem Staat gute Leute für die Kunst, die Wissenschaften und die Verwaltung gestellt haben."

"Sicher hat Gaesdonck auch manchem zu Amt und Würden verholfen. Ich habe keinen einzigen aus meiner Klasse je wieder gesehen. Aber wie dem auch sei. Als du in Corbie, wie ich annehme, neben deinem Studium, schon ein richtiges Amt hattest, war ich "Pfadfinder", also Mitglied eines Jugendbundes. Dort fand ich Freunde, mit denen ich Wanderungen, Lager und Geländespiele erlebte, mit denen ich aber auch nachsann über die Zukunft unseres Vaterlandes und die Rolle, die ich dabei spielen könnte."

"Dann hat dich also dein Vater nicht auf den Weg gebracht?"

"Nein, das hat er nicht, aber er stimmte meinen Ideen, als die konkret wurden, zu. Dazu musst du wissen, dass damals unser Land, nach jahrhundertelangen Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn, nur noch ein kleiner Rest des Reiches Kaiser Karls geblieben war."

"Verzeih, aber du vergisst, dass spätere Herrscher das Reich weit nach Osten ausgedehnt haben, und dass Bauern dort gesiedelt, Handwerker und Kaufleute dort Städte gegründet haben."

"Nein, das darf ich nicht vergessen. Ich habe mich eben nur so sehr in deine Zeit versetzt, dass ich die zwischen uns abgelaufenen elfhundert Jahre übersprungen habe. Aber auch für diese später erworbenen Gebiete gilt, dass nur ein Rest davon geblieben ist. Doch ich wollte gerade meine Beweggründe für meine Berufswahl darstellen. Dabei steckte ich ganz in meiner Welt. Die aber schien mir so, dass mächtige Feinde unser Land für unabsehbare Zeit geknebelt, tributpflichtig und wehrlos gemacht hatten. Ein Jahr, bevor ich mich für meine Zukunft entscheiden musste, hatte eine neue politische Kraft die Herrschaft übernommen. Die werteten wir einerseits als den Versuch, unsere Lage durch eine energischere Politik zu verbessern, anderseits machte sie uns misstrauisch durch ihr Bestreben, uns alle ihrem Weltbild und ihrer Organisation unter zu ordnen. In dieser Situation erschien es mir wie ein Wink des Himmels, als ich erfuhr, dass ich mich noch zur Marine melden konnte. Denn auf diese Weise konnte ich mich dem Zugriff der politischen Organisation entziehen und mich doch für die Verteidigung des Vaterlandes bereithalten."

"Mir scheint, du hast dich, wie Christophorus tat, zunächst einem falschen Herrn dienstbar gemacht."

"Christophorus hat das auch nicht gleich gemerkt. Damals war ich sicher, einen guten Beitrag für das Leben meines Volkes zu leisten. Durch meinen Namen `Gottesspeer' war ich aber nicht motiviert. Persönliche Heldentaten und Ehrungen hatte ich auch nicht im Kopf. Ich war immer eher einer aus der zweiten Reihe. Sicher war es auch die Romantik: Weite und Meer, Sturm und Kameradschaft, die mich in die Freiheit, die ich bei der Seefahrt vermutete, lockten."

"Es mag durchaus sein, dass auch ich mich getragen fühlte von der mich umschließenden Klostergemeinschaft und von unserer Bedeutung für das Reich. Ich war ebenso wie du einer von vielen. Doch bin ich auch jetzt noch überzeugt, dass wir den Menschen im Lande tatsächlich einen Dienst leisteten, indem wir den Jungen wichtiges Wissen vermittelten."

"Im Gegensatz zu dir, der du ja schon eine Verantwortung in der Abtei hattest, war ich in dem Alter noch auf dem Gymnasium."

"Ja, mit dem Gegensatz magst du Recht haben. Doch lasse mich dir noch etwas erzählen, was so etwas wie ein Zugriff der Politik in mein Leben bedeutete. Es war der Tod des großen Kaisers Karl. Der war für mich ein Schock. Ich war damals dreizehn Jahre alt und gewohnt, ihn wie ein Abbild Gottes hier auf Erden anzusehen. Wie ihn stellten wir uns Gott auch auf seinem Thron sitzend vor, umgeben von den Engeln, die wie die Höflinge auf seinen Befehl warteten."

"So ist Gott manchmal über dem Hochaltar alter Kirchen dargestellt."

"Und nun hatte `DER EWIG WALTENDE IM HIMMEL', wie unser Volk Gott nannte, seinen Stellvertreter auf Erden sterben lassen. Als junger Mensch denkt man wenig an das Sterben. Aber der Tod des Kaisers rüttelte nun doch an meiner Sorglosigkeit, die alles um mich herum ganz selbstverständlich für die Ewigkeit geschaffen hielt."

"Das hört sich ja wie ein Erdrutsch an, der sich durch den Tod des Kaisers in dir ereignete."

"

Ja, so war das auch. Bedenke bitte: Für uns in Corbie war es selbstverständlich, dass unser Abt zu den einflussreichen Beratern des Kaisers zählte. Nun kam dessen Nachfolger Ludwig, den man schon vor seiner Thronbesteigung `den Frommen' nannte."

"Das müsste euch in Corbie doch gefallen haben, dass der neue Herrscher so fromm war."

"Ja, das sollte man denken. Wir übertrugen auch unsere Achtung ohne Zögern auf ihn. Aber das Erste, was er tat, war, dass er Adalhard, unseren Vater Abt, auf Grund von Verdächtigungen, nach dem Kloster Noirmoutiers auf einer Insel in der Loiremündung verbannte. In Corbie ging das Gerücht um, er sei bei Ludwig in Ungnade, weil er Berater von dessen älterem, aber längst verstorbenen Bruder Pippin gewesen sei."

"Da kann ich mir den Schock ganz gut vorstellen. So krass habe ich damals den Machtwechsel bei uns nicht empfunden. Das lag wohl daran, dass ich nicht so unmittelbar und in meinem engsten Lebensbereich betroffen war."

"Sieben Jahre hatten wir keinen Abt in Corbie, dann kehrte Adalhard wieder zurück. Wer dabei mitgewirkt hatte, weiß ich nicht. Dafür war ich mit meinen jetzt erst 20 Jahren auch noch zu jung."

"Konnte denn der König euren Abt einfach so absetzen? Haben denn die Mönche nicht protestiert?"

"Habt ihr denn damals protestiert, als der Machthaber euch die Menschenrechte stahl? Bedenke, was ich eben sagte, dass der Kaiser für uns wie ein Bild Gottes erschien. Seine Entscheidungen hatten von vorn herein fast den Rang von Ratschlüssen Gottes."

"Mir scheint, hier liegt eine Wurzel des Investiturstreites zwischen den späteren deutschen Königen und den Päpsten."

"Das kann sein. Damals nahmen wir das, wie man höhere Gewalt eben nimmt. Aber wir wählten keinen neuen Abt. Corbie wurde vom Prior geleitet. Wahrscheinlich hatten unsere älteren Mitbrüder fest damit gerechnet, die Vorwürfe gegen Adalhard würden sich aufklären lassen."

"Und wie ging das weiter?"

"Sieben Jahre musste Adalhard in seiner Verbannung bleiben. Dann wurde er rehabilitiert. Damit konnte diese Wunde zwar heilen. Was bei mir blieb, war eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Weisheit der Regierenden. Diese Zurückhaltung wurde noch erheblich größer, als ich erleben musste, dass Ludwig Lieder, Sagen, und Göttergeschichten der Germanen und Kelten, die bei uns mühsam gesammelt worden waren, vernichten ließ. Das traf mich deshalb ziemlich hart, weil ich mich schon früh für alles interessierte, was ich über unsere Vorfahren und ihre Welt hörte. Diese Wunde hat der Nachfolger Karls unserem Volk und seiner Kultur für immer geschlagen. Die verlorenen Texte waren endgültig vernichtet. Nicht nur bei uns, sondern überall im Reich. Du kannst verstehen, dass ich Gott jetzt nicht mehr verdeckt durch die Majestät des Kaisers sah. Von da bis zur Erkenntnis der Vergänglichkeit jeder Macht war es nicht mehr weit."

"Du warst doch aber während der Zeit, als ihr keinen Abt hattet, weiterhin Präfekt an eurer Schule?"

"Ja, das füllte mich auch ganz aus. Mehr noch aber waren es die Ereignisse, von denen ich sprach, die mich schließlich bewogen haben, die Tonsur zu nehmen. Es war so etwas wie eine Bekehrung, eine Befreiung zu dem einzigen Gott."

"Was heißt das: 'Tonsur nehmen'?"

"Das heißt, ich legte vor meinen Brüdern die Ordensgelübde ab und ließ mir zum Zeichen dafür das Haupthaar scheren, sodass nur ein Kranz aus kurzen Haaren um den Kopf herum stehen blieb."

"Jetzt warst du aber ein richtiger Benediktiner?"

"Ja, das wohl, aber ich war weiterhin noch im Studium, in der Ausbildung, wie du wohl sagen würdest. Und ich war auch weiterhin Präfekt."

"Rimbert schreibt in seiner Lebensgeschichte von einem Zwischenfall in dieser Zeit."

"Das war für mich eine schlimme Sache: Ich hatte für einen kleinen Moment meine Aufmerksamkeit auf einen Text gerichtet, den ich eben las, da schlug einer der Burschen seinem Nachbarn, der Fulbert hieß, mit der Schiefertafel, auf denen das Schreiben geübt wurde, so unglücklich auf den Kopf, dass er blutüberströmt zusammenbrach."

"Rimbert erzählt von einer Vision, die du gehabt hättest."

"Der Junge starb nicht gleich, sondern wurde auf unsere Infirmerie, das ist die Krankenstation, gebracht. Dort besuchte ich ihn regelmäßig und, wann immer die Mönche miteinander beteten, dachte ich an ihn. Er selbst trug seine Schmerzen mit sehr viel Geduld und ohne Zorn auf seinen `Feind'. Bald war nicht mehr daran zu zweifeln, dass Fulbert sterben würde. Zu meiner Verwunderung erfuhr ich, dass die Todesnot des Jungen ihn für mich aus der Schar der anderen aussonderte und ihm in meinem Herzen einen besonderen Platz verschaffte."

"Ich glaube, ich habe so ähnliche Erfahrung gemacht, als meine Enkeltochter Susanne lebensgefährlich erkrankte. Von dem Augenblick an, in dem ich das erfuhr, rückte sie vor allen anderen Kindern auf den ersten Platz. Sie wurde mir die `Nächste' in der eigentlichen Bedeutung."

Hier entstand eine Pause, als seien wir beide mit unseren Erinnerungen beschäftigt. Dann fuhr Ansgar fort:

"Ich musste darüber nachdenken, was es wohl bedeute, wenn wir mit Jesus beteten: `Dein Wille geschehe!' Ich war mir ganz sicher, dass Gott unser Leben und unser Glück wolle. Aber es fiel mir sehr schwer einzusehen, dass es des Jungen Glück sei, wenn er jetzt starb. War das sein Leben? Was würde mit ihm geschehen, wenn er seine Augen für immer geschlossen hatte? Durch den Tod des Königs war ich zu Gott bekehrt worden. Durch den Tod Fulberts kam ich näher zu Jesus. Hatte er sich nicht Gott ausgeliefert im Vertrauen darauf, dass der Vater ihn retten werde? Ich wusste auf einmal sicher, dass der auch Leben und Glück dieses Jungen retten würde. Wie wenn ein Blitz einen dunklen Raum plötzlich erhellt, erkannte ich, dass Jesus uns alle zu einem glücklichen Leben erretten wird. Als mein Mitbruder Witmar mir den Tod des Jungen mitteilen wollte, wunderte er sich, weil ich, wie er meinte, schon `alles' wusste. Ja, ich wusste nun mehr, als er mir sagen konnte."

CORVEY

"Wenn ich Rimbert richtig verstehe, hat man dir wegen Fulberts Tod keine Vorwürfe gemacht."

"Nein, und das Leben in Corbie ging nach diesem schlimmen Ereignis bald wie gewohnt weiter. Doch als der nach sieben Jahren rehabilitierte Vater Abt Adelhard wieder zu uns zurückgekehrt war, ging er sofort an die Ausführung eines Planes, an dem er schon vor seiner Verbannung gearbeitet hatte: Die Gründung einer Abtei an der Weser. Sie sollte ein neues Corbie sein. Der Name wandelte sich später in Corvey."

"So heißt es heute noch. Allerdings ist es keine Abtei mehr. Ich kenne es. Etwas flussabwärts von Höxter liegt es. Bei der Durchführung des Planes Adelhards kamst dann du ins Spiel?"

"Klar, als der Vater Abt uns jüngere Brüder fragte, wer mitmachen wollte, habe ich mich auch gemeldet."

"Das kann ich gut verstehen. Als ich bei den Gesprächen zur Einstellung in die Marine gefragt wurde, ob ich auch Seeflieger werden würde, war ich sofort einverstanden."

"Und du bist es auch geworden?"

"Ja, für einige Zeit. Ich wurde zum Seebeobachter ausgebildet und bin auch im Kriege als solcher geflogen. Wir mussten nach feindlichen Schiffen Ausschau halten, die unseren eigenen vielleicht gefährlich werden konnten."

"Da konntet ihr, wie Vögel, von oben sehen, was unten auf dem Wasser geschah? Das hätte ich auch gerne gekonnt, als die Wikinger kamen. Ihretwegen habe ich Seefahrt und Seeräuberei fast gleichgesetzt."

"So hat es ja auch Goethe noch gesehen. Heute ist das nicht mehr richtig. Jedenfalls nicht in regulären Streitkräften. Aber wir wollen uns nicht in das Thema verlieren! Lieber möchte ich noch etwas über die weitere Entwicklung in Corbie erfahren. Deine Zustimmung zu Corvey war, wie ich zu erraten glaube, nicht nur Gehorsam dem Abt gegenüber. Dich lockte auch etwas, stimmt's? Oder hast du seine Anfrage als Stimme Gottes empfunden?"

"Ja, ich habe mich für Corvey entschieden, aber erst als ich sicher war, dass ich das Gelübde der Stabilität nicht leichtfertig preisgab, sondern dass ich einer Notwendigkeit und dem Auftrag von Vater Abt entsprach."

"Was bedeutete denn Stabilität für dich?"

"Anscheinend weißt du nicht, dass ein Benediktiner sich für eine bestimmte Abtei entscheidet, in die er eintritt. Dabei verspricht er, diese Abtei nicht wieder zu verlassen. Damit hatte Benedikt, der Ordensgründer, einem mönchischen Vagantentum, das sich zu seiner Zeit unheilvoll gezeigt hatte, Einhalt gebieten wollen. Als die Wahl des Kapitels mit einigen anderen auf mich fiel, und Vater Abt mir den Auftrag gab, war ich sicher, dass ich nach Corvey gehen sollte. Es gab keinen Zweifel mehr. Ich will nicht leugnen, dass auch ein bisschen Abenteuerlust dabei war. Das vermute ich aber auch bei dir mit deiner Entscheidung für die Flieger."

"Das will ich nicht abstreiten. Ähnliche Entscheidungen kamen, wenn auch nicht ganz frei, später auch noch. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass man auch frei entscheiden kann, ohne eine echte Wahlmöglichkeit zu haben. Vielleicht hast du das in deinem abenteuerreichen Leben auch schon mal so empfunden. Für die Fahrt an die Weser stelle ich mir vor, dass sie für dich eine Reise in ein sehr gefährliches Gebiet gewesen sein muss. Oder wie hast du das gesehen?"

"Ich war damals, wir schrieben das Jahr 822, ganze 21 Jahre. In dem Alter erscheinen alle Schwierigkeiten klein, solange sie noch weit genug weg liegen. Vor 18 Jahren war der Krieg gegen die Sachsen zu Ende gegangen. Organisierten Widerstand gab es nicht mehr. Aber die Brüder, die als Erkunder an der Weser gewesen waren, erzählten nicht nur von der schönen, fruchtbaren Gegend, sondern auch von unruhigen oder wenig freundlichen heidnischen Bewohnern."

"Das hätte ich wohl auch erwartet. Die Verhältnisse dort werden wohl damals ähnlich unklar gewesen sein wie heute vielleicht die auf dem Balkan."

"Dazu kam noch, dass die Sachsen, noch mehr als die Franken etwa, an der Blutrache festhielten und eine fatalistische Einstellung zum Tode haben mochten, wie sie in germanischen Sagen immer wieder zum Ausdruck kommt."

"Die geplante Gründung lag ja noch im Machtbereich König Ludwigs. Aber es war für mich nur schwer einzuschätzen, wie die staatliche Ordnung tatsächlich aussah. Hildesheim war ja erst um 815 gegründet, also noch keine 10 Jahre alt. Wenn ich an die Legende vom Rosenstock denke, dann dürfte die Gegend dort noch überwiegend wilder Wald gewesen sein, als Ihr Corvey gründetet. Unmittelbar an der Weser wird es auch nur spärliche Besiedlung gegeben haben. Umso mehr bewundere ich deinen Abt Adalhard, der schon vor seiner Verbannung an die Gründung einer Abtei an der Weser gedacht hatte. Ohne Zweifel ein Vorstoß in eine feindliche Welt! Aber wie ging das nun in Corbie weiter?"

"Die anderen ausgewählten Mitbrüder und ich, wir machten uns nun mit Feuereifer an die Vorbereitungen für die Gründung an der Weser. Natürlich unter der Leitung schon erfahrener Patres."

"Du kamst, wie ich mir das vorstelle, an die Ostgrenze des Reiches."

"Nicht ganz. Die verlief eher entlang der Elbe, ja im Norden sogar an der Eider und Schlei. Aber die Weser markierte doch für uns so etwas wie die Grenze der Zivilisation. Es war das Land Widukinds, der König Karl so lange erbitterten Widerstand geleistet hatte. Das Heidentum war bei den Bauern noch sehr lebendig."

"Darüber musst du mir erzählen. Ich hab' ein bisschen in den Sagas geschmökert. Manches daraus könnte ich mir vorstellen, als wäre es bei den Sachsen geschehen. In dem Alter, in dem du nach Corvey reistest, machte ich im Rahmen der Ausbildung eine Reise mit einem Kriegsschiff nach Spanien und in den mittleren Atlantik, danach ging ich wieder auf mehrere Schulen, dann nochmals auf ein Schiff und mit dem nach England, Spanien, ins Mittelmeer und in die Ostsee."

"Waren das Kriegsfahrten?"

"Nein, jedenfalls nicht im strengen Sinne. Nur beim zweiten Mal in Spanien und Mittelmeer gab es Schutzaufgaben, aber keine Kämpfe."

"Das kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Wann wurdest du denn Flieger?"

"Gleich danach war ich ein Jahr in der Ausbildung dazu."

"O je, wie alt warst du denn, als du endlich eine Aufgabe übernehmen konntest?"

"Fast 24 Jahre"

"So alt war ich, als ich in Corvey als Priestermönch anfing."

"Halt mal! Mit 24 warst du schon Priester? Ich dachte immer, die Benediktiner hätten nur sehr wenige Brüder zu Priestern weihen lassen. Hattest du denn eine besondere Aufgabe, zu der du Priester sein musstest?"

"Ja, ich sollte die Erziehung der Jungen aus der Bevölkerung übernehmen."

"Ach so! Hattet ihr denn so bald schon die Gebäude dazu?"

"Na, ja. das war das eine. Aber wir konnten ja nicht einfach eine Schule aufmachen, sondern mussten den Leuten erst einmal klar machen, dass eine Schule für sie von Vorteil sei. Bei der Annäherung an die Menschen halfen uns unsere Brüder, wenn sie den Leuten ihre Kenntnisse in der Landwirtschaft weiter vermittelten. Es dauerte natürlich seine Zeit, bis das Vertrauen so weit hergestellt war, dass wir über die Schule mit Ihnen reden konnten. Bei der Werbung sollte der künftige Lehrer dabei sein, damit jeder ihn kennenlernen konnte. Als Priester sollte ich dabei natürlich auch unsere christliche Botschaft verkünden. Ich glaube, ihr würdet heute den Kopf schütteln, wenn ihr unsere Art der Verkündigung erleben könntet."

"Hast du dafür vielleicht ein Beispiel, damit ich mir das etwas besser vorstellen kann?"

"Es gibt dafür aus der Zeit und auch der Gegend noch ein Dokument. Es ist der "Heliand", eine biblische Geschichte in Versen. Wenn unsere Brüder ihre Unterhaltungen über die Feldarbeit oder die Viehzucht in den Dörfern und Weilern hatten, dann zog ich mit und machte noch etwas Programm mit den gesungenen Heldengedichten von Jesus. Und die Leute hörten zu und lernten Jesus und mich kennen."

"Kannst du mir eine Kostprobe davon geben?"

"Kann ich, aber ich muss sie in deiner Sprache bringen, denn die altsächsische verständest du doch nicht."

"Einverstanden! Also los!"

"Stelle dir eine Scheune vor oder eine Halle, in der 20 oder 30 Menschen zusammensitzen. Männer, Frauen und Kinder. Der Raum nur schwach durch Kien erleuchtet. Solange es noch Tag war, waren die Felder oder die Weiden besichtigt worden, jetzt wartete alles auf unser "Programm". Vor diesem Hintergrund jetzt die Kostprobe:

DAS UNKRAUT IM ACKER

Es stand eine gewaltige Schar um das Gotteskind,
hörte ihn in Gleichnissen viel von dem Wesen dieser Welt
mit Worten zu erzählen. Er sagte, dass ein Adelsmann
den Acker säte, lauter reines Korn
mit der Rechten sein, wollte da so trefflichen
Ertrag erlangen, erfreuliche Frucht.
Da ging der Feind ihm nach voll übler Arglist
und säte Unkraut darüber, schlimmstes Schadengewächs.
Da erschien wachsend das Korn und das Kraut.
Da kamen gegangen die Arbeitsmänner heim;
und zu dem Eigner sagten sie, die Degen zu ihrem Dienstherrn,
in derben Worten: "Wie du säest lauter Korn,
mein lieber Herr, reines in deinen Acker,
und nun sieht der Recken jeder Unkraut aufkeimen;
wie mochte das angehen wohl?"

In diesem Stil ging das noch weiter. Du kennst ja das Evangelium von dem Unkraut im Weizen. Das war ja auch Thema für die Bauern. Wie gefällt es dir?"

"Sicherlich hast du im Gottesdienst auch so ähnlich gepredigt. Damit müsstest du den richtigen Ton getroffen haben, den die Leute verstehen konnten."

"Ja, das glaube ich auch. Immerhin ist das Volk der Sachsen schon 919 in der Lage gewesen, mit Heinrich I den deutschen König zu stellen. Daran hat auch Corvey und seine Mission einen erheblichen Anteil. Ich darf aber nicht verschweigen, dass ich unter der Leitung meines älteren Mitbruders Paschasius Radbert stand, der mir schon in St.Peter zu Corbie Lehrer und Erzieher gewesen war. Sein Mut und seine Ideen waren es, die uns fähig machten, solche Wege zu gehen."

"Corvey hätte für dich doch auch ein lohnendes Wirkungsfeld werden können. Aber deine Zeit dort war ja nicht eben sehr lang. 822 war das Gründungsdatum. Wenn man auch damit rechnen darf, dass der Prior von Corbie auch während der Verbannung des Abtes an der Gründung weiter gearbeitet hat."

"Deine Vermutung ist richtig. Der Prior war übrigens Wala, der Bruder Adalhards."

"Aber trotzdem konnte die Schule doch frühestens erst etwa 824 den Lehrbetrieb aufnehmen. Doch schon zwei Jahre später trat das Ereignis ein, das dein weiteres Leben in eine entscheidend neue Richtung lenkte."

"Ja, da erlebte ich das, was du vorhin einmal `freiwillige Entscheidung ohne Alternative' nanntest:" ?

KÖNIG HARALD

"Was spielte sich denn damals ab? Oder wie kam es zu dieser neuen Wende deines Lebensweges?"

"Manches davon habe ich nie erfahren. Manches erst lange nach den Ereignissen. Ich will mal anfangen mit dem Hoftag 826 zu Ingelheim. Einen solchen Hoftag gab es in der Regel zweimal im Jahr. Der Kaiser sammelte dazu außer seinen ständigen Beratern auch noch solche um sich, mit denen er besondere politische Fragen behandeln konnte, die gerade anstanden. Diesmal war Wala, unser neuer Abt von Corbie, dabei, denn es sollte um die Mission in den nördlichen Ländern gehen. Er war seinem Bruder Adalhard nachgefolgt, als der gestorben war."

"Ingelheim, das weiß ich, liegt zwischen Bingen und Mainz. Wie kam den Kaiser nur auf dieses Nest als Beratungsort?"

"Ingelheim war schon unter Karl eine große Pfalz, wo er oft getagt hat. So also auch Ludwig."

"War denn Aachen nicht die Hauptstadt des Reiches?"

"Eine Hauptstadt hatten wir überhaupt nicht. Die Kaiser waren immer unterwegs von einem Landesteil zum anderen. In den Pfalzen erhielt der Herrscher und sein Tross von den Pfalzgrafen Unterkunft, Verpflegung, Arbeitsmöglichkeiten. Natürlich auch vielerlei Unterhaltung und Kurzweil."

"Nochmal, warum hatte der Kaiser denn keine Hauptstadt. Ich dachte immer, das wäre Aachen gewesen."

"Nein, das ging gar nicht. Bedenke, dass in den Wirren der Völkerwanderung die römische Grundorganisation der Länder fast ganz zerstört worden war. Nachrichtenverbindungen konnten nur durch reitende Kuriere aufrechterhalten werden. Die Sicherheit ließ auf weiten Strecken zu wünschen übrig. Das bedeutete auch, dass die Macht des Kaisers mit der Entfernung deutlich abnahm. So musste der oft persönlich in Erscheinung treten, um unliebsamen Tendenzen rechtzeitig entgegentreten zu können. Dazu kommt noch, dass die Versorgung einer so beträchtlichen Menge Menschen, die für die politischen Geschäfte und für die Sicherheit erforderlich waren, ein Dauerproblem war. Die Vorräte in einer Pfalz waren schnell verbraucht und der Antransport über größere Entfernungen sehr schwierig. So verlegte der Herrscher seinen Regierungssitz von Pfalz zu Pfalz, wie es die politische Lage erforderlich und die Versorgung möglich machte."

"Und nun war er also in Ingelheim?"

"Ja, Ingelheim war eine besonders prächtige Pfalz. Dort gab es für Ludwig auch die Repräsentationsmöglichkeiten, die er für den Zweck, über den wir jetzt sprechen wollen, sicher gern in Anspruch nahm."

"Was geschah denn nun dort?"

"Ich sagte schon, dass ich vieles erst hinterher erfahren habe. Aber höre: Als die Sachsen sich 8o4 dem Kaiser unterwarfen, taten sie das auch in der Hoffnung, dass ihre Nordgrenze durch die Politik und die Macht Karls gesichert werden könnte. Der kam seinen Verpflichtungen dadurch nach, dass er den Abodriten, die nördlich der Elbe wohnten, eine Art Sicherheitsgarantie gegen Übergriffe der Dänen gab. Damit hatte es aber seine Schwierigkeiten. Denn im Jahre 808 verstärkte der Dänenkönig Göttrick seinen Druck auf die Abodriten erheblich, ohne dass Karl es nachhaltig verhindern konnte. Beide Seiten bauten an der Stör und an der Treene Verteidigungswerke. Göttrick gab sich damit aber nicht zufrieden, sondern ließ seine Drachenboote Friesland und das Abodritenland von der See her überfallen und plündern. Die Sache schien fast aussichtslos. Zwar richtete Karl überall Küstenwachen ein und baute eine Flotte zur Abwehr der Dänen. Nach meinen späteren eigenen Erfahrungen bezweifele ich, dass diese Maßnahmen wirklich gereicht hätten. Aber zum Glück für Karl wurde Göttrick 810 ermordet. Der Nachfolger Hemming schloss Frieden. Vielleicht weil er nach Außen Ruhe brauchte. Das war im Jahre 811. Die Verhältnisse änderten sich zunächst wohl nicht wesentlich bis Ludwig Kaiser geworden war. Der aber wurde auf seine Weise tätig, indem er den Erzbischof Ebo von Reims 822 zum päpstlichen Legaten für den Norden ernennen ließ. Dieser eröffnete gleich im Jahr darauf zusammen mit Bischof Willerich von Bremen die nordische Mission."

"Das war aber, wenn ich mir die gespannte Grenzlage betrachte, ein kühnes Unterfangen."

"Du musst nicht annehmen, dass die Berührungen der Dänen mit dem Reich sich in feindseligen Aktionen erschöpft hätten. Dazu waren die nordischen Länder auch für Kaufleute als Markt und Lieferant von Handelswaren viel zu interessant. Der Handelsplatz Haitabu an der Schlei hatte einen Ruf, der bis Persien gehört wurde. So waren auch immer wieder kleine Gruppen von Dänen am Kaiserhof. Darunter auch Politiker wie Harald. Ebo hatte anscheinend schon oft Gespräche mit ihnen geführt und war ziemlich betroffen von der Dunkelheit ihrer religiösen Vorstellungen. Ich selbst habe davon später allerhand erfahren müssen. Ebo hat wohl mehrere Reisen nach Dänemark gemacht und hatte 826 einen ersten Erfolg. Harald, einer der dänischen Teilkönige, reiste in seiner Begleitung nach Mainz und ließ sich dort taufen. Das war, wie du dir wohl denken kannst, ein Ereignis, das die Einberufung von besonderen Beratern, wie den Abt von Corbie, nach Ingelheim verständlich machte."

"Du wurdest auch nach Ingelheim gerufen?"

"Ich denke mir, das wird wohl so gelaufen sein, dass Ludwig die Lage in Dänemark für günstig hielt, und nun auch handeln wollte. Ebo fühlte sich selbst als Erzbischof für die nun erforderliche Missionsarbeit unter den Dänen nicht unabhängig genug. Er behielt wohl gerne die Leitung der Mission, und er hat im Laufe der Zeit noch viel für sie getan, aber er suchte Missionare, die in Dänemark bleiben konnten. Dieser Gedanke entsprach sowohl den Vorstellungen des großen Karl, der schon die Bistümer Paderborn, Münster und Bremen für die Nordische Mission vorgesehen hatte, wie auch denen Ludwigs, der bei Harald Taufpate wurde."

"War denn die Bekehrung Haralds nicht vielleicht eine einzelne Schwalbe oder gab es Gründe für den Optimismus bezüglich eines generellen Missionserfolges im Norden?"

"In Ingelheim erfuhr ich, dass die Taufe ein großartiges Ereignis war. Stelle dir vor: Nicht nur der Kaiser wurde Taufpate bei Harald, sondern die Kaiserin bei der Königin, und die übrigen hohen Würdenträger bei den einzelnen Mitgliedern der dänischen Delegation. Zusammen etwa 400 Seelen."

"Ich kann mir denken, dass man in Ingelheim schon verstand, Feste zu feiern. Aber da warst du wohl noch nicht dabei?"

"Nein, aber Ebo glaubte, der Zeitpunkt sei gekommen, die Mission nach Dänemark hineinzutragen. Sicherlich hat er sich beim Kaiser dafür eingesetzt und dessen Zustimmung erhalten."

"Und nun brauchte er dich."

"Na, er kannte mich doch gar nicht! Ich war Mönch und Schulmeister in einer gerade im Entstehen begriffenen Abtei an der Weser. In der Versammlung scheinen Ebo und der Kaiser aber in Schwierigkeiten gekommen zu sein, weil niemand einen geeigneten Missionar für das von vielen für barbarisch gehaltene Dänemark benennen wollte. Da schlug Abt Wala, der auch noch für uns in Corvey zuständig war, mich vor. Dieser Vorschlag scheint eine allgemeine Erleichterung ausgelöst zu haben. Jedenfalls blieben Bedenken wegen meiner Jugend und Unerfahrenheit, oder die Bedürfnisse unserer Neugründung an der Weser offenbar unberücksichtigt. Ich wurde dem eben getauften Harald als Seelsorger beigegeben, aber mit dem Gedanken, den Heiden in den Nordländern die Gute Botschaft von Jesus zu bringen."

"Und du, was hast du dazu gesagt?"

"Ich? Wala sandte mir durch kaiserlichen Kurier Ludwigs Order, unverzüglich nach Ingelheim zu kommen. In Ingelheim lernte ich dann die Dänen kennen."

"Ich merke schon. Deine freie Entscheidung fiel ohne Zögern für die Mission und es war eine von den freien Entscheidungen ohne Alternative. Auch du hast die `Bedürfnisse der neuen Abtei an der Weser' sofort vergessen, als du die größere Aufgabe in Dänemark gesehen hast? Ich weiß, wie bald objektive Gegengründe unbedeutend werden, wenn neue, größere Ziele auftauchen, für die man sich `frei' entscheidet."

"Ja, so ist es. Ich hatte sogar ein schlechtes Gewissen. Ich musste ja wieder die Stabilitas Benedikts zur Seite schieben. Und ich musste eine große Aufgabe in der neuen Abtei im Stich lassen. Aber es gab kein Zögern."

"Ich kann dich gut verstehen. Wenn ich versuchen wollte, dir von ähnlichen `freien' Entscheidungen in meinem Leben zu erzählen, so wüsste ich gar nicht, wie ich das anfangen sollte. So viele wären es. Allerdings sind keine dabei gewesen, die wie die deine eine ganz neue Entwicklung eingeleitet haben."

"Na, na! Ich glaube, ich weiß aber eine."

"Da, bin ich neugierig, welche du meinen könntest."

"Ich meine die Entscheidung für deine Frau. Sie war sicherlich frei, oder hattest du eine Alternative? Ja wolltest du überhaupt eine gehabt haben?"

"Ja, da hast du recht! In meinem Horizont wurde durch diese `freie' Entscheidung eine Entwicklung eingeleitet, die für immer mehr Menschen Leben bedeutete. Mit dir kann ich mich aber keineswegs vergleichen."

"Warum meinst du das?"

"Ich habe in den geographischen Darstellungen Adams von Bremen gelesen, und mich eingefühlt in die Vorstellungen, die der von der Welt um die Ostsee hatte. Da konnte man schon eine Gänsehaut bekommen, wenn man in diese Welt reisen sollte."

"Adam von Bremen hat lange nach meiner Zeit gelebt, ich war auf die Reiseberichte von Kaufleuten angewiesen, die sicherlich auch schon mal geflunkert haben, um die Konkurrenz abzuschrecken."

"Ja, Adam von Bremen hat später gelebt. Aber ich dachte mir, seine Schauererzählungen werden zu deiner Zeit erst recht im Schwange gewesen sein. Ganz allgemein ist von barbarischen Völkern und von Seeräubern die Rede, aber auch von Amazonen und hundeköpfigen Männern. Für dich waren das alles zusammen Aussichten, die einem die Haare zu Berge stehen lassen konnten. Du hattest kaum andere Quellen, als solche Berichte."

"Das stimmt, solche Erzählungen hatte ich auch gehört. Sie ähnelten ja den Berichten antiker Schriftsteller, wie Tacitus oder Vergil. Ich will auch nicht bestreiten, dass ich einigermaßen besorgt war. Auch Abt Wala zögerte offenbar unter dem Eindruck der Gefahren, die er erwartete, und überließ mir allein die Entscheidung."

"Was haben denn deine Mitbrüder dazu gesagt?"

"Da gab es nicht wenige, die mit Abt Wala aus Corbie gekommen waren, die mich bedauerten. Nur ein Bruder war dabei, der anders dachte. Eines Tages hatte ich mich in die Weinberge bei der Pfalz zurückgezogen, um dem Geschwätz der anderen zu entgehen. Da ist er, Autbert hieß er, mir nachgegangen und hat mich gebeten, ihn auf meine Missionsreise mitzunehmen. Ich war natürlich froh über diese Unterstützung. Wala dagegen passte das gar nicht, weil Autbert aus adeligem Hause stammte und daher für die Übernahme hoher Ämter im Orden in Frage kam."

"Das kommt mir bekannt vor. Auch bei uns wollte das Personalamt nicht gerne solche Leute an der Front verbrauchen, die vielleicht später an leitender Stelle dringend benötigt wurden."

"Wie dem auch sei, Autbert setzte sich durch und erhielt Walas Genehmigung mitzureisen. Der Kaiser war natürlich froh und stattete uns mit Kirchengeräten, Zelten, und anderen nützlichen Dingen aus. Er war sich klar, dass Harald zwar getauft, aber noch lange kein Christ war, und ermahnte uns beide, alles daran zu setzen, ihn auf dem Wege dahin zu fördern."

"Ging die Reise nun los?"

"Die war zuerst ziemlich strapaziös, weil wir auf den Booten Haralds kaum Platz fanden. Die Dänen waren auch nicht gesonnen, uns sonderlich aufmerksam zu behandeln. Da waren wir selbst von fränkischen oder sächsischen Kriegern anderes gewohnt. Glücklicherweise bemerkte der Erzbischof Hadubrant in Köln unsere Schwierigkeiten und schenkte uns ein ordentliches Schiff zum Verstauen unserer Sachen. Das erhöhte unser Ansehen bei den Dänen erheblich. Harald selbst zog von seinem Schiff auf das unsere. Von da ab wurden wir erst richtig in die Reisegesellschaft aufgenommen."

"Und wie ging es weiter?"

"Von Köln reisten wir weiter den Rhein und dann den Lek abwärts bis Dorstadt, von dort auf dem Landwege durch Friesland bis zu einem Gut, das der Kaiser dem Harald zu Lehen gegeben hatte, damit er eine Basis hätte, die ihn politisch unabhängiger machte. Das erwies sich bald als sehr günstig für uns, denn Harald wurde in seiner Heimat ziemlich frostig empfangen. Er konnte nicht einmal nach Dänemark hinein."

"Konntet ihr denn nun noch etwas machen oder warst du jetzt der Hofkaplan eines Königs im Exil?"

"Es war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, aber die Situation war auch nicht so schlecht, wie du sie dir vorstellst. Die Grenzen waren nicht vollständig geschlossen. Wir konnten sowohl unter den Menschen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, wie auch unter Dänen die Gute Botschaft von Jesus dem Heiland der Welt verkünden. Wir taten es auf ähnliche Weise, wie wir es schon von Corvey aus getan hatten. Ziemlich bald hatten wir sogar Erfolg. Ich konnte eine Schule mit etwa einem Dutzend Schülern eröffnen. Allerdings waren dabei auch Jungen, die bei Plünderungen in Friesland von Dänen geraubt und von uns frei gekauft waren."

"Das hört sich ja ganz gut an. Nur, wenn ich Rimbert lese, so musstest du dich schon 829 erneut für etwas Neues entscheiden. Eine Gesandtschaft aus Schweden soll den Kaiser um Missionare gebeten haben."

"Ja, so bin ich auch unterrichtet. Meine Vorgesetzten, Ebo wie Wala, gerieten dadurch in noch größere Schwierigkeiten. Sie wollten auf gar keinen Fall, einen Priester gegen seinen ausdrücklichen Wunsch in Abenteuer stürzen. Du musst dir vorstellen, dass diese Herren den Gerüchten von den wilden Menschen noch mehr Gewicht gaben als wir Jungen. Nun kam anscheinend der Kaiser auf den Gedanken, mich nach Schweden zu schicken und einen anderen für die Betreuung Haralds zu gewinnen, was er offenbar für nicht so gefährlich hielt."

"Dort war doch Autbert. Oder sollte der auch mit nach Schweden?"

"Nein, Autbert war krank geworden und musste nach Corvey gebracht werden. Dort ist er leider Ostern 829, ein Vierteljahr bevor die schwedische Gesandtschaft beim Kaiser eintraf gestorben."

"Oh, das muss dich sehr getroffen haben."

"Ja, das hat es auch."

"Also musste ein Nachfolger für dich bei Harald gefunden werden und du selbst solltest nach Schweden. Aber du bist wenigstens gefragt worden, oder nicht?"

"Doch, gefragt wurde ich. Aber es war wieder eine Entscheidung ohne Alternative."

"Mir kommt es aber auch so vor, als seiest du einer wie ich, der sich immer dann zu seinen freien Entscheidungen gerufen fühlt, wenn die anderen, in deren Schatten er bisher gestanden, nicht mehr da sind. Solche Erfahrungen habe ich auch gemacht."

"Es ist ja am Ende alles gut gegangen bei uns."

"Bei mir nicht. Und es deprimiert mich heute noch, dass ich wenigstens das eine Mal nicht Nein gesagt habe, weil ich keine Alternative gesehen habe. Aber die hätte es gegeben. Doch lassen wir das, damit wir nicht von deiner Schwedenreise abkommen."

"Ich wurde also wieder an den Hof berufen. Ich ahnte schon, was auf mich zukam und war daher nicht sehr überrascht, als der Kaiser mich fragte, ob ich die Aufgabe in Schweden übernehmen wollte. Ich wandte nur ein, dass Harald nun nach Autberts Tode ganz ohne Betreuung sei, und auch die eben begonnene Schule wieder eingehen müsse. Aber Wala, der mich zum Kaiser begleitete, hatte dafür schon eine Lösung. Er wollte den Pater Giselmar zu Harald entsenden, um die dortige Arbeit fortzusetzen. Außerdem wollte er den Mönch Witmar nach Schweden mitgeben. Witmar hatte sich schon dazu bereit erklärt."

"Da hattest du keine Wahl mehr oder?"

"Ich hatte tatsächlich rechtlich die Möglichkeit, abzulehnen. Es war für mich auch keine Kleinigkeit, meine Schüler und auch Harald und seine Leute einem anderen zu überlassen. Aber, wenn ich doch der Einzige war, der für Schweden in Frage kam, wie hätte ich dann eine Weigerung vor Jesus, meinem einzigen Herrn, verantworten sollen?" ?

IN SCHWEDEN

"Seid ihr, Witmar und du, nun wieder mit der schwedischen Gesandtschaft nach Schweden gereist?"

"Ja, diese Gesandtschaft hatte allerdings nicht den Rang wie die dänische mit Harald, und sie hatte darum auch nicht die Bedeckung. Wir fuhren vielmehr mit Handelsleuten zusammen, die gemeinsam reisten, um sich besser schützen zu können. Das waren zwar durchaus harte Burschen, wie ich sehr bald feststellen konnte, aber es waren keine Krieger."

"Rimbert berichtet von einem Überfall."

"Ja, als wir schon unter der Küste Schwedens segelten, wurden wir von Seeräubern angegriffen. Einen ersten Angriff schlugen unsere Leute zurück. Aber offenbar hatten sie aus unserem Verhalten geschlossen, dass ein neuer Angriff sich lohnen könnte. Sie kamen jedenfalls wieder und diesmal mit mehr Schiffen. Da nutzte alle Tapferkeit nichts. Wir wurden überwältigt und ins Wasser gestoßen. Dabei verloren die Kaufleute alles, was sie an Waren mit sich führten, und wir die wertvollen Altargeräte und Bücher. Natürlich gingen auch die Geschenke, die der Kaiser uns für den schwedischen König mitgegeben hatte an die Räuber verloren. Wir selber schwammen im Wasser, konnten aber, da wir dicht unter der Küste waren, Land erreichen. Niemand verfolgte uns. Es lohnte sich für die Seeräuber nicht. Sie hatten zu tun, die Beute in ihre Schlupfwinkel zu bringen. Davon gab es massenhaft zwischen den Schären, die vor dem schwedischen Festland liegen."

"Ich bin in meiner Marinezeit auch in Seenot geraten und musste schwimmen. Ich kann eure Situation sehr gut mitfühlen. Hat denn der schwedische König die Räuber später verfolgt und Euer Eigentum zurückgeholt?"

"Wir hatten natürlich jetzt ganz andere Sorgen. Nass, hungrig, müde, wie wir waren, suchten wir zunächst nach Menschen, die uns etwas zu essen gaben, und an deren Herdfeuer wir uns trocknen und erholen konnten. Von ihnen erfuhren wir auch, dass der Weg bis zum Königshof noch recht weit und gefahrvoll war. Wir mussten ja nun zu Fuß über Land wandern. Manche von den Kaufleuten sahen in einer Weiterreise keinen Sinn mehr, weil sie alles verloren hatten, mit dem sie im fremden Land Handel treiben wollten. Sie versuchten, in ihre Heimat am Rhein zurückzukehren. Ob sie das je geschafft haben, konnte ich nie erfahren. Wir beide aber entschieden uns, mit den Gesandten des Königs und den schwedischen Kaufleuten weiter zu ziehen."

"Da haben diese Gesandten doch aber wenigstens bei eurem weiteren Weg etwas behilflich sein können."

"Ja, natürlich. Sie waren ja immerhin nicht ganz unbekannt. Aber auch nicht unbedingt beliebt. Du musst dir die politischen Verhältnisse in Schweden nicht sehr geordnet vorstellen. In Karls oder Ludwigs Reich, wo die Grafen in ihren Gauen für Ordnung und Sicherheit sorgten, wäre die Hilfe sicherer gewesen. Die schwedischen Könige gründeten ihre Macht auf den Waffen und der Treue ihrer Berserker."

"Was sind denn das für Leute?"

"Das sind besonders wagehalsige und harte Kämpfer. Sie sitzen mit in der Halle des Königs. Dort haben sie ihren Lebensunterhalt. Die Aufträge führen sie mit rauer Gewalt aus. Die Leute glauben, die Berserker könnten sich in Bären verwandeln."

"In Bären? Glaubten die Leute das wirklich?"

"Na, mindestens drückt das ihre Furcht vor dem erbarmungslosen Vorgehen gegen jeden Widerstand aus. Die Leute in den Wäldern Schwedens glaubten natürlich noch an ganz andere Fabeln. Wie sollten sie auch anders. Waren sie doch der Natur auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie mussten sich deren Kräfte und Erscheinungen irgendwie vorstellen. Als menschenfressende Riesen, als wohltätige Feen, als böse Hexen, als Trolle und Zwerge."

"Ich glaube, Reste solcher Vorstellungen gibt es auch zu meiner Zeit noch."

"Als ich mich auf die Reise nach Schweden vorbereitete, erzählten mir selbst im Rheinland Leute, die behaupteten ganz sicher unterrichtet zu sein, von Menschenfressern und Menschen mit nur einem Bein. Ich glaube, die wenigen Kaufleute, die von Haitabu, dem guten Hafen an der Schlei, in die baltischen Länder fuhren, hatten auch ihre Gründe, die Gefahren dieser Gegenden zu übertreiben. Mancher Konkurrent ließ sich dadurch abschrecken."

"Das wäre auch eine Erklärung für die Fantasiegeschichten, die Adam von Bremen 200 Jahre nach dir in seiner hamburgischen Kirchengeschichte über die baltische See und ihre Randgebiete geschrieben hat. Aber lasse uns zurückkommen zu deiner Reise zum König!"

"Ich will dir nicht alle Einzelheiten der mühseligen Fahrt erzählen. Wir kamen schließlich in dem Hafenort Birka an. Die Gesandten des Königs Björn erstatten Bericht über ihre Reise zu Kaiser Ludwig. Für unsere Sendung war es von besonderer Bedeutung, dass sie offenbar unsere Mission als eine freundliche Antwort unseres Kaisers auf ihre eigene Bitte darstellten. Wir wurden jedenfalls in die Königshalle geführt. Die musst du dir als Wohnung der Königsfamilie, Fest- und Gerichtssaal, sowie auch als Unterkunft der Berserker vorstellen."

"So wart ihr also glücklich angekommen beim schwedischen König. Wie habt ihr nun in dem fremden Land eure Missionstätigkeit aufgenommen? Das stelle ich mir sehr schwer vor. Habt ihr erst einmal eine Weile dort gelebt um die Sprache und die Sitten der Schweden kennen zu lernen?"

"Zunächst muss ich dir einmal erklären, dass es mehrere solcher Könige gab. Deren Macht reichte immer gerade so weit, wie die Berserker und ihre jeweiligen Bundesgenossen sie durchsetzen konnten. Wir erfuhren sehr bald von den dauernden Streitereien um Besitz, Einfluss und Macht, die fast immer mit den Waffen ausgetragen wurden."

"Nun habt ihr also bei diesem Björn in Birka angefangen. Wie habt ihr das gemacht?"

"Na zuerst gab es gut zu essen. Wir waren ja nicht gerade übersättigt auf unserer Reise. Während der Mahlzeit trat auch ein Sänger auf, der sich bei seinem Heldenlied, das er vortrug, selbst auf einem Saiteninstrument begleitete. Ich passte gut auf und war darum bald in der Lage, ein Lied, das ich singen wollte, selbst zu begleiten."

"Aha, das erinnert mich an Corvey! Was hast du denn gesungen?"

"Du hast richtig vermutet, ich sang ein Lied aus unserem Repertoire. Und zwar das vom Seesturm, weil ich dachte, diese schwedischen Seefahrer werden davon am ehesten angesprochen."

"Prima, Ihr Schiffbrüchigen erzähltet von der Macht Gottes über Wind und See. Konnten euch die Leute denn verstehen?"

"Jedenfalls haben sie zugehört. Manches macht die Melodie. Du musst aber auch wissen, dass die germanischen Mundarten sich noch nicht so weit auseinander entwickelt hatten wie heute."

"Das war ja wirklich eine gute Einführung. Was hat denn der König Björn dazu gesagt."

"Der schien so etwas gern zu hören, so nach und nach konnten wir ihm alles über Jesus zu Gehör bringen. Und er hatte auch nichts dagegen, dass wir mit den Leuten über die Gute Botschaft sprachen. Bald hatten wir auch herausgefunden, dass es dort christliche Sklaven gab, die sich uns zu erkennen gaben und gerne wieder die Kommunion empfangen wollten. Sie bildeten bald so etwas wie eine christliche Gemeinde mit uns. Ebenso wichtig aber war es, dass der Bürgermeister von Birka, er hieß Hergeir, immer wieder das Gespräch mit uns suchte und schließlich um die Taufe bat und selbstverständlich erhielt. Du musst dir vorstellen, der Bürgermeister ging damit ja in die Gemeinschaft mit den Sklaven ein. Aber er war ein wichtiger Ratgeber des Königs und konnte bei dem erreichen, dass wir den Glauben offen und frei verkünden durften. Es dauerte nicht lange, da stellte uns Hergeir auf seinem Hof eine Kapelle zur Verfügung."

"Schade, bei Rimbert lese ich, ihr seid nur eineinhalb Jahre in Schweden gewesen"

"Du meinst, es wäre besser gewesen, den Erfolg noch etwas auszubauen. Nicht wahr?"

"Ja, das meine ich. Bei Haralds Lehnssitz hast du doch gleich eine Schule gegründet."

"In Schweden lagen die Dinge etwas anders. Ich wurde ja mit einer schwedischen Delegation mitgeschickt, um zu prüfen, welche Chancen eine Mission haben würde. Ich sollte unserem Kaiser, sobald das möglich war, darüber berichten. Das habe ich getan. Mein Urteil veranlasste Ludwig zu umfassenden Maßnahmen. Die wurden dann in enger Zusammenarbeit mit den beteiligten Bischöfen durchgeführt."

"Und was waren das für Maßnahmen ?"

IN HAMBURG

"Du erinnerst dich noch des Bischofs Ebo?"

"Meinst du den von Reims, der mit der Nordmission beauftragt war?"

"Ja, den meine ich. Der war immer noch in dieser Aufgabe. Aber er konnte allein die Möglichkeiten nicht so wahrnehmen, die Ludwig auf Grund meines Berichtes jetzt für nötig hielt. Bei den Beratungen darüber entdeckten die Beamten in den Akten aus Kaiser Karls Zeiten, dass der auch schon Pläne im Kopf hatte für die Organisation der Nordmission. Die waren aber nicht mehr zur Ausführung gekommen."

"Kennst du die Pläne auch?"

"Nicht vollständig. Aber so viel doch: Bei der Einführung der kirchlichen Organisation im Gebiet der Sachsen hatte er im Norden ganz bewusst einen weißen Fleck gelassen."

"Ich ahne: nördlich der Elbe! Nur, warum?"

"Weil er dort nicht nur einen Bischofssitz haben wollte, sondern ein Erzbistum, in das zukünftige Bischofssitze im Nordland eingegliedert werden konnten. Und er hatte auch schon eine Kirche in Hamburg bauen lassen und von einem gallischen Bischof, namens Amalar, weihen lassen. Die Kirche bekam auch einen Priester namens Heridag, der ganz sein eigener Herr war, denn Karl hatte den anderen Bischöfen jede Ausübung einer Amtsgewalt verboten. Das war die Situation, die königliche Beamte aus den Akten lasen."

"Aber nun war da der Bischof Ebo im fernen Reims, nicht wahr?"

"Richtig. den hatte Ludwig selbst eingesetzt. Ich hatte aber den Eindruck, dass er nun den Plan seines Vaters für zukunftweisender hielt als sein bisheriges Vorgehen."

"Nun hätte man doch den Herigard zum Bischof weihen können. Bestimmt hatte man doch keinen ungeeigneten dort eingesetzt."

"Nein das wohl nicht. Ob er das Problem gelöst hätte, glaube ich nicht. Aber wir brauchen uns den Kopf darüber nicht zu zerbrechen, denn Herigard starb, bevor es zur Entscheidung kam."

"Nun warst du ja da, aber auch damit war das Problem nicht gelöst. Zwei Männer im gleichen Bereich "Noch war das allerdings nicht so. Es ging aber dann schnell. Der König berief eine Synode ein. Diese stimmte dem Plan Ludwigs zu. Es wurde in Hamburg ein Erzbistum errichtet, dem alle Länder des Königs nördlich der Elbe unterstehen sollten. Außerdem sollte er zuständig sein für die gesamte Mission in den Ländern des Nordens."

"Und du warst der erste Erzbischof! Mit 27 Jahren! Das sollte heute mal gemacht werden. In dem Alter fuhr ich gerade Uboot, aber noch nicht als Kommandant. Doch wo blieb Ebo?"

"Lass mich dir erst noch etwas anderes erzählen, was vielleicht interessant für dich ist: Es war ja letztlich nur ein Federstrich, mit dem das Erzbistum Hamburg gegründet wurde. Ich hätte jetzt sehr dumm dagestanden, wenn der König mir nicht die Abtei Torhout zur ewigen Nutzung überlassen hätte. Hamburg lag im `gefährdeten Gebiet' und konnte nur existieren, wenn es die Kraft einer Abtei hinter sich hatte. Ebo behielt seine Aufgaben. Wir beide arbeiteten nebeneinander."

"Und das ging gut? Aber vielleicht gab es noch gar keine Gelegenheit zum Streit. Lass mich dir eine Geschichte erzählen, die sich etwa 1960 zugetragen hat und zwar in Hamburg. Dazu musst du wissen, dass es weder in Schweden, noch in Dänemark, noch Norwegen, noch in Finnland eine gefestigte kirchliche Organisation gab. Diese war nach der Reformation Luthers im 16.Jahrhundert zusammengebrochen. Die Länder hatten sich eigene Kirchen errichtet. Aber im Laufe der Zeit hatten sich, obwohl keine Mission ausgeübt wurde, kleine, schwache katholische Gemeinden gebildet, die ein mühseliges Leben fristeten. Nun aber hatten sich diese kleinen Gemeinden aufgemacht und in Hamburg einen `Nordischen Katholikentag' abgehalten. Ich wohnte damals in Kiel. Das ist heute ein großer Hafen südlich des früheren Haitabu. Von dort fuhr ich nach Hamburg und nahm an dem Fest teil. Nacheinander berichteten die einzelnen Teilnehmergruppen von ihren Schwierigkeiten und Nöten, die bei uns Zuhörern alles in allem einen trostlosen Eindruck hinterließen, weil wir alle ratlos waren. Da auf einmal ließ sich ein kleiner alter Mann zum Rednerpult bringen. Offenbar konnte er nicht mehr gut sehen und brauchte deshalb Hilfe. Als er seinen Mund auftat begann er: `Wie ich bemerke, ist es hier üblich, dass jeder Redner sich selbst vorstellt. Ich bin der Kardinal Josef Frings von Köln, sattsam bekannt durch seine Interventionen beim Konzil in Rom'. Natürlich bekam er begeisterten Beifall und als er weiter sprach sagte er etwas, was dich sicher interessiert hätte. Ich gebe es dir wieder, wie ich es noch in Erinnerung habe: `Der Kardinal von Köln ist der Verantwortliche für die gesamte nordische Kirchenprovinz. Also nicht nur für die Kirche in Deutschland sondern auch für die in Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark. Und ich werde alles tun, um ihnen allen nach Kräften zu helfen.' Ich bin überzeugt, dass der Kardinal sein Versprechen gehalten hat."

"Das ist ja wunderbar. Nach so langer Zeit noch eine Wirkung aus unserer Zeit"

"Ich dachte mir, dass es dir Freude machen würde. Doch würde ich gerne noch erfahren, wie das nun in Hamburg weitergegangen ist."

"Na zunächst ging alles ganz planmäßig. Es gab auch keine Reibereien zwischen den Verantwortlichen."

"Du warst doch aber durch den Papst selbst feierlich zum Bischof geweiht und mit der Mission im Norden beauftragt worden."

"Richtig! Aber Ebo auch und sogar schon 10 Jahre früher als ich. Es spricht für Ebo aber auch für mich, dass wir gut miteinander auskamen. Wir teilten uns die Schwerpunkte. Er kümmerte sich hauptsächlich um die Dänen und ich um die Schweden. Und ich hatte mit meinem Part dicke genug zu tun. Einerseits musste ich Kloster und Kirche in Hamburg organisieren und bauen, anderseits kam aus Schweden die Kunde, dass Bischof Gauzberg, der auf Grund meines Berichtes dorthin geschickt worden war, von Heiden oder Räubern ausgeplündert worden sei."

"Das muss bitter gewesen sein für dich!"

"Ja, das war es auch. Aber nur wenig später. Wir hatten uns mit einem Kloster und einem Kirchenbau in Hamburg schon fast eingerichtet, da erlebten wir einen Überfall von Wikingern. Die haben nun alles, was ihnen wert war oder gefiel geraubt."

"Hattet ihr denn gar keine Möglichkeit, Euch zu verteidigen?"

"Nein, zwar gab es eine Burg mit einer Besatzung. Aber die war viel zu schwach, sich gegen die kampferfahrenen Wikinger zu verteidigen. Unsere Klosterbrüder konnten erst recht nichts unternehmen. Sie waren froh, wenn sie selbst mit heiler Haut davonkamen, was leider nicht allen glückte. Der Überfall war so überraschend, dass auch keine Bücher oder Altargeräte gerettet werden konnten. Die Feinde waren ebenso schnell mit ihren Schiffen wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Zwischen den rauchenden Ruinen der Kirche und des Klosters kam ich mir ähnlich arm vor, wie damals als ich an der schwedischen Küste nass und frierend an Land kam."

DER FRAGEBOGEN

"Ansgar, ich habe einen Fragebogen gefunden. Eine Zeitschrift möchte damit die Meinung bekannter Zeitgenossen zu Religion und Kirche erfahren. Ich würde gerne hören, was du zu deiner Zeit auf die gestellten Fragen geantwortet hättest."

"Ja, das könnte auch für mich interessant sein. Besonders wenn du auch deinen Kommentar dazu gibst."

"Nicht meinen. Ich gebe dir die Antworten des derzeitigen Abtes der Abtei Sankt Ottilien. Er ist der Erzabt der Missionsbenediktiner in Bayern."

"Na gut, das wird vielleicht interessant. Fang an!"

"1. Frage: Lesen Sie gerne in der Bibel?"

"Ja, nur komme ich selten dazu. Bedenke, dass die Bibel ein teures und seltenes Buch ist. So muss ich aus meinem Gedächtnis die Geschichten wiederholen, die wir in der Schule lernten. Entweder in Latein oder in der sächsischen Nachdichtung, wie ich dir schon eine geboten habe."

"Der Abt Notker antwortete so: Ja, auf meinen Missionsreisen erlebe ich die Fortschreibung der Apostelgeschichte. Das Unvermögen des heiligen Paulus, in der jungen Christengemeinde von Korinth Einheit und Frieden zu stiften, ist mir ein Trost. Das Neue Testament ist für mich nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart."

"Gefällt mir. Seine Erfahrung als Missionar ist auch meine. Nun die nächste Frage!"

"2. Frage: Was gefällt Ihnen an der Kirche?"

"Welche Frage! Die Kirche hat uns allen die Botschaft vom Vater im Himmel und von Jesus gebracht und tut dies heute noch bei Christen und Heiden."

"Nun der Abt: (mir gefällt) Dass sie in so vielen Kulturen präsent ist. Das gibt ihr Farbigkeit. Umgekehrt verbindet sie Menschen verschiedener Rassen, Sprachen und Nationen. Sie wirkt als Sauerteig der Einheit in einer heterogenen Welt."

"Ja, Sauerteig der Einheit, das habe ich auch erfahren als Wirkung der Kirche unter den germanischen Völkern. Hast du die nächste Frage?"

"3. Frage: Was nicht?"

"Was mir nicht gefällt? Ich kann doch der Kirche nicht unsere Fehler und Schuld anlasten. Sie ist eine Kirche der Sünder. Aber ich finde in ihr Jesus immer neu und oft überraschend."

"Der Abt hat so geantwortet: Zentralistische Bestrebungen der obersten Verantwortungsträger. Vielleicht gehört das aber zur Inkulturation der Kirche in das gegenwärtige Denken."

"Vielleicht hat es bei uns auch schon solche zentralistischen Bestrebungen gegeben. Das gehört wohl zur Sündhaftigkeit der Kirche. Zu meiner Zeit war die Kirchenleitung eher schwach und versuchte nicht zwischen die Räder der Machthaber zu geraten. Wie ist die nächste Frage?"

"4. Frage: Welchen Heiligen und welche Heilige mögen Sie?"

"Unseren Ordensgründer natürlich und Scholastika, seine Schwester. Und die Märtyrerin Katharina, weil sie ihren Glauben so temperamentvoll, mutig und klug verteidigen konnte."

"Abt Notker antwortet so: Natürlich eine Menge. Neben meinen Ordensvater Benedikt, den zu seinen Lebzeiten erfolglosen Missionar Pierre Chanel; von den Frauen besonders Theresia von Avila."

"Da ist der Abt natürlich im Vorteil, weil in tausend Jahren auch noch Heilige dazugekommen sind. Aber Benedikt haben wir ja beide. Nun die fünfte Frage!"

"5. Frage: Eine Gestalt der Kirchengeschichte?"

"Antonius, der in die Wüste ging und dort Gott fand."

"Abt Notker mag besonders Katharina von Siena wegen ihrer Zivilcourage und ihres Einsatzes für die Kirche."

"Ich möchte dich gerne einmal nach all diesen Gestalten fragen. Aber bring die sechste Frage!"

"Die 6. Frage fragt nach einer Gestalt aus der Gegenwart, die besonders geschätzt wird."

"Das ist für mich Bonifatius, der seine Heimat verließ, um uns Jesus und seine Botschaft zu bringen."

"Abt Notker nennt hier Roger Schutz, den Prior von Taizé, weil der so vielen heutigen Christen unentwegt spirituelle Impulse und Hoffnung vermittelt."

"Roger Schutz lebt also zu eurer Zeit noch, wenn ich recht verstehe?"

"Ja, er lebt in Taizé, einem Ort nahe bei Cluny, von dem du vielleicht gehört hast. Er hat eine neue Art Orden gegründet, der schon einen großen und guten Einfluss auf die Kirche hat."

"Ein neuer Orden? Aber es gibt doch noch Benediktiner! Abt Notker ist doch einer!"

"Ja, es gibt noch Benediktiner. Sie bilden einen der bedeutendsten Orden unserer Zeit. Aber die Lebensweise vieler Menschen hat sich, verglichen mit eurer, Zeit grundlegend verändert. Darum mussten die Christen auch andere Formen für ihr Leben und für die Verkündigung finden. Das war der Grund zu immer neuen und neuartigen Bemühen der Kirche. Das drückte sich auch durch das Aufkommen neuer Orden aus."

"Ich glaube, es muss eine wunderbare Sache sein, in deiner Zeit zu leben, in der die Kirchengeschichte schon um so viel weiter fortgeschritten ist. Wie ist die nächste Frage?"

"7. Frage: Sollen die Gottesdienste so bleiben, wie sie sind, oder soll es weitere Reformen geben?"

"Die Gottesdienste unter den Einschränkungen im Missionsgebiet waren sicher Jesus näher als die prächtigen Veranstaltungen im Dom zu Aachen. Aber ich muss bekennen, dass der Gregorianische Choral unserer Mönche, obwohl das Volk seine Worte nicht versteht, mir immer wie Heimat erscheint. Kannst du das verstehen? Was hat der Vater Abt Notker gemeint?"

"Der meint: 'Reformen bringen nichts, wenn sie nicht von unten getragen sind. Kreativ die vorgegeben Möglichkeiten nützen, und das sind viele, statt bequem das Schema herunterbeten. Ich könnte mir auch qualitativ bessere künstlerische und musikalische Versuche vorstellen. Gottesdienste sollten stärker die Feiernden berücksichtigen, allerdings auch spüren lassen, dass es sich um Gottesdienste handelt."

"Das `von unten getragen' scheint mir wichtig. Aber der Herr Abt scheint auch weniger gute Erfahrungen gemacht zu haben. Bitte die nächste Frage!"

"8. Frage: "Halten Sie es für wichtig. dass man jeden Sonntag zum Gottesdienst geht?"

"Ja, eigentlich passt mir das Wort `Gottesdienst' nicht. Gott braucht doch keinen Dienst, wie ein weltlicher Fürst! Mit ihm zusammen feiern, dass sollte man schon an jedem Sonntag. Nur an den hohen Feiertagen wäre zu wenig. Natürlich gibt es Gegenden, in denen man nicht jeden Sonntag die Messe erreichen kann."

"Abt Notker hat gesagt: Ja, denn man geht ja nicht einfach am Sonntag in die Kirche zum Beten oder irgendeinem Gottesdienst, sondern zur Zentralen Feier der Christlichen Gemeinde, zur Feier unserer Erlösung, der stärkenden Erfahrung der Nähe Gottes und der je neuen Herausforderung zu handeln wie Christus. Ich glaube, das könntest du auch sagen."

"Nun, er hat das schon wie ein Abt gesagt. Hast Du noch eine Frage?"

"O ja, du bist noch nicht entlassen: 9. Frage: Was hältst du vom Zölibat aller Priester?"

"Eine alte Forderung, die aber in Praxi nicht durchgeführt wurde. Ob das überhaupt möglich ist?"

"Es wurde römisches Kirchengesetz! Deswegen lautet die entsprechende Frage an Abt Notker: "Soll das Zölibat der Weltpriester aufgehoben werden?"

"Ah, und was hat er gesagt?" "Eine schwierige aber ernst zu nehmende Frage. Die Aufhebung des Pflichtzölibats würde die pastorale Arbeit erleichtern, es gäbe mehr Priester. Die Weltpriester sind beim jetzigen Zustand in mehrfacher Hinsicht schlichtweg überfordert. Freilich sind sie mobiler als verheiratete, und mit der Verheiratung tritt eine Menge neuer Probleme auf. Anderseits bleibt das Idealbild eines Priesters Jesus Christus; den Priester rein funktional zu sehen, würde eine Verkürzung bedeuten. Dass es auch anders geht, zeigen uns unsere orthodoxen und evangelischen Brüder. Letztlich ist dies eine Ermessensfrage, die von der Gesamtkirche entschieden werden muss."

"Hör' mal! Das mit dem Zölibat habe ich verstanden. Wir haben das vielleicht zu einseitig von unserem Standpunkt als Mönche gesehen. Aber sag mir bitte, wer sind die `orthodoxen und die evangelischen Mitbrüder'? Seid Ihr nicht mehr rechtgläubig, richtet Ihr Euch nicht mehr nach den Evangelien?"

"Zu deiner Zeit gab es doch schon die Byzantinische Kirche?"

"Ja, die rivalisierte immer mit der Römischen Kirche."

"Aus dieser Rivalität erwuchs schließlich eine Kirchenspaltung, die sich auch durch gewisse Unterschiede in der Lehre ausdrückte. Es ging besonders um die Frage, ob der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht oder nur vom Vater." "Das müsste doch zu überwinden sein. Ich glaube, manchmal wissen es die Theologen zu genau. Und die Evangelischen, was ist mit denen?"

"Anfang des 16. Jahrhunderts gab es eine sehr folgenreiche Kirchenspaltung. Es ging ursprünglich um die Frage des Ablasses. D.h. ob die Kirche die Macht habe, gewisse Erleichterungen oder Erlass der Strafen für die menschlichen Sünden zu gewähren. Mit dieser Frage waren leider auch finanzielle und politische Interessen weltlicher und kirchlicher Machthaber verbunden. Das verhinderte eine sachliche theologische Diskussion. Dazu kam auch ein Zeitgeist, der immer stärker auf die Autonomie des Einzelnen drängte. Unter diesem entstanden immer weitere Splitterungen, die zu vielen kleinen und großen Kirchen führten. Evangelisch werden sie alle deswegen genannt, weil sie sich, anders als die Katholiken, die auch ihre Tradition als Glaubensquelle erfahren haben, allein auf die Heilige Schrift berufen."

"Das ist ja was! Eine zerrissene Christenheit! Deine Darstellung wird wohl auch reichlich summarisch sein. Ist denn in den Jahrhunderten nichts geschehen, die Klüfte zu überwinden? Eine traurige Nachricht! Darum lass uns weiter gehen zur nächsten Frage!"

"10. Frage: Die lautet: Sollen Frauen die Priesterweihe erhalten?"

"Priesterinnen? Vielleicht hat es früher in der Kirche so etwas gegeben. Aber heutzutage? und bei uns? Ich fürchte, das Volk würde sie wie heidnische Priesterinnen als Zauberinnen ansehen. Ich halte die Gefahr für zu groß, dass sie es auch würden. Aber grundsätzlich? Das ist mir zu ungewohnt. Darüber müsste ich nachdenken. Was meint denn Abt Notker?"

"Ich meine, die Zeit für diese Frage ist in unserer Kirche noch nicht reif."

"Er ist also ebenso ratlos wie ich. Gehen wir zur nächsten Frage!"

"11. Frage: Welches Kirchenlied singen Sie sehr gern?"

"Die lateinischen Psalmen im Chor der Mönche und natürlich die Meßgesänge: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei."

"Abt Notker nennt nur eines, das du aber nicht kennst: Nun lobet Gott im höchsten Thron, Ihr Völker aller Nation. Darf ich gleich die nächste Frage bringen?"

"Los!"

"12. Frage: Möchten Sie Theologen/Theologinnen nennen, die Sie sehr schätzen?"

"Da nenne ich Augustinus, Ambrosius, Athanasius und Maria."

"Maria?"

"Ja sicher! Ist ihr Magnificat nicht herrliche Theologie?"

"Aber das hat Lukas doch geschrieben oder?"

"Was wäre Lukas ohne Maria? Was hat denn der Abt Notker für Theologen genannt?"

"Der nannte Karl Rahner, Yves Congar, Magnus Löhrer, Jacqes Dupont, Elisabeth Gössmann. Alle sind Kinder unserer Zeit."

"Nochmal: wie glücklich könnt ihr sein, dass ihr über 1000 Jahre länger als wir Christen seid. Welche Menge an Gelehrsamkeit und Einsicht habt ihr zusammentragen können!"

"Da hast Du wohl recht. Nur glaube ich nicht, dass die Menschen sich genügend von dieser Weisheit angeeignet haben. Doch lass mich die nächste Frage stellen: Die 13. Frage: Wann, glauben Sie, wird die ökumenische Einheit aller Christen und Kirchen kommen?"

"Die Frage verstehe ich nicht. Diese Einheit ist doch da. Häretiker wie Arius haben sich doch offenbar überlebt."

"Ich habe vorhin versucht, ganz kurz die Kirchenspaltungen zwischen Römern und Griechen, wie auch zwischen den Katholiken und den Evangelischen zu erklären. Das Streben nach ökumenischer Einheit ist eigentlich der heutige Versuch, diese Spaltungen zu überwinden Aber es gehört zur menschlichen Seite der Kirchengeschichte, dass es immer wieder Abspaltungen gibt, zum Teil sehr militante. Das zeigt sich seit der frühesten Zeit der Christenheit. Was meinst Du dazu?"

"Da habe ich wohl nicht weit genug über meinen Horizont hin ausgeschaut. Arius war mir ja auch eingefallen. Aber es gab wirklich noch andere. Doch nicht im Frankenreich. Freilich, was wusste ich schon von Vorgängen anderswo."

"Die 14. und letzte Frage lautet: Welchen besonderen Wunsch haben Sie an die Kirche?"

"Ich möchte, dass sie allen Menschen, den getauften, wie den Heiden, den Weg Jesu in das Gottesreich so verkünden könnte, dass er mit Freude und Lust gegangen wird. Dazu müssten aber alle Christen dem Heiligen Geist mehr Vertrauen schenken als menschlicher Überlegung und Planung."

"Ich glaube, Ähnliches meint Abt Notker auch, wenn er sagt: (ich wünsche), dass die Verantwortungsträger der Führung des Geistes vertrauen und daran glauben, dass er in der ganzen Kirche gegenwärtig ist. Dass es ferner allen Christen gelinge, die Botschaft Jesu glaubwürdig und überzeugend in unserer Zeit zu leben und zu verkündigen.

Wenn ich ein Zeitungsmann wäre, müsste ich jetzt sagen: Vielen Dank für dieses Gespräch. Aber ich möchte nicht nur formell meinen Dank sagen, sondern dich um die Fortsetzung unseres Gespräches bitten.

EBENBILD GOTTES

"Ansgar, ich habe mir Gedanken gemacht über die Erschaffung des Menschen. Als Ebenbild Gottes sei er geschaffen, heißt es, ziemlich am Anfang der Bibel."

"Ja, das haben wir beide doch schon in der Schule gelernt."

"Natürlich, aber was bedeutet das eigentlich. Ich habe das bisher immer so verstanden, dass ich ein Ebenbild Gottes sei."

"Bist du ja auch! Ebenso wie ich."

"Das ist es ja gerade: ebenso wie du. Aber dann doch auch ebenso wie mein Bruder, meine Frau. An der Stelle heißt es sogar: als Mann und Frau schuf er ihn."

"Richtig alle Menschen, ob Mann oder Frau, ob Jude oder Römer, ob Franke oder Sachse. Sie sind alle von Gott geschaffen."

"Alle nach Gottes Ebenbild?"

"Was erstaunt dich?"

"Wieviel Ebenbilder hat Gott denn? Er ist doch ein einziger. Menschen aber gibt es viele. Sind vielleicht doch nicht alle Ebenbilder Gottes?"

"Na, dann überlege mal, wen du zuerst ausschließt, wem du die Ebenbildlichkeit zuerst absprechen würdest."

"Hm."

"Schweige nur! Das ist das Beste was du tun kannst. Oder willst du zum Richter über deine Mitmenschen werden?"

"Mit der Aussonderung einer noch so großen Zahl könnte mein Problem auch nicht aus der Welt kommen: Die vielen verschiedenen Menschen als Ebenbilder des einen Gottes. Es gibt doch eigentlich nur eine Lösung: Nur der Mensch JESUS ist Ebenbild Gottes!"

"Das ist zwar radikal und hat einen Anstrich von Logik und Ordnung, aber es entspricht nicht unseren Erfahrungen."

"Wieso?"

"Nun sieh dich selbst an: du schreibst einen Brief an deine Frau, einen Freund, eine Freundin, deine Enkel, an eine Behörde, du schreibst eine Geschichte, die du erfindest. Was es auch sei, du wirst immer deine Handschrift wiedererkennen. Ja, selbst, wenn du mit der Maschine schreibst, prägst du den Wortlaut so sehr, dass du zu erkennen bist. Alles, was ich genannt habe, sind verschiedene deiner Geschöpfe, aber alle sind auch deine Ebenbilder. Das trifft auch dann zu, wenn du eines deiner Geschöpfe in den Papierkorb wirfst."

"Die verworfenen Menschen sind auch Ebenbilder Gottes?"

"Vielleicht kann der Mensch seine Gottesebenbildlichkeit zerstören. Aber ich glaube, dass Gott im Stande ist, sie wieder herzustellen. Er muss ja bei fast allen Menschen Schäden korrigieren."

"Oh, das interessiert mich. Darauf komme ich später noch einmal zurück. Aber lass uns vorerst noch bei den vielen Abbildern Gottes bleiben."

"Bist du noch nicht zufrieden?"

"Nein, bis jetzt haben wir nur über die Vereinbarkeit der Behauptung vieler Ebenbilder des einen Gottes mit unserer menschlichen Erfahrung gesprochen. Ich wüsste aber gerne etwas über den Sinn des Ganzen. Warum die vielen Ebenbilder bisher schon erschaffen wurden und immer noch erschaffen werden. Genügte nicht ein einziger vollkommener Mensch?"

"Erst einmal freue dich, dass der eine vollkommene Mensch nicht genügt. Wo wären dann wir beide? Wir können doch froh sein, dass die Schöpfung nicht schon zu Ende ist. Übrigens musst du immer daran denken, dass auch die Zeit geschaffen ist. Damit will ich sagen, dass Gott ihr nicht unterworfen ist. Er ist immer in der Gegenwart. Das bedeutet auch, dass Gott den vielen Menschen in allen Zeiten ihrer Geschichte immer gleichzeitig gegenwärtig ist."

"Das geht weit über meine Vorstellungskraft. Wenn ich mir vorstellen soll, dass Gott die gesamte Menschheit, die je gelebt hat, die heutige und die jemals in Zukunft leben wird, ständig gegenwärtig hat. Da habe ich nur die Vision eines riesigen Kabinettes, an dessen Wänden viele Milliarden Porträts hängen, die alle zugleich betrachtet werden müssen."

"Diese Vision solltest du schnellstens vergessen. Welche tote Vorstellung hast du von Gott? Aber tröste dich. Wir sind Menschen und können deshalb den Herrn der Welt immer nur unvollkommen erfassen."

"Du sagst WIR! Kannst du das auch nicht?"

"Alles, was ich dazu sagen könnte, ist irgendwie nicht vollständig. Ich will trotzdem versuchen, dir durch einige Gedanken zu helfen: Grenzenlos und endlos sind Eigenschaften, die nur in deiner Welt sinnvoll sind. Sie können nicht die Ewigkeit beschreiben."

"Auf einer der Schulen, die ich besucht habe, hat uns unser Religionslehrer eine Vorstellung vom Himmel geben wollen. Er erzählte uns dazu Geschichten von wunderbaren Sternen, die wir alle besuchen könnten. Einer war ein einziger Kristall. Und auf seine Frage, mit welcher Geschwindigkeit sich die Seelen zwischen den Sternen bewegten, riefen alle in der Klasse die eingelernte Antwort: wie mit einem Fahrrad!"

"Das muss ein rechter Dummkopf gewesen sein."

"Ja, den Verdacht hatte ich damals auch schon."

"Geschwindigkeit ist auch ein Begriff, der mit der Ewigkeit nichts zu tun hat. Vielleicht hilft dir ein Vergleich ein bisschen weiter: Du hast doch keinerlei Schwierigkeiten mit mir über mein Leben zu sprechen. Die zwölfhundert Jahre zwischen damals und heute bildeten jedenfalls kein Hindernis. Auch die Milliarden Jahre seit Entstehung der Erde kannst du mit deinen Gedanken überspringen. Eigentlich sogar ohne Zeitverzug."

"Schön, nur meine Vision, die du so verworfen hast, ist doch auch ein Ausdruck für meine Hilflosigkeit bei der Vorstellung, Gott sei jedem von uns immer nahe."

"Ich muss dir aber noch mehr zumuten: In deiner Vision gibt es nur Einzelportraits. Gott aber sieht den Menschen zugleich mit all seinen Beziehungen zu anderen Menschen in seiner Familie, seiner Umgebung, seinen Freund- oder Feindschaften, seinem Volk, in all seinen Verflechtungen in seiner Geschichte und seiner Gegenwart, mit seinen Hoffnungen für seine Zukunft."

"Da muss ich mein Bild von den vielen Portraits also noch erweitern. Nun sehe ich ein Mosaik, wie ich es einmal in einer Kirche sah. Es war aus ganz natürlichen Steinen verschiedener Farbe zusammengesetzt, aber jeder in farblicher Beziehung zu seinen Nachbarn und natürlich zum Gesamtornament."

"Na, so ist das Bild schon etwas besser als das Bildermuseum. Aber es ist klar, die Welt, in der du lebst, gestattet dir keine zutreffende Vorstellung von der Ewigkeit. Es geht dir wie dem Zwerg in der Uhr, der mit dem Begriff Zeit nichts anfangen konnte."

"Von was für einen Zwerg redest du?"

"Kennst du das Märchen nicht?"

"Nein. Erzähle!"

NONIUS

Es war einmal ein Zwerg, der war winzig klein, nicht größer als der kleine Finger eines Neugeborenen. Er hatte eigentlich keinen richtigen Namen. Da ihn ohnehin niemand besuchte, brauchte er auch keinen. Nur wir, wenn wir von ihm reden wollen, nennen ihn Nonius, damit wir immer an seine Winzigkeit und an seine Sorgfalt und Genauigkeit erinnert werden.
Nonius lebte und wohnte als Einsiedler in einer alten, aber noch sehr pünktlichen Uhr. Die verließ er niemals.
Wenn er nicht in seiner Ecke saß, um nachzudenken, kletterte er zwischen den Zahnrädern umher, maß ihren Durchmesser, errechnete ihren Umfang und zählte ihre Zähne. Mit der Zeit hatte er sich einen genauen Plan aller Teile des Uhrwerkes gemacht. Er wusste auch, dass die kleinen Räder sich schneller drehten als die großen, und dass diese Verschiedenheit etwas mit der Zahl der Zähne zu tun hatte. Es machte ihm aber große Mühe, die Gesetze zu erkennen, nach denen sie sich richteten. Doch ließ er sich nicht entmutigen, weil er sicher glaubte, dass seine Welt einen Sinn haben müsse, und dass dieser Sinn sich ihm offenbaren würde, wenn er nur ausdauernd nach ihren Gesetzen forschte.
Schließlich kam er auf den Gedanken, die Räder mit kleinen Markierungen zu versehen, und dann beobachtete er, wie oft sich ein kleines Rad drehen musste, damit die Konstellation wieder die war, die er markiert hatte. Das machte er bei verschiedenen Radpaaren. Und dann auch bei mehreren Rädern, die voneinander abhängig waren.
Danach zog sich Nonius in seine Ecke zurück, dachte nach und rechnete. Es dauerte lange Zeit, bis er die Formel gefunden hatte, nach der er Wiederholungen der Radstellungen voraus sagen konnte. Immer wieder musste er seine Theorien überprüfen und verbessern. Schließlich aber hatte er Erfolg und konnte die periodische Wiederkehr der Stellungen aller Räder voraus berechnen.
Als er das geschafft hatte, war Nonius sehr glücklich, etwa wie ein Astronom, der eine Mondfinsternis vorausberechnet hat, die dann auch tatsächlich eintrifft.
Zuerst glaubte der kleine Kerl, nun hinter das Geheimnis der Welt gekommen zu sein. Doch dann fiel ihm auf, dass die Räder sich nicht gleichmäßig bewegten, sondern in kleinen "Schritten", wie er es in seinen Überlegungen ausdrückte. Schließlich erkannte er, dass die Ticktack-Bewegungen des Pendels etwas damit zu tun haben mussten. Viele Male kletterte er unter Gefahr zu dem schwingenden Ungetüm, um es zu studieren, ehe er sich eine Theorie über dessen Aufgabe in dem ganzen Werk machen konnte.
Schon lange vermutete er, dass die Energie für den Antrieb des ganzen Mechanismus vielleicht von einer Feder herrührte, die sich von Zeit zu Zeit geheimnisvoll spannte und so immer neu Energie abgeben konnte. Damit diese Energie nur nach und nach in das Werk gelangte, ließ eine Art Anker, der sich hin und her bewegte, immer nur ein kleines Quantum davon hinein. Dieser Anker wurde von dem Pendel gesteuert. Nonius war sich aber nicht klar darüber, ob das Pendel den Anker, oder dieser das Pendel bewegte. Die kleinen Energiestöße, die der Anker durchließ, konnte der feinfühlige Nonius in der Bewegung jedes einzelnen Rades spüren. Er verfolgte diese Impulse durch das ganze Werk. Zu diesem Zweck musste er viele beschwerliche, ja sogar gefährliche Klettereien zwischen den Achsen und Rädern unternehmen. Sorgfältig verfolgte er die Richtungen der Stöße und ihre Weitergabe durch die vielen Zähne.
Schließlich kam er an eine Stelle, wo sich zwei Räder auf einer Achse drehten. Aber diese beiden Räder drehten sich verschieden schnell. Nonius zählte und maß. Schließlich erkannte er, dass sich das kleine Rad zwölfmal drehte, wenn das große eine einzige Umdrehung machte.
Die Zwölf kannte Nonius als eine Heilige Zahl. Was mochte das bedeuten? Aufgeregt kletterte er durch das ganz Werk nach unten zu seiner Meditationsecke. Dort hockte er sich nieder und dachte nach, was die Zwölf bedeuten könnte. Aber so viel er auch nachdachte, eine Lösung fand er nicht. Ja, Nonius bezweifelte schließlich, dass sie überhaupt eine Bedeutung für die Welt, in der er lebte, jemals haben könnte. Seine Welt erschien ihm als nichts anderes als ein Mechanismus, der seinen Antrieb von einer Energie erhielt, deren Herkunft letztlich nicht feststellbar war. Es ließ sich auch kein weiterer Sinn erkennen, als dass ein Rad sich zwölfmal so schnell drehte, wie ein anderes.
Sinnlos ist die Welt, absurd! So lautete sein abschließendes Urteil. Vorbei waren die früheren Hoffnungen, mit genügend Fleiß und Sorgfalt hinter das Geheimnis und den Sinn der Welt kommen zu können. Nonius saß traurig in seiner Ecke, weil er es einfach nicht hinnehmen wollte, dass dieses ganze herrliche Werk keinen Sinn haben sollte. Nein, das konnte nicht sein. Mit diesem Gedanken schlief er ein. Im Schlaf erlebte er, wie die Hinterwand der Uhr geöffnet wurde, Licht fiel herein und ließ das Pendel aufblitzen. Nonius fühlte sich aufgehoben, wie von einer großen Hand. Die Hand bewegte sich vor das Zifferblatt, und eine Stimme sagte: "Sieh, das ist der Sinn, nach dem du suchst: die Zeit zu messen und anzuzeigen. Du kannst diesen Sinn nur erkennen, wenn du deine Welt verlässt."
Als Nonius erwachte, blieb ihm die Botschaft seines Schlaferlebnisses im Gedächtnis und machte ihn froh. Er war sich nun ganz sicher, dass es einen Sinn der Welt gab, wenn er den auch nicht verstand, weil er mit dem Wort ZEIT nichts anfangen konnte.

"Na ja, damit willst du sagen, dass ich auch in einem Gehäuse sitze, aus dem ich mich nur, wenn überhaupt, mit viel Fantasie oder im Traum befreien kann."

"Ja, sei daher, bitte, nicht zu sehr enttäuscht, wenn ich dir immer nur Annäherungen zumute. Erinnert dich das nicht auch wieder an den Gottesnamen JAHWE (ich bin für dich da)? Dass der Mensch so etwas ahnen kann, das ist die Spur Gottes in seinem Wesen, ähnlich wie der Stil die Spur des Künstlers in seinen Werken ist, oder deine Spur in deinen Briefen."

"Du meinst, solche Spuren sind in jedem Menschen zu finden?"

"In jedem Menschen. Sie sind nicht immer von der gleichen Art. Jeder, der einem anderen zum Nächsten wird, weil er ihm einen Dienst erweist, zeigt die Spur der Ebenbildlichkeit. Das kannst du nachlesen beim Evangelisten Matthäus im Kapitel 25, Vers 35 und die folgenden."

"Halt! Glaubst du vielleicht, ich kenne das Evangelium so gut, dass ich die Stelle schon wüsste."

"Gut ich sage dir den Text, den ich meine: Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt , und ihr habt mir Kleider gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen."

"Kann ich daraus folgern, dass Menschen, die so handeln, auch unbewusst Spuren Gottes in unserer Welt legen. Unsere Aufgabe wäre dann, diese Spur Gottes immer deutlicher und deutlicher zu machen?"

"Ja, aber nicht in einem blinden Aktionismus, der Gott Rekorde anbietet. Wir sind als freie Menschen erschaffen und sollen in Freiheit entscheiden, was wir für richtig halten, und danach handeln."

"Na du, für richtig halten wir aber oft genug Dinge, die kaum in Gottes Willen liegen. Wir haben eben auch die Freiheit bewusst anders zu handeln, sogar bewusst böse. Wie ist das bloß möglich?"

"Das ist eine geheimnisvolle Sache. Ich bin ziemlich sicher, dass unser Schöpfer unserer Freiheit einen gleich hohen Rang einräumt wie der Vollendung seiner Schöpfung. Damit setzt er diese wirklich der Vernichtung durch den Menschen aus. Hinweise dafür gibt es. Das weißt du ebenso gut wie ich. Gott wird aber seinen Plan durchführen, und zwar mit Zustimmung des Menschen. Darin erblicke ich die Krönung des ganzen Werkes."

"Das scheint mir als in der Zeit lebender Mensch ein langer Weg. Vor mir steht das Übel in der Welt. Du hast eben zwar auf die Menschen als Übeltäter hingewiesen, aber zu den Gründen für die falschen Entscheidungen und Handlungen hast du nichts gesagt."

"Jesus hat wiederholt deutlich gemacht, dass es der 'Kleinglaube' sei, der den Menschen hindere, das im Augenblick Richtige auch wirklich zu tun. Damit wäre dieser der eigentliche Grund dafür, dass der Mensch eigensüchtig handelt. Der Kleingläubige hat nämlich Angst, das Richtige und Gute zu tun. Angst davor, zu versagen, oder gar selbst in Gefahr zu geraten."

"Solche Angst ist schwer zu überwinden."

"Sicherlich nicht ohne einen starken Glauben. Darunter verstehe ich hier die Fähigkeit zum Einsatz aller Kräfte für die Lösung der jeweiligen Aufgabe. Und es ist doch sicher nicht gegen jede Logik, wenn man annimmt, dass die Übel dieser Welt schon zum größten Teil beseitigt sein könnten, wenn alle Menschen den Rat Jesu befolgten, den als den Ersten unter sich anzusehen, der aller Diener, nicht der Beherrscher aller wäre."

"Na ja, ich finde das aber auch ziemlich weit von der Realität. Es wird noch lange dauern, bis die Menschen so denken, wenn sie es überhaupt jemals tun werden."

"Manche tun es! Vielleicht nicht immer, aber es ist ihr Grundsatz. Und sie sind dabei glücklich."

"Damit wären aber nicht alle Übel aus der Welt. Es gibt ein ganzes Paket von Bedrohungen, denen die Menschen hilflos gegenüber stehen."

"Manche davon stammen auch vom Menschen. Denk' an die Hungersnöte als Folgen von mutwilligen Verheerungen von Äckern und Scheunen, an die sinnlosen und brutalen Blutbäder in Kriegen, an die Raubzüge vieler Potentaten in Geschichte und Gegenwart. Dagegen könnten die Menschen etwas tun, wenn sie wollten."

"Aber die Erdbeben und Vulkane, die Stürme. Die sind doch gottgegeben und dennoch sind sie Übel." "Der Mensch ist schon mit so vielen anderen `gottgegebenen' Übeln fertig geworden. Er ist den Naturgewalten nicht so hilflos ausgesetzt, wie du meinst. Tag für Tag gewinnt er an Macht, große Dinge zu tun im Dienste aller Menschen. Aber er missbraucht seine Macht, um Mittel zu ersinnen, anderen Menschen zu schaden oder sie zu beherrschen."

"Und warum lässt Gott das zu?"

"Er will doch die Freiheit des Menschen! Er weiß, dass der Mensch seiner Vollendung zustrebt, und dass es immer offenkundiger wird, dass diese erreicht werden kann. Wenn alle Menschen, die gleichzeitig leben, wissen, dass sie keine Angst voreinander haben müssen, weil jeder nicht nur seine Mitmenschen respektiert, sondern alles tut, um jedem sein Leben, sein glückliches Leben zu sichern."

"Erkennen kann ich aber in der Geschichte eine solche Entwicklung nicht. Soweit wir zurück-blicken können, herrschten immer die stärksten Machthaber und Völker. Zweifellos haben einige von ihnen Kulturleistungen hervorgebracht, aber entscheidend hat sich an der Regel nichts geändert, dass Reiche und Arme oft dicht nebeneinander wohnen, und das auch für gottgegeben halten. Niemals hat es solche gewaltigen Zusammenballungen von Wissen und Macht gegeben, mit deren Hilfe die Welt für alle friedlich bewohnbar gemacht werden könnte. Was aber geschieht, ist nirgendwo mehr als ein 'Tropfen auf dem heißen Stein'. Nur wenige scheinen die Gefahren zu sehen, die allen drohen, wenn nicht endlich etwas geschieht."

"Sieh' einmal, aus der Geschichte weißt du, dass Missstände immer wieder der Grund gewesen sind, unterdrückte Schichten zum Aufstand zu reizen. Oft ist er schon gelungen."

"Nur meist mit dem Ergebnis anderer, neuer Gewalt und Unterdrückung, wenn nicht sogar Hungerkatastrophen."

"Stimmt. Aber vielleicht sind das die Zeichen der Zeit, die 'Wehen', in denen die Welt liegt. Jede Änderung ist für manche Menschen Ursache von Schmerzen, weil sie etwas verlieren, für andere ist sie zugleich Grund zur Hoffnung, weil sie einen Schritt weiter gekommen sind."

"Du meinst, `den einen sin Uhl is den annern sin Nachtigall'. Ob das ein Trost ist?"

"Nein, so meine ich das nicht. Aber, da der Mensch als freies Wesen geschaffen ist, soll er nach dem Willen Gottes seine Freiheit auch gebrauchen. Zum Guten oder zum Schlechten. Ich dachte, wir hätten schon gesagt, der Mensch tue Böses oder unterlasse Gutes, weil er Angst hat, oder, mit Jesus gesprochen, kleingläubig ist, weil er sich selbst und der Hilfe Gottes nichts zutraut."

"Dann meinst du, der Kleinglaube sei eine ständige Hemmung einer an sich vernünftigen Entwicklung zur Vollendung?"

"Hemmung ist ein nur sehr sanfter Ausdruck. Der Mensch ist konservativ. Er will die Plagen und Schmerzen der Entwicklung nicht auf sich nehmen. Gegen jeden Schritt auf die Vollendung zu protestiert er. Seine Sehnsucht ist das Paradies, das er sich wohl vorstellt als einen Ort ohne Sorge, ohne Pläne, ohne Veränderung. Halt, dazu fällt mir noch eine Geschichte ein. Wieder eine Annäherung natürlich."

"Erzähle!"

DER KÜNSTLER

Es war einmal ein sehr alter, sehr weiser Mann. Der kannte alles, was auf und unter der Erde war. Und nicht nur das, er kannte sogar alles, was sich im großen Weltall hinter den fernsten Sternen, und alles, was sich zwischen den kleinsten und winzigsten Atomen abspielte.
Dieser alte, weise Mann war durch sein Wissen sehr mächtig. Die Menschen hielten ihn für einen Zauberer und verehrten ihn wie einen König.
Auch ein großer Künstler war er: Er konnte malen, dichten, schnitzen, modellieren und musizieren. Er hatte schon die mannigfaltigsten Kunstwerke geschaffen. Alles war ihm gelungen. Alles wurde gut.
Eines Tages nun wollte er das schönste machen, was es gibt: Das Bild des Menschen. Des schönen und guten Menschen.
Darum fuhr er zu einem Steinbruch, in dem Marmor gebrochen wurde. Dort blieb er so lange bis die Arbeiter an eine Stelle gekommen waren, wo ganz seltener, rosenfarbener Marmor zu Tage trat. Da befahl er, ihm einen fehlerlosen Block, wie er ihn für seinen Plan brauchte, vorsichtig heraus zu brechen.
Doch seltsam, als die Arbeiter begannen, ihre Keile in das Gestein zu treiben, da fing es an zu schreien: "Ich will nicht, ich will nicht. Lasst mich hier, wo ich bin."
Da hielten die Arbeiter verwundert inne. Der Alte aber redete mit dem Stein und erklärte ihm seinen Plan. Der schwieg nun eine Weile. Doch als die Arbeiter ihn schließlich von seiner Unterlage, an der festgewachsen war, abbrachen, da schrie er wieder und fluchte dem Alten und seinen Plan.
"Ich will so bleiben, wie ich bin. Ich will bescheiden ein einfacher Stein sein und nicht das Bild eines Menschen, mag dieser auch noch so schön und gut sein."
Doch nun war es geschehen. Der schimpfende und brummende Steinblock wurde verladen und zu dem Schloss des Alten gebracht. Dort blieb er zunächst im Atelier stehen, weil der Alte immer noch an seinen Plänen sann und überlegte, wie er das Bild des guten und schönen Menschen machen wollte.
Der Marmorblock schwieg, solange sich nichts änderte. Er schien seine Bestimmung ganz vergessen zu haben. Endlich aber begann der Alte mit seiner Arbeit. Doch jedesmal, wenn er den Meißel ansetzte und mit dem Hammer zuschlug, schrie der Block wieder:
"Du quälst mich! Du bist ein Böser und willst etwas Gutes schaffen? Du bist ein Tyrann, der seine Freude an meinem Unglück, an meiner Qual hat."
Der Alte wurde ganz traurig, weil er dem Block nicht klar machen konnte, welch großes Werk er mit ihm vorhatte, dass er ihn schon jetzt lieb habe, wie ein Vater sein Kind, weil er doch einmal sein schönstes Werk sein sollte.
Da wurde der Block erst recht wütend. "Du lügst, schrie er, du weißt gar nicht, wie Väter ihre Kinder lieben. Niemals würden sie ihnen solche Qual zufügen."
Immer noch einmal versuchte der Alte geduldig seinen Block zu überzeugen, dass er doch das überflüssige Gestein wegschlagen müsse, damit die ideale Form erscheinen könnte. Auch Väter müssten manchmal ihre Söhne hart behandeln, damit etwas Gutes aus ihnen würde.
Wenn der Alte auch immer weiter an dem Werk, das er sich vorgenommen hatte, arbeitete, so verdross ihn doch die ständige Klage des Steines. Denn nichts war ihm widerwärtiger, als dass dieser Stein zu dem Bilde gezwungen werden musste. Gerade, weil es das Bild des guten und schönen Menschen sein sollte.
Darum fasste er eines Tages einen großen Entschluss. Er sprach zum Stein: `Ich will werden, wie du bist. Dann werde ich fühlen, wie du fühlst. Alle deine Schmerzen werde ich wie du ertragen. Und ich werde es freiwillig tun um des Werkes willen, das ich mir vorgenommen habe. Denn ich will dein JA hören zu meinem Werk.'
Und so geschah es. Der weise, alte Künstler wurde selbst zu Marmor in dem Block, an dem er arbeitete. Überall im ganzen Block war er nun. Jeder Splitter, den er abschlug, tat ihm ebenso weh, wie dem Block. Aber er schrie nicht, wenn auch der Block nicht aufhörte zu jammern und zu fluchen. Er freute sich über jeden Erfolg, über jede Stelle, an der die endgültige Form des schönen und guten Menschen erreicht wurde. So blieb es bis heute. Der Marmor flucht dem Künstler bei jedem Schlag, den er erhält.
Zugleich aber lobt er ihn auch, weil er seiner eigenen Vollkommenheit wieder ein wenig näher gekommen ist. So wird es wohl weitergehen, bis das Werk beendet ist."

"Ja, so wird es sein. Das war eine gute, allerdings fantastische Geschichte. Freilich hat der Marmor nur gegen seine Behandlung protestiert, aber er hat sich nicht gewehrt, wie der Mensch es tut. Darum habe ich noch eine Frage."

"Ob Gott die Schäden der Menschen korrigiert? War es das, was du vorhin schon angekündigt hast?"

"Ja. Ich weiß ja, dass Gott barmherzig ist, aber er ist auch gerecht."

"So ist es. Das mag im Menschenverstand ein unauflösbarer Widerspruch sein. Vielleicht bringt uns ein Bild weiter, das Paulus in einem Brief gebraucht hat. Er verglich den Menschen mit einem Läufer, der sich anstrengt, den Sieg zu erringen. Ich möchte dem Bild noch etwas hinzufügen: Der Trainer eines solchen Sportlers muss seinem Schützling nicht nur Taktik und Technik beibringen, sondern er muss ihn auch körperlich bis auf das Äußerste herannehmen, dass es wie Quälerei aussieht. Des Trainers Gerechtigkeit besteht darin, dass er keinen Fehler, keine Nachlässigkeit zulässt, weil er den Läufer zum Siege führen will. Seine Barmherzigkeit zeigt er, wenn er seinen Schützling auch dann nicht fallen lässt, wenn er versagt hat, weil er seinem Rat nicht gefolgt ist."

"Darf ich hoffen, dass Gott uns alle zum Siege führen will?"

"Seine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit sind unendlich."

"`Er wird wiederkommen in Herrlichkeit' sprechen wir sonntags im Glaubensbekenntnis. Wie, meinst du. wird das sein? Die Bilder, ob literarisch oder gemalt, die ich kenne, und die natürlich auch nur `Annäherungen' sind, gefallen mir alle nicht mehr."

"Und was möchtest du an ihre Stelle setzen?"

"Dein Bild von der Spur des Künstlers in seinen Werken, oder Spur Gottes in den Menschen hat mich auf eine Idee gebracht: Wenn ich die Zeichen einer Partitur sehe, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass sie alle zusammen eine Musik sein sollen. Wenn aber die Mitglieder des Chores und die Musiker des Orchesters ihre Partien alle richtig singen und spielen, dann offenbart sich die Melodie der Symphonie, ihr in der Partitur wohnender Geist. So etwa stelle ich mir das Offenbarwerden Gottes in seiner Schöpfung, sein Wiederkommen in Herrlichkeit vor. Die Spuren Gottes in den Menschen werden sich alle zu einer Harmonie vereinigen."

"Ich finde dein Bild auch schön. Aber verlange nicht, dass ich es bestätige, denn auch ich weiß nicht, wie es sein wird, wenn der Herr wiederkommt. Außerdem berücksichtigt es zu wenig das Unvollkommene in der Welt. Du sagst ja selbst: `wenn alle richtig singen' offenbart sich die Symphonie. Aber was geschieht mit den Stimmen, die das aus Bosheit oder Unvermögen nicht tun. Sie verderben die Symphonie und die Aufführung wird ein Reinfall."

"Jetzt überziehst du mein Bild. Lasse mich dir ein anderes malen. Ein kleines Märchen."

"Sehr gut, wir müssen es immer und immer wieder versuchen."

"Höre also:

DIE STEINESAMMLERIN

Es war einmal eine Frau, die sammelte Steine. Große und kleine, raue und glatte, farbige und unscheinbare, dunkle und helle, edle und unedle.
Alle Leute waren neugierig, was sie mit den vielen Steinen machen wolle, aber niemand konnte es herausbekommen, denn die Frau lächelte nur, wenn man sie fragte.
Nur ein kleiner Junge hatte mehr Glück bei ihr. Er hatte geholfen, die Steine mit einer Bürste und viel Wasser zu reinigen. Dabei freute er sich über den Glanz, den sie bekamen, und über die schönen Körnungen und seltsamen Zeichnungen, die sie erkennen ließen. Viele aber fand der Junge auch dunkel und hässlich. Doch diese wegzuwerfen, wie er das gerne getan hätte, wurde ihm nicht erlaubt.
Als die Arbeit fertig war, nahm die Frau den Jungen an die Hand und ging mit ihm in eine große Halle, die er vorher noch nie gesehen hatte. Sie war voller Licht und so groß, dass das Auge die Wände und das Dach gar nicht wahrnehmen konnte.
Der Boden der Halle war bedeckt mit Papier von Zeitungen und Zeitschriften. Auch Bücher lagen darauf verteilt, in denen kluge Menschen das letzte Gericht Gottes über die Menschen beschrieben hatten.
Der Junge wurde ängstlich vor all den Zeitschriften und Büchern und packte die Hand der Frau fester. Die aber beugte sich zu ihm herunter und beide zusammen räumten einige der Zeitungen und Bücher beiseite, sodass ein Stück von dem richtigen Fußboden frei wurde und zu sehen war.
Da lagen nun all die Steine, welche die Frau und der Junge gereinigt hatten, in wunderbaren Ornamenten zusammen. Jeder einzelne befand sich in der Nachbarschaft von anderen, die seine besondere Schönheit und Einmaligkeit voll zur Geltung brachten.
"Weißt du nun, weshalb ich keinen Stein wegwerfen will?" fragte die Steinesammlerin den Jungen.
"Ja, ich glaube, damit du diese schönen Linien und Kreise machen kannst."
"Richtig. Stell' dir mal vor, wir hätten nur weiße oder nur schwarze Steine hierher gebracht. Das wäre doch sehr eintönig und langweilig. Oder wie sollten wir diesen funkelnden Edelstein überhaupt wiederfinden, wenn hier nur Edelsteine lägen. Er braucht einen Rahmen von einfachen Steinen. Diese aber werden umgekehrt durch ihn schöner."

"Das ist mein Märchen, Oskar"

"Du willst sagen, Gott sammelt Menschen? Kleine, große, helle, dunkle, Heilige und Sünder?"

"Ja, er reinigt sie und fügt sie ein in das Gesamtkunstwerk seiner Schöpfung. Das aber ist gleichzeitig voller betrachtender Ruhe und voller ideenreicher Bewegung. Jeder Einzelne ist Diener aller, aber niemand ist eines anderen Knecht. Alle verbindet die gemeinsame Liebe, der Geist Gottes."

"Wunderbar, doch wo bleibt Jesus in deinem Bild?"

"In meinem Bild ist Jesus der schönste aller Steine und zugleich der, der das Mosaik schafft."

DREIFALTIGKEIT

"Ansgar, mir macht schon lange die Vorstellung von der Dreifaltigkeit Gottes zu schaffen. Ich wollte diese Lehre der Kirche nicht einfach zur Seite legen, als sei sie nicht von Bedeutung für mich. Aber angesichts der Kritik der Juden und der Islamiten habe ich doch immer wieder darüber nachgedacht. Versuche von Theologen, dieses Geheimnis als inneres Leben Gottes und als Beziehung zwischen den drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist zu erklären, langte mir mit der Zeit immer weniger."

"Die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes stammt aus einer Zeit, in der das noch junge Christentum gezwungen war, sich gegen die Vorwürfe der Juden zu wehren."

"Was waren denn das für Vorwürfe?"

"Die Juden verteidigten ihren Glauben an den einen Gott. Den hielten Sie begreiflicherweise für gefährdet durch die christliche Vorstellung von Vater, Sohn und Geist. Also drei Göttern, wie sie meinten."

"Aber wir Christen haben doch immer nur an einen einzigen Gott geglaubt."

"Ja richtig. Doch höre mal mit jüdischen oder heute auch mit islamitischen Ohren unser Bekenntnis: Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist. Können die uns nicht der Dreigötterei bezichtigen?"

"Hat denn niemand versucht, den Irrtum aufzuklären?"

"Die Antwort der christlichen Theologen war die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes.

"

"Jetzt fällt mir auf, dass `Dreifaltigkeit' auch ein komisches Wort ist. Als wenn Gott faltig wäre. Ich erinnere mich aber, dass unsere Religionslehrer dafür manchmal Bilder bereit hatten: z.B. ein Blatt Papier, das dreimal gefaltet war, oder eine Kerze mit drei Dochten."

"Die Theologen der jungen Christenheit hatten anscheinend noch ein anderes Bild vor Augen. Das schließe ich aus dem Wort Person, dass mit dem lateinischen `personare', das ist `durchtönen' zu tun hat. Nun musst du wissen, dass auf den Bühnen der damaligen Zeit Schauspieler auftraten, die Masken trugen, welche die Charaktere darstellten, die in dem Drama mitspielten. Diese Masken, manchmal waren es auch ganze Köpfe, hatten einen kleinen Trichter eingebaut durch den der Schauspieler seine Rolle sprach. Ein einzelner Schauspieler konnte daher leicht mehrere Rollen spielen, indem er mehrere verschiedene Masken anlegte und seine Rolle durch den Trichter sprach."

"Das mag ja sein, dass in der damaligen Zeit das Gleichnis von den Christen richtig verstanden wurde, aber viele Juden haben es offensichtlich nicht verstanden."

"Zu meiner eigenen Lebenszeit gab es auch unter den Christen Schwierigkeiten. Die römischen Christen wollten die drei `Personen' untereinander stark zu einer Einheit verbinden, indem sie lehrten, der HEILIGE GEIST gehe vom VATER und vom SOHNE aus. Viele Christen im Macht- und Kulturbereich Konstantinopels meinten aber, die Lehre von dem einen Gott in drei Personen ließe sich besser darstellen, wenn der GEIST wie der SOHN vom VATER ausgehe. Dieser Streit hat zeitweilig bedrückende, sogar blutige Formen angenommen und ist bis heute nicht beigelegt."

"Eigentlich müsste doch jeder Theologe wissen, dass er nicht in das Geheimnis Gottes eindringen kann. Wie konnten sie nur mit solcher Gewissheit und Härte auf ihrer Meinung bestehen, die doch nur ein Bild sein konnte. Ich stoße mich darin besonders auch an der Maske, der `Verkleidung', wie ein Kirchenlied es ausdrückt."

"Wenn wir uns ganz frei machen von dem Bild, so können wir aber doch in den Evangelien feststellen, dass vom VATER und vom SOHN und vom HEILIGEN GEIST die Rede ist. Und immer sind diese Benennungen, Ausdrücke für Gott. Offenbar haben die Jünger um Jesus schon unterschieden. Sie kannten alle Jahwe, den Gott Israels. Jesus lehrte Sie, diesen Gott als seinen und ihren Vater anzusehen. Er selbst bezeichnete sich als Menschensohn, dessen Tod und Auferstehung die Jünger miterlebten, und durch die ihr Glaube entscheidend geprägt wurde. Und sie erkannten auch das Wirken des Heiligen Geistes bei der Entfaltung des Glaubens nach dem Pfingstereignis. Sie erfuhren also den einen Gott auf drei verschiedene Weisen."

"Deine Darstellungsweise hat wirklich nichts mehr von Verkleidung. Das gefällt mir schon besser."

"Dann möchte ich versuchen, dir das noch besser an deiner eigenen Erfahrung klarzumachen."

"Ich fürchte, meine Erfahrung mit Gott ist ziemlich dünn."

"Die wirst du nicht brauchen. Allerdings bedenke: all unser Reden von Gott kann immer nur ein Vergleich sein. Auch Jesus bezog sich ja auf menschliche Erfahrungen, wenn er vom `Vater' sprach."

"`Heute sehe ich wie in einem Spiegel' sagte Paulus. Ich bin jetzt gespannt auf dein Spiegelbild."

"Denk mal an deine Frau!"

"An meine Frau?"

"Ja, an deine Frau. Wird sie nicht von euren Enkeln `Großmutter', von den Schwiegertöchtern `Schwiegermutter' oder einfach wie eine Freundin `Anneliese', von ihren Söhnen `Mutter', von euren Bekannten `Frau Herwartz' genannt? Gibst du selbst ihr nicht auch verschiedene Namen? Dennoch ist sie nur eine einzige Frau."

"Ach du meinst, Gott wird von verschiedenen Menschen verschieden angeredet oder genannt, weil sie verschiedene Erfahrungen gemacht haben?"

"Ja, verschiedene, fast immer sogar wechselnde Bilder von ihm in sich tragen. EL, JAHWE, ADONAI, HERR, VATER, HEILIGER GEIST, WORT, ALLAH, ja auch, MANITOU, "NIRWANA oder GROSSER GEIST, ERRETTER, ALLERBARMER, SCHÖPFER. Selbst Namen wie SCHLACHTENLENKER oder SIEGVERLEIHER werden ihm gegeben."

"Wenn ich bedenke, dass jeder Mensch ein Abbild Gottes ist, dann kann ich auch unschwer verstehen, dass jeder ein eigenes Gottesbild in sich trägt. Das muss aber bei den meisten Leuten, wie bei mir, wohl sehr unvollkommen und verschleiert sein. Kann ich dann das Gebot: `Du sollst dir kein geschnitztes Bild von Gott machen!' so verstehen, dass kein Mensch berechtigt ist, sein eigenes Gottesbild zum Dogma für alle zu erklären."

"Nun, das christliche Dogma von der Dreifaltigkeit Gottes wird in der ganzen Welt verbreitet. Ich selber habe als Lehrer und Missionar nach Kräften dazu beigetragen. Aber ich weiß auch, dass nicht jeder dieses christliche Gottesbild begreifen kann. Oft sind es alte Traditionen oder Philosophien, die das verhindern, manchmal Theologien auf Grund persönlicher Erfahrungen, manchmal Vorstellungen, durch die private Wünsche oder Sehnsüchte befriedigt werden können. Darum dürfen wir es niemals etwa mit Gewalt oder mittels Geschenken durchsetzen. Ich bin aber überzeugt, dass alle Menschen eines Tages erkennen, dass Gott, der Schöpfer aller Dinge, unser aller Vater ist, dass er in Jesus unser aller Bruder geworden ist, und dass sein Geist diese Erkenntnis bewirkt."

HIMMEL

"Ansgar, ich weiß, dass wir Menschen, solange wir hier leben, nicht in den Himmel gucken können. Aber wir versuchen es doch recht gerne. Oder ist dir das nicht so gegangen?"

"Doch natürlich auch."

"Kannst du mir deine Vorstellungen noch erzählen?"

"Ich glaube, dass es das erste Mal war, dass ich mir überhaupt etwas vorgestellt habe, als ich noch als Schuljunge mit unseren jungen Mönchen nach Aachen geführt wurden. Wir sollten an einer Festlichkeit mit Kaiser Karl im Dom teilnehmen. Ich war hingerissen, als ich den Kaiser hoch über uns auf dem Thron sitzen sah. Um ihn herum standen die Großen des Reiches. Wir hatten unsere Köpfe im Nacken, um ihn richtig sehen zu können. So muss es im Himmel auch sein. dachte ich, Gott Vater ganz oben, neben ihm Jesus und dann Maria, die Apostel und die Heiligen. Nur der Heilige Geist fehlte in meinem Bild."

"Das Bild hat sich aber auch verändert, als du älter wurdest oder nicht?"

"Doch natürlich! Aber auch nicht zu sehr, denn auch die Evangelisten haben noch ähnliche Bilder in ihren Schriften gemalt. Aber es gab ja zu unserer Zeit auch schon Prediger, die davon sprachen, dass die Heiligen und die Engel auch bei den Gläubigen in unserer Welt wirksam eingreifen konnten. Dadurch kam Bewegung in das Bild."

"Ja, so ähnlich ist auch meine Entwicklung in der Vorstellung vom Himmel. Was mich immer geärgert hat, ist die Volksvorstellung von einem Leben auf den Wolken und dem immerwährenden Hosianna-Gesang."

"Das ist ja ein ähnlicher Unsinn, wie bei deinem Religionslehrer, der euch etwas erzählte von herrlichen Sternen, die man besuchen könne. Davon hast du mir doch berichtet!"

"Ja, aber inzwischen hat die Wissenschaft den Weltraum erkundet. Wir haben ein gewaltiges Wissen zusammengetragen. Wir kennen den Weltraum so weit, dass unsere Vorstellung vom Himmel einfach keinen Platz mehr hat."

"Als wenn der Himmel Platz benötigte! Er braucht überhaupt keinen Raum!"

"Das ist mir auch klar geworden. Aber es gibt eine Menge kluger Menschen, die das überhaupt nicht einsehen können und darum den Himmel einfach für eine Fabel halten."

"Das ist aber reichlich primitiv!"

"Ja, das ist es. Aber manchmal versuchen Schriftsteller etwas über den Himmel und über Gott auszusagen, ohne sich um das Wo und Wie zu kümmern. Dafür habe ich ein Beispiel in einem Roman gefunden, die der Verfasser, er heißt Bulgakow und ist ein Russe, sicherlich nicht als einen Beitrag zur Theologie gewertet wissen will."

"Wann hat er denn gelebt?"

"Zur Zeit der großen russischen Revolution, die er einerseits wohl begrüßte, weil die russische Zarenherrschaft überwunden wurde, die er aber wegen vieler politischer Dummheiten und wegen ihrer Grausamkeit kritisierte."

"Also fast ein Zeitgenosse von dir?"

"Ja, kannst du sagen. Ich habe seine Bücher erst gelesen, als die Deutschen den zweiten Krieg gegen die Russen verloren hatten. Also nach 1945."

"Von dem willst du mir jetzt etwas erzählen?"

"Ich will dir ein kleines Stück aus seinem Roman "Die Weiße Garde" vorlesen. Darin erzählt er von einem Traum, den seine Hauptfigur der Militärarzt Alexej Turbin, hat. Darin erscheint ihm der Oberst Nai-Turs und als wichtigster ein Wachtmeister namens Shilin, die beide zur Zeit des Traumes schon lange gefallen sind."

"Na, da bin ich ja neugierig."

"Wenn ich es recht bedenke, bin ich ein bißchen zögerlich, weil der Traum hauptsächlich vom Himmel spricht, an den der Verfasser selbst vielleicht gar nicht glaubt."

"Dann bin ich erst recht neugierig."

"Dann höre zu! Jetzt erzählt Bulgakow:"

TURBINS TRAUM

"Sterben ist kein Augenzwinkern", sagt schnarrend der plötzlich vor dem schlafenden Alexej Turbin aufgetauchte Oberst Nai-Turs.
Er hatte eine merkwürdige Uniform an: auf dem Kopf einen strahlenden Helm, auf dem Körper einen Kettenpanzer, und er stützte sich auf ein Schwert, so lang wie es seit den Kreuzzügen keine Armee besessen hat. Ein Heiligenschein folgte ihm wie eine Wolke.
"Sind Sie im Paradies, Oberst?" fragte Turbin und verspürte ein wonniges Zittern, wie es ein Mensch im Wachen nie verspürt.
"Ja, im Paradies", antwortete Nai-Tours mit einer Stimme, rein und durchsichtig wie ein Bächlein im Walde.
"Merkwürdig, merkwürdig", sagte Turbin. "Ich dachte, das Paradies sei eine menschliche Phantasie. Und diese seltsame Uniform. Erlauben Sie mir die Frage, Herr Oberst, bleiben Sie im Paradies im Offiziersrang?"
"Der Herr ist jetzt in der Brigade der Kreuzritter, Herr Doktor", antwortete der Wachtmeister Shilin, der ganz bestimmt im Jahre 1916 zusammen mit der Schwadron Belgrader Husaren bei Wilna gefallen war.
Wie ein riesiger Recke stand der Wachtmeister da, und sein Kettenpanzer strahlte Licht aus. Seine groben Züge, an die sich Doktor Turbin, der Shilin damals die tödliche Wunde verbunden hatte, gut erinnern konnte, waren jetzt nicht zu erkennen; die Augen des Wachtmeisters waren jetzt wie die von Nai-Tours - rein, tief, von innen leuchtend.
Am meisten aus der Welt liebte Alexej Turbin mit seiner düsteren Seele Frauenaugen. Ach, was hat der liebe Gott für herrliches Spielzeug geschaffen mit diesen Frauenaugen! Aber die des Wachtmeisters waren unvergleichlich schöner!
"Wie ist das möglich?" fragte Doktor Turbin neugierig und höchst erfreut. "Wie konntet ihr hinein ins Paradies mit Stiefeln und Sporen? Ihr habt doch Pferde und den Troß und Lanzen."
"Glauben Sie mir, Herr Doktor", sagte der Wachtmeister Shilin im Cellobaß und sah ihm mit seinem blauen Blick, von dem einem warm uns Herz wurde, direkt in die Augen. "Wir sind mit der ganzen Schwadron in Reih und Glied hierhergekommen. Sogar mit der Ziehharmonika. Es war natürlich etwas peinlich. Sie wissen es selbst, dort herrscht Sauberkeit, Fußböden wie in der Kirche."
"So?" wunderte sich Turbin. "Und da kam gleich der Apostel Petrus. Ein alter Zivilist, aber gewichtig und liebenswürdig. Ich melde natürlich: So und so, die zweite Schwadron der Belgrader Husaren hat wohlbehalten das Paradies erreicht, wo befehlen Sie, Quartier zu nehmen? Ich mach zwar die Meldung", der Wachtmeister hüstelte zurückhaltend in die Faust, aber ich dachte mir, was wird, dachte ich, wenn Petrus einfach sagt, wir sollen uns zu des Teufels Großmutter scheren? Denn Sie wissen ja selbst, wir hatten Pferde mit und..." (der Wachtmeister kratzte sich verlegen am Nacken) unter uns gesagt, unterwegs hatten sich ein paar Weiber angeschlossen. Ich sag das dem Apostel und zwinkre meinem Zug zu - schmeiße die Weiber vorläufig raus, später werden wir sehen. Sollen sie bis zur Klärung der Lage hinter den Wolken sitzen. Aber der Apostel war in Ordnung, obwohl er bloß Zivilist ist. Er peilt mit den Augen, und schon ist mir klar, dass er die Weiber auf den Wagen erspäht hat. Kein Wunder, ihre Kopftücher sind bunt, man sieht sie ein Werst weit. Scheibenhonig, dachte ich. Die ganze Schwadron fällt rein.
`Ach' sagt er `ihr habt Weiber mit?' und schüttelt den Kopf.
`Jawohl' sage ich, `macht nichts, wir schmeißen sie achtkantig raus, Herr Apostel.'
`O nein' sagt er, `Ihre Handgreiflichkeiten lassen Sie lieber.'
Na? Wie finden Sie das? Ein gutmütiger alter Herr. Sie wissen selbst, Herr Doktor, eine Schwadron auf dem Marsch kommt ohne Weiber nicht aus."
Und der Wachtmeister zwinkert pfiffig.
"Das stimmt", musste Turbin gesenkten Blicks zugeben. Irgendwelche Augen, ganz schwarz, und Leberflecke auf blasser Wange blinkten undeutlich in der schläfrigen Dunkelheit. Er räusperte sich verlegen, und der Wachtmeister fuhr fort:
`Na', sagt er `geh Sie anmelden.' Er geht, kommt zurück und sagt: `Gut, wir werden euch unterbringen.' Wir haben uns gefreut, dass ich es gar nicht ausdrücken kann. Doch eine kleine Verzögerung trat ein. `Wir müssen warten', sagte der Apostel Petrus. Doch schon nach einer Minute sehe ich ihn geritten kommen. Der Wachtmeister zeigte auf den schweigenden stolzen Nai-Turs, der aus dem Traum spurlos in der Dunkelheit verschwand. Der Wachtmeister schielte zu Turbin hin und senkte einen Moment die Augen, als wollte er dem Arzt etwas verheimlichen, aber nicht etwas Trauriges, sondern ein freudiges, schönes Geheimnis; dann fasst er sich und fuhr fort: "Petrus schirmte die Augen mit der Hand und sagt: `Na', sagt er, `jetzt seid ihr alle da!' Und gleich reißt er die Tür sperrangelweit auf. `Bitte schön', sagt er, `zu dreien von der rechten Flanke her.'
`Mit den Weibern? So seid ihr einfach reingestiefelt?' Turbin war verblüfft. Der Wachtmeister lachte und fuchtelte freudig erregt mit den Armen.
"Oh, mein Gott, Herr Doktor, dort ist ja so viel Platz - unübersehbar. Und eine Sauberkeit! Man hätte noch fünf Korps mit Reserveschwadronen unterbringen können, was sag ich, zehn! Neben uns sind Gemächer - ach du meine Güte! Die Decken so hoch, dass man sie gar nicht sieht! Ich sag: `Darf ich fragen, für wen sind die?' Denn sie waren sehr originell: Rote Sterne, rote Wolken. `Das ist für die Bolschewiki', sagt der Apostel Petrus, `für die von Perekop.' "Perekop?" fragte Turbin und strengte seinen irdischen Geist an.
"Dort, Euer Gnaden, ist alles im Voraus bekannt. Im Jahre zwanzig, als die Bolschewiki den Perekop bezwangen, sind ihrer unzählige gefallen. Zu deren Empfang waren die Räume hergerichtet."
"Für die Bolschewiki?" Turbins Seele war bestürzt. "Sie verwechseln etwas, Shilin, das kann nicht sein. Die werden dort nicht eingelassen."
"Herr Doktor, das dachte ich auch. Ich auch. Verwirrt fragte ich den Herrgott...."
"Den Herrgott? Aber Shilin!"
"Sie brauchen nicht zu zweifeln, Herr Doktor, es stimmt, wozu sollte ich lügen, ich habe mehrmals mit ihm gesprochen."
"Wie sieht er dann aus?"
Shilins Augen strahlten, der Stolz verfeinerte seine Gesichtszüge.
"Und wenn Sie mich totschlagen, ich kann ihn nicht beschreiben. Sein Gesicht leuchtet, aber wie er aussieht - das begreift man nicht. Manchmal habe ich ihn angesehen, und es ist mir kalt über den Rücken gerieselt. Es war, als ob er mir selber glich. Ein Schreck fährt mir in die Glieder: Was bedeutet das? Denke ich. Dann aber beruhigt man sich. Mannigfaltig ist sein Gesicht. Wenn er spricht, erfasst einen solche Freude! Und dann geht von ihm ein blaues Licht aus. Hm... nein, kein blaues." (Der Wachtmeister überlegte) "Ich weiß nicht. Es breitet sich über tausend Werst aus und leuchtet durch einen hindurch. Nun also ich sprach weiter: `Wie ist denn das, o Gott, deine Popen erzählen doch, die Bolschewiki kommen in die Hölle? Wie soll man das verstehen, sie glauben nicht an dich, und du richtest ihnen solche Kasernen ein?'
`Glauben sie wirklich nicht?' hat er mich gefragt.
`Bei Gott - nein!' Diese Antwort hab ich ihm gegeben, dann bekam ich Angst, kein Wunder, wenn man so zum Herrgott redet! Doch er lächelte nur. Weshalb erzähl ich ihm das, ich Dummkopf, dachte ich, wenn er alles besser weiß als ich? Ich war aber neugierig, was er sagen wird. Und er sagte:
`Wenn sie nicht an mich glauben, kann ich nichts machen. lasst sie. Mir ist davon weder heiß noch kalt. Dir auch nicht. Und ihnen auch nicht. Der eine glaubt, der andere nicht, ihre Handlungen aber sind alle gleich: Bei jeder Gelegenheit gehen sie sich an die Gurgel. Was aber die Kasernen anbetrifft, Shilin, so musst du's folgendermaßen verstehen: Für mich seid ihr alle gleich - im Kampf Gefallene. Das muss man kapieren, Shilin, und nicht jeder kapiert es. Im Übrigen, Shilin, rege dich über solche Fragen nicht auf. Leb' ohne Sorgen, geh spazieren!'
Das Leuchten um Shilin wurde bläulich, und das Herz des Schlafenden füllte sich mit unerklärlicher Freude. Er streckte die Arme nach dem leuchtenden Wachtmeister aus, stöhnte im Traum: "Shilin, Shilin, kann ich nicht als Arzt zu eurer Brigade kommen?"
Shilin winkte freundlich und nickte bejahend. Dann entfernte er sich und verließ Turbin. Dieser erwachte und sah statt Shilin das immer heller werdende Fensterquadrat vor sich. Der Arzt wischte mit der Hand übers Gesicht und merkte, dass er tränennass war. Lange seufzte er in der Morgendämmerung, dann schlief er wieder ein, und sein Schlaf war ruhig und traumlos.

"Damit will ich es bewenden lassen. Was hältst du von diesem Stück aus dem Roman?"

"Ich bin mir meiner Sache noch nicht sicher. Was ist denn eigentlich ein Roman?"

"Wir verstehen unter einem Roman eine erfundene Erzählung eines Schriftstellers, in die dieser etwas ihm Wichtiges mitteilen will. In unserem Beispiel will der Verfasser uns vom Himmel erzählen."

" Woher weiß er, wie der Himmel ist? Und wie kann er von etwas erzählen, das er gar nicht kennen kann?"

"Na, das habe ich auch schon getan, als ich mich mit Johanna, meiner Entdeckung aus dem Lukasevangelium, über ihr Leben in der "Neuen Welt" unterhalten habe. Wir heute lebenden Menschen sind ja auf den Glauben angewiesen. Das macht uns nicht wenig zu schaffen. In Bulgakows Umgebung gibt es Menschen, die glauben an Gott, andere, die glauben an das Nichts. Unser Bulgakow glaubt offenbar vorsichtig an einen barmherzigen Gott und an das Leben bei Gott. Nun versucht er seinen Glauben seinen Lesern klarzumachen. Er lässt die Soldaten einer ganzen militärischen Einheit in den Himmel einmarschieren. Sie kommen aus dem Wundern nicht heraus, weil der Himmel so anders ist, als sie sich vorstellten, weil sogar für solche Menschen "Quartiere" bereit waren, die sie selbst für Gottesfeinde hielten. Bulgakow verkündet so einen gnädigen und barmherzigen Gott und ein ewiges Leben bei ihm."

"Ja, das habe ich verstanden. Aber eine kleine Stelle in der Traumerzählung hat mich doch sehr gewundert. Ich meine die Antwort auf die Frage Turbins, wie Gott denn aussähe."

"Ich selber habe mir schon mal Gedanken gemacht, wie Jesus ausgesehen habe. Ich bin damit nicht zu Ende gekommen und meinte schließlich, es sei sicherlich gut, dass keiner von sich sagen könne, er sehe aus wie Jesus."

"Aber Bulgakows Antwort auf diese Frage gefällt mir viel besser. Der Mensch ist ja geschaffen nach Gottes Ebenbild. Da ist es doch logisch, dass Gott so aussieht wie der Mensch, der ihn sieht."

"Da sind wir uns ganz einig. Allein dieser Stelle wegen habe ich dir die Erzählung vorgelegt. Ich kann schon verstehen, dass es dem Shilin kalt über den Rücken gerieselt ist."

"Ja, es ist eigentlich wunderbar, dass sich einer Gedanken über einen Himmel macht, an den er gar nicht richtig glaubt. Wahrscheinlich denkt er, wie müsste denn der Himmel sein, dass wir uns auf ihn freuen können."

"So haben auch zwei Mönche der Benediktinerabtei Heisterbach im Siebengebirge am Rhein sich Gedanken über den Himmel gemacht und diskutiert, wie er wohl sein könnte. Sie konnten aber nicht einig werden. Darum verabredeten sie miteinander folgendes: Wer von ihnen beiden zuerst sterben würde, solle dem anderen im Traum erscheinen. Dabei solle er nur ein einziges Wort flüstern. Und zwar das Wort "totaliter", wenn er den Himmel so vorgefunden, wie er selbst gedacht habe. Im anderen Falle solle er "aliter" sagen. Als der erste der beiden starb, hielt er das Versprechen ein und erschien seinem Mitbruder im Traum, sagte aber zwei Worte: totaliter aliter".

"Ja, das ist die richtige Antwort. Im Himmel sein heißt glücklich sein. Und das Glück ist für jeden Menschen etwas anderes. So wie die Schöpfung des Menschen als Gottes Ebenbild eine so große Menge verschiedener Menschen hervorbringt, so ist auch das Glück der Menschen verschieden."

"Nun hätte ich aber selbst noch eine Frage!"

"Na, du wirst ja nicht wissen wollen wie lang und breit die "Himmlischen Wohnungen" sind, oder wie die Verpflegung ist, oder, wie der Turbin bei Bulgakow, ob man im Himmel den Dienstrang behalten kann."

"Nein, nein. Aber meine Frau und ich sprechen manchmal miteinander über den Himmel. Ob wir Menschen, die vor uns gestorben sind, wiederfinden. Oder Menschen treffen können, auf die wir neugierig sind, weil sie Worte gesagt oder geschrieben haben, die uns beeindruckt haben. Oder, ob wir auch auf Menschen stoßen müssen, mit denen wir nicht so gerne zusammentreffen würden, weil entweder wir selbst sie, oder sie uns schlecht behandelt haben. Oder Menschen die wir vergessen haben, obwohl sie unsere Freunde waren. Na, ich brauche dir nicht alle Möglichkeiten unangenehmer Zusammentreffen im Himmel aufzuzählen. Werden Sünden oder Enttäuschungen, die wir uns anrechnen müssen, oder die wir anderen vorwerfen können, auf andere Art überwunden. Gott ist gerecht und barmherzig. Wir würden das auch gerne sein, aber das ist für uns Menschen sehr schwierig. Manchmal kommen solche Zusammentreffen schon in diesem Leben vor. Dann sind sie sehr unangenehm. Selten lässt sich das vorherige Verhältnis wieder herstellen. Das ist aber noch schwieriger, wenn es sich um Menschen handelt, deren Charakter uns erhebliche Schwierigkeiten gemacht, ja sogar zu unschönen Reaktionen gereizt haben. Vor diesem Hintergrund von Gedanken möchte ich dir eine Geschichte erzählen."

"Ich bin gespannt!"

"Meine Frau Anneliese hatte offenbar schon von Kindheit her zunehmend Schwierigkeiten mit Ihrer Mutter. Um diese richtig zu verstehen, musst du wissen, dass meine Schwiegermutter eine Frau war, die sich selbst als wichtigste Person ihrer Umgebung ansah. Etwa wie eine Diva auf einer Bühne, welche die Komparsen nur so lange bemerkt, wie der Auftritt es erfordert. Ich habe meine Frau gebeten, diese Geschichte selbst aufzuschreiben. Sie hatte große Bedenken, weil ihre Einleitung sehr lang sei, ohne die jedoch niemand den Schluss verstehen könne. Schließlich aber erklärte sie sich bereit. Aber sie wollte nicht selbst mit dir sprechen, darum lese ich dir vor, was sie geschrieben hat"

"Los, fang an!"

ANNELIESE UND IHRE MUTTER

"Da ist ein kleines Mädchen in Stralsund. Wie alle Kinder fragt es: Warum, warum ist dies so und warum.... Aber es gibt keine richtige Antwort. Es gibt auch keine Zärtlichkeiten, keinen Schoß, auf den es sich setzen kann. Vielleicht wäre der Rock kraus geworden? Der Vater war stumm geworden. Ein Gespräch unter den Eltern fand nicht mehr statt. Die Mutter herrschte und bestimmte den Ablauf des Lebens. Total. Hauptsache war Ordnung, Sauberkeit und Anstand. Alles musste behütet und bewahrt werden, jedenfalls nach außen. Niemand sollte ein Krümelchen Unrechtes bemerken. Jeder hätte jeden Schrank öffnen können. Er hätte nur geregelte Ordnung vorgefunden.
Sehnsucht? Abenteuer? Große Taten??
Die gab es nur in Büchern. Und die waren ein großer Teil des Denkens und Lebens dieses Mädchens. Ja, es scheint mir heute als seien sie das eigentliche Leben gewesen. Die Geschichten der großen und kleinen, lauten und stillen Helden.
Fragen? Die wurden meistens beantwortet mit: Das schickt sich nicht, das gehört sich so u.s.w. Warum? Das machen alle so u.s.w.
Selbstverständlich war ein gutes Schulzeugnis. Der viele Jahre ältere Bruder Gerhard hatte immer beste Zeugnisse. Er studierte schon, als die kleine Schwester auf die Höhere Schule kam. Er war immer nett und wurde heiß geliebt. Er hatte Bücher. In seinen Ferien zeigte er sie, abends nach 22 Uhr. Die Eltern erhoben sich nämlich pünktlich um ins Bett zu gehen. Der Vater wäre sicher gern noch geblieben. Vielleicht wäre er auch gerne mal allein mit anderen ausgegangen. Dann hätte er aber eine Scene riskiert. Seine Frau war da sehr erfinderisch: Von Vorwürfen in schrillen Tönen bis zum erschreckenden Herzanfall war alles möglich. Bis heute kann ich nicht begreifen, warum nur Männern Unterdrückung nachgesagt wird.
Die Liebe meines Vaters gehörte der Kunst. Er malte, machte Kupferstiche, las Kunstbücher und unterrichtete Schüler. Morgens im Unterricht, oft auch nachmittags im Werken. Als ich noch jünger war, spielte er manchmal Klavier. Das hörte bald auf und meine Mutter verkaufte das Klavier, weil es im Zimmer zu viel Platz wegnahm.
Aber ich will nun nicht weiter von meiner Kindheit sprechen. Mit 16 lernte ich einen jungen Mann kennen und lieben. Vier Jahre später heirateten wir. 56 Jahre bin ich nun mit ihm sehr, sehr glücklich. Zu unserer großen Freude kam Christian auf die Welt. Mitten im Krieg. Als er 10 Monate alt war, musste Oskar auf seinem U-Boot eine lange Reise antreten. Bei seiner Rückkehr war Christian anderthalb Jahre älter. Der Krieg war zu Ende. Bevor Stralsund in russische Hand fiel, flüchtete ich mit dem Kind zu Oskars Eltern nach Hildesheim. Die Stadt wurde bald von Bomben zerstört. Aber unser gemeinsames Leben begann wieder, denn Oskar kam zurück, wurde Maurerlehrling. Unsere Lage war dürftig, dennoch waren wir glücklich und zufrieden.
Unser zweiter Junge bekam den Namen Wolfgang, nach seinem von allen geliebten, gefallenen Onkel, Oskars Bruder.
Endlich gab es auch Post aus Stralsund. Die Russen hatten sich im Elternhaus einquartiert, das war sehr schlimm. Schließlich konnte meine Mutter uns in Hildesheim besuchen. Wir wollten ganz lieb zu ihr sein. Sie hatte ja böse Zeiten hinter sich. Wir holten sie mit den Jungs vom Bahnhof ab. Sie zeigt große Freude Christian wieder zu sehen. Wolfgang, jetzt zwei Jahre, war sehr schüchtern. Als er ihr nicht gleich die Hand gab, sagte sie nur, er sei ja der Enkel der anderen Oma. Sie hätte Christian und der solle mit mir nach Stralsund kommen. Sie hätte jetzt Platz. "Und Oskar und Wolfgang??? "
"Die können ja gut bei deiner Schwiegermutter hier in Hildesheim bleiben."
Sie kehrte natürlich ohne uns zu ihrem Mann zurück. Der starb bald. Nun besuchte sie uns jedes Jahr. Zwei bis drei Monate.
Wolfgang blieb das "böse Kind". Das erklärte sie ihm und uns bei jeder Gelegenheit. Da es ihr in der DDR allein sehr schlecht ging, versuchten wir Frieden zu halten, und hofften der Junge würde es nicht so merken. Ganz schlimm wurde es aber, als ein neues Baby kam. Das war wieder süß und goldig. Wie oft habe ich versucht, meiner Mutter im Guten und Bösen zu erklären, dass sie nicht so hässlich zu unserem Wolfgang sein dürfe. Ich habe ihre Vernunft angesprochen, ihren Takt, ihre Verantwortung. Alles Reden half nichts. Es war, als hätte sie einen Panzer um.
Ähnlich war es mit ihrer Schwiegertochter. Die taugte auch nichts. Sie hatte ja die erste Stelle bei ihrem Sohn Gerhard eingenommen. Da die Urteile meiner Mutter immer richtig waren, halfen auch alle anderen Beweise nichts. Alle freundlichen Zeichen prallten ab. Der Sohn war wunderbar, die Schwiegertochter war auf jeden Fall im Weg.
Vorurteile und Urteile umgaben meine Mutter ständig. Festgefügt. Sie scheute sich auch nicht, Oskar einer Untreue zu bezichtigen. Er war eben auch im Weg.
Warum habt ihr sie denn auch noch in eure Nähe geholt? Sollten wir die alte Frau mit 75 Jahren allein in Stralsund lassen? Ich durfte nur alle Jahre einmal mit einer Aufenthaltserlaubnis für kurze Zeit zu Besuch kommen. Was sollte werden, wenn sie krank würde? Wenn sie etwa ein Bein brechen würde? Sie hatte doch niemanden dort. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie eine Freundschaft geschlossen. Also stellten wir den Ausreiseantrag für sie.
Durch alte Freunde von Oskar konnten wir ein Haus in Köln kaufen, in dem für meine Mutter eine Wohnung frei war. Wohnungen waren sonst schwer zu haben.
Hauskauf? Waren Eure Geldsäcke denn so prall gefüllt?
O, wir waren reich! Sechs Söhne hatten wir inzwischen und eine Vierzimmerwohnung in Brühl. Wir waren sehr glücklich und gewillt es unserer Mutter schön zu machen. Geld? Wenn wir sparsam waren, reichte es gerade aus. Trotzdem verpflichteten wir uns, monatlich eine größere Summe zu zahlen. Irgendwie musste das gehen.
Gerhard fuhr nach Stralsund, um den Umzug zu machen. Bei den hinterhältigen Bestimmungen der DDR ein aufreibendes Unternehmen. Jedes Buch mit Titel, jeder Löffel, jede Kleinigkeit musste aufgelistet werden. Von Möbeln und Hausrat ganz zu schweigen. Natürlich war es für meine Mutter schwer, das eigene Haus zu verlassen. Umso mehr freuten wir uns, ihr eine hübsche Dreizimmerwohnung anbieten zu können. Sie zog nicht ein, wir wissen bis heute nicht, warum. Sie war einfach böse und beleidigt und blieb in unserem Kinderzimmer wohnen. Nach kurzer Zeit der Erholung versuchte sie das Regiment bei uns zu übernehmen! Wir fanden eine nette kleine Wohnung, sie unterschrieb den Mietvertrag, erklärte aber auf dem Heimweg, dass sie da bestimmt nicht einziehen würde. Also wohnte sie weiter in unserem Kinderzimmer. Erst als unsere Versetzung nach Kiel drohte, konnten wir sie bewegen, die Wohnung, deren Miete sie jeden Monat bezahlte, auch zu beziehen.
In Kiel besuchte sie uns wieder lange. Ebenso ihren Sohn in Aurich. Dass Schwiegertöchter nie etwas taugen, selbst, wenn sie einen mustergültigen Haushalt führen, blieb eine feststehende Tatsache für sie. Keine Freundlichkeit konnte ihren Panzer durchbrechen. Das gelang auch dem talentierten und liebenswerten Enkel Winfried nicht.
Nach vier Jahren wurde Oskar nach Bonn zurückgerufen. Wir fanden in Meckenheim ein Reihenhaus mit Platz für die sechs Jungen. So war Oma viel und lange bei uns. Das alte Spiel ging weiter. Nach wie vor teilte sie unsere Kinder in gute und schlechte ein. Wolfgang war der erklärte Bösewicht, Matthias taugte auch nicht viel, obwohl er ihr immer sein eigenes Zimmer überließ.
Meine Abneigung erhielt immer neue Nahrung. Fast hätte ich zum Alkohol gegriffen, weil ich die ewigen Spannungen in der Familie nicht aushalten konnte. Ein besonders großer Dorn in ihrem Auge war Oskar, der ja meine Mühe mit den sechs Kindern schuld war.
Dann wurde sie 93 Jahre alt und konnte nicht mehr allein wohnen. Ein gutes Seniorenheim wurde empört abgelehnt. Ich sollte zu ihr nach Köln ziehen. Oskar und die jüngeren Söhne würden sich schon zu helfen wissen. Wir suchten und fanden ein schönes Haus mit Einliegerwohnung.
Diesmal fragten wir nicht lange. Holten ihre Möbel in die wunderschöne Dachwohnung, hängten Gardinen und Bilder auf und fanden es urgemütlich. Gerhard war auch ganz begeistert. 95 Jahre war meine Mutter inzwischen und für das hohe Alter noch sehr rüstig. Felsenfest war sie davon überzeugt, dass ihre Tochter stets in Reichweite zu sein hätte. Manchmal erlaubte sie gütigst, dass ich einkaufen durfte. Aber nur wenn ich die Zeit der Rückkehr genau angab und einhielt. Aber nie erlaubte sie, dass Oskar und ich abends gemeinsam ausgingen. Wir blieben also zu Hause, weil wir den Hilferuf an die Nachbarschaft nicht riskieren wollten.
Zum Glück fanden wir schon Jahre vorher in Bad Neuenahr eine Pension, die ihr zusagte. Gerhard brachte sie hin und blieb dort ein paar Tage, bis sie sich eingewöhnt hatte. Dann blieb sie gerne mehrere Wochen und uns blieb eine Zeit für eigene Pläne und Reisen. Unsere Kinder hielten die Verbindung. So lebten wir also noch sieben Jahre miteinander und feierten ihren hundertsten Geburtstag. Alle bewunderten ihre Frische und Rüstigkeit. Wenn es ihr gerade passte, konnte sie auch sehr liebenswürdig sein. So wurde sie 1o2 Jahre alt."

"Oskar, ich nehme an, du weißt, dass ein Ordensmann zu diesem Bericht nur wenig sagen kann."

"Natürlich nicht. Aber nun endlich komme ich zu dem Grund, weshalb meine Frau diese lange Geschichte aufgeschrieben hat."

"Dann entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe."

"Macht nichts! Ich lese weiter:

Oskar erzählte mir, dass er mit dir über die Möglichkeit, im Himmel mit Menschen aus unserem Leben zusammen zu treffen. Ich dachte zunächst an Freunde oder an Menschen früherer Zeiten, die Eindruck auf uns gemacht haben. Aber dann wurde mir plötzlich klar, dass ich meiner Mutter gegenüber stehen könnte. Das war mir sehr unangenehm. Ich fühlte mich immer noch verletzt von ihr.
Als dann wieder Allerseelen nahte, kam ein Gedanke auf mich zu. Ich begriff, dass ich mich eigentlich innerlich mit meiner Mutter versöhnen müsste. Eigentlich! Diese Pflichtübung gelang mir nicht.
Eines Tages saß ich ganz still da. Ohne viel zu denken. Das geschieht mir öfter. Ich bin ein recht praktischer nüchterner Typ, mit mäßiger Fantasie begabt.
Da sah ich ganz deutlich meine Mutter. Sie stand vor Gott. Er sah sie freundlich an. Sie war eingepackt in einen dunklen, dicken Anzug. Der öffnete sich und fiel langsam von ihr ab. Da konnte ich sehen, wie aus der dick vermummten dunklen Gestalt ein heller Mensch hervorkam mit einem glücklichen Gesicht.
Es war alles ganz deutlich und schnell vorüber. Oskar kam und ich wollte ihm von dem überwältigenden Erlebnis erzählen. Ich konnte es nicht richtig. Ich konnte keine Beschreibung abgeben. Weder von Gott, noch von meiner Mutter. Aber ich war mir dieser Begegnung ganz sicher. Es war meine Mutter, die ein Leben lang in dieser schrecklich dicken Hülle gefangen war. Jetzt war die von ihr abgefallen, und der wahre erlöste Mensch kam zum Vorschein.
Das war es, was ich dir vorlesen wollte."

"Dann möchte ich mich zuerst bei deiner Frau bedanken, weil sie uns an einem Erlebnis teilnehmen lässt, das doch wohl zu ihrem inneren Leben gehört. Es ist ihr auch so wichtig, dass sie deiner Forderung, es aufzuschreiben, gefolgt ist. Aber so einfach mein Dank genügt dir sicher nicht. Ihr wollt wissen, was dieses Ereignis für deine Frau bedeuten könnte. Dazu möchte ich dich an deine eigenen Worte erinnern" "Ich wüsste nicht, dass ich dazu schon einmal etwas gesagt hätte."

"Aber ich weiß es. Als du das Märchen von der Frau mit den Steinen erzähltest. Da habe ich dich gefragt: Du willst sagen, Gott sammelt Menschen? Kleine, große, helle, dunkle, Heilige und Sünder? Und du hast geantwortet: Ja, er reinigt sie und fügt sie ein in das Gesamtkunstwerk seiner Schöpfung. Deine Frau und du, ihr sprecht doch so oft von Dingen, die jenseits von Raum und Zeit liegen. Wundert es dich, dass sie eure Gedanken an einem konkreten Ereignis auf die Probe stellt. Sie hat gewonnen. Sie weiß nun, dass sie sich nicht mehr fürchten muss vor ihrer Mutter, denn diese hat sich ohne Schutz, aber froh gezeigt."

"Ist das nun ein Erlebnis, das in den Bereich der Psychologie gehört, oder gehört es zur Philosophie oder Theologie?"

"Ich würde dir raten, die Wissenschaften aus dem Spiel zu lassen. Sie werden dir erst nach langer Zeit, wenn überhaupt, etwas Verständliches liefern. Macht euch doch erst einmal selbst klar, wie ihr das Ereignis erlebt habt. Welche Zeichen ihr gesehen habt. Deine Frau hat gesagt, Ihre Mutter habe ein glückliches Gesicht gehabt. Das ist doch ein gutes Zeichen. Ihre Mutter ist also glücklich. Das schwere Gewand sei von ihr abgefallen. Offenbar ohne dass ihr jemand geholfen hat. Das sieht doch fast so aus, wie wenn ein Bewaffneter seine Waffen fallen lässt, weil er seinen Angriff und seinen Widerstand aufgeben will. Es ist zugleich die Bitte: lasse auch du dein Misstrauen und deine Vorbehalte. Ihr solltet diese Zeichen achten.

Und noch etwas: Die Menschen erfahren manchmal Dinge und haben Erlebnisse, die mit den Methoden normalen logischen Denkens, mit Vorstellungen von Ursache und Wirkung nicht darstellbar und erklärbar sind. Dazu gehört die Liebe zu einem anderen Menschen, oder zu Landschaften, oder zur Musik und anderen Künsten. Die Ursachen solcher Wirklichkeiten sind nur selten zu ergründen. Dazu zählen auch Erlebnisse in der Welt des Glaubens, die überhaupt nicht oder nur sehr schlecht durch unsere Logik begriffen werden können. Das fängt an mit der Entstehung der Welt und endigt nicht mit der Suche nach deren Sinn."

Er schwieg. Ich wartete einige Minuten, dann sagte ich:

"Ansgar, ich meine, wir seien jetzt an einem Punkt unseres Gespräches angekommen, der eine Pause rechtfertigt. Alles, was bisher zwischen uns geredet wurde, habe ich aufgezeichnet. Meine Frau möchte es jetzt gedruckt haben, damit unsere Kinder und Freunde auch davon erfahren." "Wunderbar. Oskar und Ansgar werden im Gespräch bleiben."

"Das hoffe ich und dafür danke ich dir!"



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